KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Maya Schneebeli
attribuieren sie die Ursache jedoch lange dem Gegenüber und nicht dem eigenen Verhalten (»Die anderen sind ganz anders.«). Bis hinein in das Jugendalter haben sie oft nur ein begrenztes Verständnis für den eigenen Anteil an den sozialen Schwierigkeiten, da auch die Introspektionsfähigkeit aufgrund der mangelnden Theory of Mind (
Das klinische Erscheinungsbild der Mädchen mit Asperger-Syndrom unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von demjenigen der Jungen, was die Diagnose oft erschwert. Mädchen gehen mit ihren Schwierigkeiten und ihrem erlebten Anderssein anders um. Sie ahmen andere nach oder kopieren sie sogar bis in die Körpersprache hinein, passen sich so stark an, dass sie kaum mehr eine eigene Meinung zu haben scheinen, und fügen sich fast bis zur Unsichtbarkeit in eine Gruppe ein. Oft suchen sie sich eine gute Freundin, welche sie durch ihr Vorbild und ihre Solidarität an sozialen Stolpersteinen vorbeiführt. Somit fallen sie in sozialen Situationen weniger auf und werden seltener als störende Problemkinder wahrgenommen. Mädchen mit Autismus zeigen mehr So-tun-als-ob- und Phantasiespiel als Jungen und unterscheiden sich darin kaum von nicht betroffenen Mädchen (Knickmeyer et al. 2008). Ihre Spezialinteressen sind oft sozialerer und weniger technischer Art: In Phantasiespielen mit Tieren und Puppen spielen sie (erlebte) soziale Situationen exzessiv nach, um sie zu verstehen und einzuüben. Anhand von Geschichten und Vorabend-Fernsehserien versuchen sie intuitiv, ihr soziales Verständnis zu trainieren.
Menschen mit Asperger-Syndrom weisen viele Stärken auf, welche sich aber oft nicht in denselben Situationen wie ihre Schwächen zeigen. »Menschen mit Asperger-Syndrom sind, aufgrund der beschriebenen Entwicklung, aber auch sehr loyal anderen gegenüber, sie lügen oder täuschen andere Menschen nicht. Sie sind zuverlässig und halten sich auch verlässlich an einmal akzeptierte Regeln. Sie sind unvoreingenommen anderen Menschen gegenüber und betrachten andere Menschen ohne Vorurteile. Sie machen sich nicht abhängig von Moden oder Meinungen anderer und sagen offen und ohne Scheu, was sie denken. Dabei sprechen sie in einer eindeutigen, unzweideutigen Sprache und verfügen in vielen Bereichen über einen großen Wortschatz. Sie haben Spaß an ungewöhnlichen Wortbildungen und Wortspielen. In speziellen Wissensbereichen verfügen sie über ein bewundernswertes Wissen, dass sie gerne und ausführlich preisgeben« (Remschmidt et al. 2006, S. 76). Oft sind es dieselben Verhaltensmerkmale, welche je nach Betrachtungsweise und Situation wie die Kehrseite einer Münze mal eine Stärke und mal eine Schwäche darstellen. So kann der sorgfältige Blick für Details zum Verlust des Gesamtüberblicks führen, aber auch zum Erkennen von wesentlichen Unterschieden, oder die sachliche Kommunikation verhindert zwar das Heraushören kommunikativer Zwischentöne, führt aber zu einem transparenten Austausch, bei dem alle Beteiligten wissen, woran sie sind.
Eine Übersicht zu den gängigen diagnostischen Instrumenten, eingeteilt nach kategorialen Skalen (Screening-Fragebogen, Beobachtungsskalen, Interviews), dimensionalen Fragebogen, Selbstbeurteilungsbogen sowie Skalen zur Verlaufs- und Förderdiagnostik, aber auch spezifischen Skalen zum Asperger-Syndrom, findet sich in Bölte (2010).
1.3 Komorbidität
In der Metaanalyse von Fombonne (2005) weisen 70% aller Kinder im gesamten autistischen Spektrum eine mäßige oder schwere Intelligenzminderung auf. Chakrabarti und Fombonne (2001) finden in ihrer Einzelstudie für das gesamte Spektrum eine deutlich niedrigere Komorbidität von 25% mit einer Intelligenzminderung. Definitionsgemäß kommt es beim Asperger-Syndrom zu keiner Beeinträchtigung der Intelligenz. 20% der Kinder mit Frühkindlichem Autismus haben eine schwere, 50% eine leichte geistige Behinderung, während 30% keine intellektuelle Beeinträchtigung zeigen (Fombonne 2005). Baird et al. (2006) fanden ähnliche Zahlen. Diese letzte Gruppe von normal intelligenten Kindern mit Frühkindlichem Autismus wäre dann dem High-Functioning-Autismus zuzuordnen.
Menschen mit Autismus weisen manchmal auch andere psychische Störungen auf. Heutzutage wird deshalb diskutiert, ob zusätzliche Symptome bei Autismus eine Zweit- oder Drittdiagnose rechtfertigen (Poustka et al. 2008). Die Übersichten von Tsai (1996) und Skuse (2010) verweisen auf ein erhöhtes Risiko für Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, Tic-Störungen, affektive Störungen (Angststörungen, Phobien, depressive Störungen), Zwangsstörungen und Autoaggression, wobei die Prozentzahlen je nach Studie schwanken. Remschmidt et al. (2006) erwähnen zudem Essstörungen, Mutismus, Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen. Rund zwei Drittel (65%) aller Menschen mit Asperger-Syndrom weisen mindestens eine psychische Komorbidität auf (Ghaziuddin et al. 1998, zit. nach Remschmidt et al. 2006), wobei im Kindesalter vor allem Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität (Goldstein und Schwebach 2004). und im Jugendalter eher depressive Symptome auftreten.
Bei rund 10% der Kinder (Chakrabarti und Fombonne 2001) finden sich auch verschiedene organische Syndrome wie zum Beispiel Epilepsie, das Fragile X-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom oder die tuberöse Sklerose, welche mit Verhaltensweisen auftreten, die phänomenologisch denjenigen der autistischen Störungen ähnlich sind (Poustka et al. 2008). Etwa 30% der Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (Tsai 1996) entwickeln unabhängig von ihrer Intelligenz im Verlauf ihres Lebens eine Epilepsie, deutlich häufiger tritt diese bei Kindern mit Frühkindlichem Autismus und einer schweren intellektuellen Retardierung auf (Fombonne 2005).
Eine Übersicht über die Differentialdiagnostik zu weiteren tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sowie zu anderen psychiatrischen und somatischen Störungen bietet Bölte (2010).
1.4 Epidemiologie und Verlauf der Autismus-Spektrum-Störungen
Epidemiologische Studien zu den Autismus-Spektrum-Störungen werden schon seit über 40 Jahren durchgeführt. Vor allem in den letzten Jahren konnte eine starke Zunahme der Aktivität in diesem Forschungsbereich beobachtet werden (Fombonne 2005). Die Ergebnisse dieser Studien sind nur schwer miteinander zu vergleichen, da sich die diagnostischen Kriterien und die Nomenklatur laufend verändert haben. Die Studie von Chakrabarti et al. (2001), welche als eine der besten epidemiologischen Arbeiten gilt (Rutter 2005), und die Metaanalyse von Fombonne (2005), die insgesamt 34 epidemiologische Studien zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen bei Kindern analysiert, weisen folgende Anzahl Betroffener pro 10 000 Menschen aus – die etwas niedrigeren Werte stammen aus der Studie von Chakrabarti et al. (2001):
• Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (insgesamt): 60–62.6 pro 10 000
• Frühkindlicher Autismus: 13–16.8 pro 10 000
• Asperger-Syndrom: 3–8.4 pro 10 000
Baird et al. (2006) fanden in ihrer Kohorte in England noch höhere Prävalenzzahlen.
Schaut man sich die Resultate der epidemiologischen Studien aus den letzten zehn Jahren an, kann eine Zunahme der Autismus-Spektrum-Störungen beobachtet werden (Fombonne 2005). Ob es sich dabei um eine tatsächliche Zunahme handelt oder ob sich diese Veränderung auf die Entwicklung immer genauerer diagnostischer Kriterien zurückführen lässt, ist umstritten (Remschmidt et al. 2006; Poustka et al. 2008). Es ist aber davon auszugehen, dass diese Zunahme die Folge eines höheren Informationsniveaus sowohl unter Fachleuten als auch Eltern ist sowie neuerer und effektiverer Diagnoseinstrumente wie auch veränderter Diagnosekriterien (Fombonne 2005). So zeigt sich beispielsweise in der Studie von Wazana et al. (2007) ein 1,5-facher Anstieg der Prävalenzraten für eine Autismus-Diagnose bei einem Wechsel von den Kriterien des DSM-III zu den Kriterien des DSM-IV. Zudem sind die meisten älteren Studien methodologisch nicht mit den aktuellen zu vergleichen (Poustka et al. 2008). Bölte et al. (2007) machen auch auf die Probleme der Sensitivität und Spezifität der verwendeten diagnostischen Instrumente aufmerksam. Nach Fombonnes Metaanalyse (2005) liegen weder ethnische Effekte noch Zusammenhänge mit bestimmten sozioökonomischen Gesellschaftsschichten vor.
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