KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Maya Schneebeli
zuungunsten der Jungen. Durchschnittlich kann von einem Verhältnis von 4 : 1 gesprochen werden (Fombonne 2005). Dieses Ungleichgewicht zeigt sich bei den autistischen Störungen mit einem höheren Funktionsniveau, wie zum Beispiel beim Asperger-Syndrom, mit einer Durchschnittschätzung von etwa 6–8 : 1 noch deutlicher (Fombonne 2005). In der Gruppe der Kinder mit einer Intelligenzminderung steigt die Rate der betroffenen Mädchen markant an, es findet sich ein Verhältnis von 2 : 1 (Fombonne 2005; Skuse 2010). Zudem sind die Mädchen im Allgemeinen schwerer von den Störungen betroffen (Poustka et al. 2008). Skuse (2010) diskutiert als mögliche Erklärungen für den Geschlechtsunterschied bei Autismus genetische, endokrinologische und auf den diagnostischen Kriterien beruhende Ansätze.
Die Autismus-Spektrum-Störungen remittieren im Alter nicht, sondern es finden sich im Verlauf der Kindheit oft eine Zuspitzung der mangelnden sozialen und später beruflichen Integration und bis in das Erwachsenenalter hinein ein Rückzug auf die Sonderinteressen. Wie die Studie von Gillberg et al. (2010) zeigt, bleiben die Diagnosen bis in das Erwachsenenalter recht stabil. Im Alter von vier bis fünf Jahren findet sich häufig eine starke Ausprägung der Symptomatik, weswegen diagnostische Instrumente wie zum Beispiel das Autismus-Interview (ADI-R; Bölte et al. 2006) gezielt nach dieser Zeitspanne fragen. Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung auf hohem Funktionsniveau zeigen oft ein klares soziales Interesse, welches aber aufgrund der mangelnden sozialen, kommunikativen und emotionalen Kompetenzen nicht zur altersgemäßen sozialen Integration in die Gleichaltrigengruppe und zum erfolgreichen Aufbau von Freundschaften führt. Im Jugendalter verstärkt sich dann der soziale Anpassungsdruck, wodurch oft auch ein hoher Leidensdruck entsteht, der zu einer sekundären depressiven, ängstlichen oder vermehrt zwanghaften Symptomatik bis zu Suizidalität führen kann (Remschmidt et al. 2006; Gillberg et al. 2010). Ghaziuddin et al. (2002) sprechen sogar von einer Prävalenz von 30–40% für suizidale Handlungen. Die Symptomatik verstärkt sich mit fortschreitendem Alter durch das immer komplexere soziale Umfeld und die Erkenntnis der eigenen Andersartigkeit. Während sich nach der Schulzeit mehr soziale Nischen für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung ergeben und ihnen die Kommunikation mit Erwachsenen manchmal einfacher fällt, führen die Defizite der sozialen Kompetenzen jedoch zu geringeren schulischen und beruflichen Qualifikationen, und nur ein geringer Teil der Erwachsenen geht einem selbstständigen Leben und einer Arbeit auf dem freien Markt nach (Howlin und Goode 1998, zit. nach Krasny et al. 2003). Auch Engström et al. (2003) fanden in ihrer Untersuchung ein beträchtlich tieferes allgemeines psychosoziales Funktionsniveau im Erwachsenenalter gemessen an der Beschäftigungsrate, der Anzahl von Partnerschaften und dem Ausmaß der erforderlichen Unterstützungsleistungen. Demgegenüber sind die Befunde aus der Studie von Gillberg et al. (2010) weniger ungünstig: In der von den Autoren untersuchten Gruppe führte lediglich ein Viertel ein deutlich eingeschränktes Leben ohne Berufstätigkeit und Freunde. In ihrem Beitrag geben Gillberg et al. (2010) einen zusammenfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Verlaufsuntersuchungen bei Menschen mit dem Asperger-Syndrom.
1.5 Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störungen
Für das Asperger-Syndrom ist die Erkenntnislage zu den Ursachen deutlich schlechter als für den Frühkindlichen Autismus, da es erst spät in den 1980er-Jahren in das Forschungsinteresse gerückt ist. Gemäß den aktuellen Forschungsbefunden werden aber dieselben Faktoren für das ganze autistische Spektrum diskutiert.
Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen weisen eine mehrdimensionale Ätiologie mit einem Schwerpunkt bei biologischen Faktoren (Remschmidt et al. 2006; Poustka et al. 2008) auf, wofür der frühe Störungsbeginn, die hohe Verhaltenskonkordanz bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen, die hohe Komorbidität mit einer Intelligenzminderung, die hohe Rate neurologischer Auffälligkeiten und neuropsychologischer Funktionsstörungen (
Die wenigen Familien- und Zwillingsstudien zum Asperger-Syndrom verweisen deutlich auf eine familiäre Häufung des Syndroms sowie einzelner autistischer Verhaltensweisen (broader autism phenotype), wie die Übersichten von Skuse (2010) und Freitag (2010) zeigen. Die These des Broader Autism Phenotype besagt, dass sich autistische Verhaltensweisen und die dahinter liegenden Prozesse der Informationsverarbeitung sowie genetische Befunde auch in einem Teil der nicht klinisch auffälligen Normalbevölkerung auf einem Kontinuum finden. Da diese auch durchaus Vorteile mit sich bringen, setzen sie sich weiterhin genetisch durch. Die Forschung konzentriert sich aktuell auf molekulargenetische Kopplungs- und Assoziationsstudien (Freitag 2007, 2010).
Das Asperger-Syndrom ist eine zerebrale Störung. Die genetischen Veränderungen führen zu einem veränderten Aufbau und veränderten Funktionen, wofür sowohl strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten in bestimmten Hirnregionen als auch biochemische Anomalien sprechen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen der Temporallappen und das limbische System, mit einem Schwerpunkt auf der Funktion der Amygdala. Auch bei den Funktionen des Frontallappens wurden Auffälligkeiten entdeckt, wie sie für Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen typisch sind. Es gibt zudem Hinweise auf Besonderheiten der Sinneswahrnehmung und damit einhergehend einer gestörten Informationsverarbeitung. Seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise, dass der Mensch wie andere Primaten über ein sogenanntes Spiegelneuronensystem verfügt, das für das Verständnis von Handlungen wie auch für Imitation und Empathie bedeutsam sein könnte. Greimel et al. (2009) geben eine Übersicht über die aktuellen Befunde.
Baron-Cohen (2006) verfolgt eine These, die genetische und neuropsychologische sowie -anatomische Ansätze verbindet: Autistische Menschen interpretieren Wahrgenommenes weniger mit dem Empathising System, welches mit der Amygdala, dem orbitalen und medialen frontalen Kortex sowie dem superioren temporalen Sulcus zusammenhängt. Sie aktivieren eher das Systemising System, welches nach wiederkehrenden Mustern und Regeln im wahrgenommenen Geschehen sucht, um eine Aussage über das Kommende zu machen. Baron-Cohen stellt die Hypothese der Hyper-Systematisierung (hyper-systemizing theory) auf, wonach autistische Menschen Informationen auf einem zu hohen Systematisierungsniveau verarbeiten, und sich somit verschiedene Symptome (z. B. Rigidität, Spezialinteressen) erklären lassen. Seine Studien zeigen, dass sich diese hohe Ausprägung des Systematisierungsniveaus auch in der Verwandtschaft von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung findet, was wiederum auf die These des Weiteren autistischen Phänotyps (broader autism phenotype) verweist. Kinder mit Asperger-Syndrom haben öfter Mütter und Väter, welche Systematisierer sind. Somit schließt Baron-Cohen auf eine Vererbung des hohen Systematisierungsgrades, welcher unter anderem zur autistischen Symptomatik führen kann.
In Bezug auf die These der schwachen zentralen Kohärenz (weak coherence) beziehungsweise der detailorientieren Verarbeitung (local processing) stellen Happé und Frith (2006) ähnliche Überlegungen an (
In geringerem Umfang spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle (Poustka et al. 2008; Dawson 2008): Der Einfluss von Toxinen (z. B. Umweltgifte, Pestizide) und Viren (z. B. Masern, Röteln, Mumps), intrauterine Umweltfaktoren (z. B. Grippeerkrankungen) und eine erhöhte Hormonkonzentration im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsbehandlungen, aber auch ein Zusammenhang mit Autoimmunerkrankungen stehen zur Debatte (Dawson 2008). Die immer wieder diskutierten Hypothesen eines Zusammenhangs