KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Maya Schneebeli

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bisher nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden, sondern beruhen auf Einzelfallstudien (Poustka et al. 2008).

      Vermutlich existiert eine Interaktion zwischen genetischen und umweltbedingten Faktoren, bei der verschiedene Gene miteinander interagieren und Umweltfaktoren die Anfälligkeit erhöhen, eine autistische Störung zu entwickeln (Dawson 2008). Dawson (2008) fasst Befunde zusammen, die zeigen, dass autistische Verhaltensweisen nicht im Zusammenhang mit einer stabilen Hirnschädigung stehen, sondern durch dynamische postpartale Veränderungen im Gehirn und somit des Verhaltens charakterisiert sind. Gemäß einem kumulativen Risikomodell senkt eine Anhäufung von frühen Risikofaktoren, die allenfalls durch Umweltfaktoren bedingt sind, die Schwelle zur Entwicklung suboptimaler neuronaler Prozesse.

      1.5.1 Neuropsychologische und kognitive Aspekte der Autismus-Spektrum-Störungen

      Wissenschaftlich werden neben dem spezifischen kognitiven Profil drei wichtige neuropsychologische Theorien diskutiert, welche die verschiedenen Auffälligkeiten autistischer Menschen erklären sollen: die Theory of Mind, die Theorie der Zentralen Kohärenz beziehungsweise der globalen versus lokalen Informationsverarbeitung und die Theorie der exekutiven Funktionen. Remschmidt et al. (2006) gehen davon aus, dass »autistische Menschen über ein nicht hinreichend integriertes Gehirn verfügen, sodass die einzelnen psychischen Funktionen unzureichend aufeinander abgestimmt und weder entwicklungsangemessen noch situationsangemessen koordiniert sind« (S. 51). Keines der neuropsychologischen Konstrukte kann alle Auffälligkeiten erklären, die für das autistische Spektrum spezifisch sind. Außerdem weisen Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung spezifische Auffälligkeiten bei der Wahrnehmung auf. Das Wissen um die neuropsychologischen Besonderheiten kann Bezugspersonen helfen, die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweise autistischer Menschen besser zu verstehen und einzuordnen (Jenny 2011). Therapeuten sollten sich in ihrer Arbeit mit von ASS-Betroffenen jeweils in Erinnerung rufen, dass eine andere Wahrnehmung der Welt, auch zu einer anderen Interaktion mit der Welt und zu Dissonanzen mit der Wahrnehmung und Deutung durch Nicht-Betroffene führt, wie die konkreten Alltagsbeispiele in Jenny (2011) aufzeigen.

      Kognitives Profil

      Obgleich der Frühkindliche Autismus häufig mit geistiger Behinderung einhergeht (image Kap. 1.1.1), so variiert die Intelligenz beim Asperger-Syndrom definitionsgemäß zwischen durchschnittlich bis überdurchschnittlich, was auch als Voraussetzung für die guten therapeutischen Fortschritte erachtet wird (Krasny et al. 2003). Verschiedene Studien untersuchen das Leistungsprofil von Menschen mit einem Asperger-Syndrom. Dabei konnte zum Beispiel im Hamburg-Wechsler-Intelligenztest HAWIK-III (Tewes et al. 2000) beobachtet werden, dass Kinder mit Asperger-Syndrom häufig deutlich besser im Verbalteil als im Handlungsteil abschneiden, während sich bei Kindern mit High-Functioning-Autismus genau der umgekehrte Fall zeigt. (Ozonoff et al. 1991a; Lincoln et al. 1995; zit. nach Remschmidt et al. 2006). Die Studie von Ghaziuddin et al. (2004) zeigt aber, dass die meisten Probanden die für ihre Diagnosegruppe typischen Profile aufweisen, manche aber auch ein gemischtes Bild oder sogar das für die andere Diagnosegruppe typische Profil zeigen. Dickerson et al. (2008) haben das Intelligenzprofil von Kindern mit High-Functioning-Autismus oder Asperger-Syndrom für die revidierte Fassung des HAWIK, den HAWIK-IV (Petermann und Petermann 2007) genauer untersucht: Der Index »Wahrnehmungsgebundenes Logisches Denken«, der keine zeitgebundenen motorischen Aufgaben beinhaltet, stellt nun zusammen mit dem Index »Sprachverständnis« die relative Stärke mit statistisch betrachtet überdurchschnittlichen Leistungen dar, während die Indizes »Arbeitsgedächtnis« und »Verarbeitungsgeschwindigkeit« relative Schwächen darstellen und unterdurchschnittlich ausfallen. Früher schnitten die Kinder im Mosaiktest am besten ab, heute stehen neu die Subtests »Matrizen« und »Bildkonzepte« an oberster Stelle der nonverbalen Tests. Ähnlich wie die Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung waren die Kinder mit einer autistischen Störung am schlechtesten beim Subtest »Buchstaben-Zahlen-Folgen«, der eine hohe Leistung des Arbeitsgedächtnisses erfordert.

      Theory of Mind

      Die Theory of Mind ist die Fähigkeit, sich in die Vorstellungswelt anderer hineinzuversetzen. »Mit dem Begriff ›Theory-of-Mind‹ ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderen Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen« (Remschmidt et al. 2006, S. 46). Baron-Cohen et al. (1985) sprechen von alltagspsychologischen Konzepten, die es dem Menschen ermöglichen, sich selbst und dem Gegenüber mentale Zustände zuzuschreiben. Sie beziehen sich dabei auf Konzepte aus der Primatenforschung. Der kognitive Verarbeitungsstil, der für das Repräsentieren von mentalen Zuständen verantwortlich ist, wird Mentalisieren (mentalising) genannt (Frith und Happé 1994; Happé 1997). Bei der Diskussion um die Theory of Mind ist zu beachten, dass nicht alle sozialen und kommunikativen Fertigkeiten die Fähigkeit zu Mentalisieren voraussetzen (Frith und Happé 1994). Die Entwicklung der Emotionserkennung stellt einen Teil der Entwicklung der Theory of Mind dar und wird oft gemeinsam mit den Begriffen Mindreading oder Empathizing (Baron-Cohen et al. 2004) genannt.

      Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen einer anderen Person oder von deren Realität unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006). Dieses Wissen, das aus der Theory of Mind resultiert, entwickelt sich bei Kindern im Verlauf des vierten Lebensjahres. In diesem Alter verändern sie sich von naiven Idealisten, die ihre Überzeugungen für reale Tatbestände halten, zu jungen Menschen, die wissen, dass ihre Ansichten möglicherweise nicht der Realität entsprechen (Baron-Cohen 2001; Remschmidt et al. 2006). Roeyers und Warreyn (2010) geben einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Theory of Mind und deren Vorläufer Imitation, geteilte Aufmerksamkeit und symbolisches Spiel.

      Zahlreiche Studien (z. B. Baron-Cohen et al. 1985; Baron-Cohen 2001) konnten zeigen, dass Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung Defizite in der Entwicklung der Theory of Mind aufweisen (Ozonoff und Miller 1995; Happé 1995), was mit dem Begriff Mind-Blindness (Frith et al. 1994; Happé 1997) umschrieben wird. Während diese Schwäche beim Frühkindlichen Autismus sehr deutlich ist und bereits einfache Stufen der Entwicklung der Theory of Mind betrifft, sind die Beeinträchtigungen beim Asperger-Syndrom und High-Functioning-Autismus subtiler (Baron-Cohen 2001; Beaumont und Sofronoff 2008), stellen eher eine Entwicklungsverzögerung dar und betreffen dann erst die schwierigste Stufe, wie zum Beispiel die Interpretation von nonverbaler Kommunikation oder das Erkennen von Fauxpas-Situationen (z. B. Baron-Cohen 2001; Baron-Cohen et al. 2001; Beaumont und Sofronoff 2008). Viele der Schwierigkeit der Theory of Mind lassen sich bei Menschen mit Asperger-Syndrom kaum in Laborsituationen aufspüren, da sie mit ihrer guten Intelligenz und den verbalen Fähigkeiten vieles kompensieren können und erst in der realen sozialen Situation oder bei anspruchsvollen sozialen Tests auffallen, die Mentalisieren in einem sozialen Kontext erfordern (Baron-Cohen et al. 2001; Klin et al. 2003). Einige Autoren haben Wege gefunden, um verschiedene Aspekte von sozialer Kognition im Rahmen eines Tests zu beobachten, der auch die Schwächen gut begabter Menschen mit Asperger-Syndrom erfasst: Hierzu zählen Klin (2000) mit dem Social Attribution Task (SAT), Kaland (Kaland et al. 2002; Kaland et al. 2008) mit ihren Strange Stories und Stories from Everyday Life, aber auch Heavey et al. (2000) mit dem Awkward Moments Test und Dziobek et al. (2006) mit dem Movie for the Assessment of Social Cognition (MASC) – beide arbeiten mit Filmsequenzen, – sowie Golan et al. (2006a) mit der Cambridge Mindreading Face-Voice Battery (CAM), Baron-Cohen et al. (2001) mit dem Reading the Mind in the Eyes Test und Golan et al. (2006b) mit dem Reading the Mind in the Voice Test – alle drei stützen sich vor allem auf das Erfassen emotionaler Informationen. Zu bedenken ist, dass nicht alle sozialen Kompetenzen Mentalisieren benötigen (Frith et al. 1994; Happé 1997), was Untersuchungen mit sich bewegenden Objekten, denen soziale Intentionen zugeschrieben werden, schön aufzeigen (Castelli et al. 2002): Während sich im PET-Scan keine Unterschiede zwischen Menschen mit Asperger-Syndrom und Kontrollpersonen zeigen, wenn diese auf einem Bildschirm


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