Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger
wir uns Västerås und den Rest des Landes vor.«
Er sortierte die Ausdrucke in zwei Haufen.
»Kalender Media«, sagte Egon Jönsson, ohne seinen Satz zu beenden.
Er blätterte in seinem Notizbuch auf der Suche nach der Handynummer von Evert Bergman. Der Name und eine Notiz über den »Sekr. in der Verwaltung des Bürgerhauses« standen auf einem anderen Blatt zusammen mit einer 070-Nummer.
Er drückte die Nummer. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich jemand.
»Jönsson von der Kriminalpolizei. Können Sie sich erinnern, Geschäfte mit einem Unternehmen namens Kalender Media gemacht zu haben? Es gehört einer Person mit Namen Andreas Mårtensson.«
Eine Weile blieb es still.
»Ich denke nach«, sagte Evert Bergman. »Keine Geschäfte; aber ich erinnere mich, dass er uns einige Male Angebote für Kataloge und Werbematerial gemacht hat. Für Ausstellungen über Rassismus zum Beispiel. Aber die Aufträge sind an ein anderes Unternehmen gegangen, das unserer Meinung nach bessere Konditionen hatte. Ich könnte der Sache nachgehen, wenn Sie möchten. Ist es wichtig?«
»Nur eine Routinekontrolle. Aber ich hätte gern eine definitive Antwort. Wie ist es mit einer Person namens Ismail Mehmedović? Er besitzt ein Lokal mit Namen ›Scheune‹, ein Pub und ein Restaurant.«
»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Evert Bergman. »Aber die ›Scheune‹ kenne ich natürlich. Mit dem Pub oder seinem Besitzer hatten wir allerdings keinen Kontakt.«
»Dann vielen Dank«, sagte Egon Jönsson und legte auf.
Er wandte sich an Enquist und gab wieder, was Evert Bergman gesagt hatte.
»Diese Kerle müssen wir uns mal anschauen. Wir fangen mit Andreas Mårtensson an. Gleich morgen früh.« An diesem Tag waren nur wenige Personen in das Polizeirevier von Surahammar gekommen. Elina Wiik schaute auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor fünf.
Bald Zeit, nach Hause zu fahren, dachte sie.
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und dachte darüber nach, was Peter Adolfsson gesagt hatte. Die Abschrift der Zeugenaussage hatte sie nicht gelesen, nur Egon Jönssons Zusammenfassung auf der 8-Uhr-Konferenz gehört. Jönsson schien restlos überzeugt zu sein.
Sie war eher unsicher. Zwar wusste sie, dass das erste spontane Verhör der Wahrheit meistens am nächsten kam, aber mehrere Stunden nach dem Ereignis war es anders. Der Zeuge hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Worte waren gut zurechtgelegt.
Alle Menschen verraten mehr, als sie aussprechen, überlegte sie. Manchmal kann man das, was hinter der Aussage steht, von der Körpersprache ablesen, an der Art, wie sie Pausen machen, am Zögern oder an Gefühlsreaktionen. Häufig reicht das erste Verhör nicht.
Man muss genau hinhören. Auf eine »zweite« Stimme, wie schwach sie auch sein mag. Die Wahrheit ist das reinste aller Lieder.
Peter Adolfsson war zweifellos ein Musterzeuge. Er erinnerte sich an viele wichtige Details und gab sie gewissenhaft wieder. Aber warum ist er so spät gekommen? Hat er gezögert, überhaupt zu erzählen, was er gesehen hatte?
Sie hatte keine Antworten. Trotzdem grämte es sie, dass sie bei der Lösung des Falles nicht dabei sein durfte. Aber jetzt war Wochenende und sie hatte frei.
Sie hob den Hörer ab und tippte eine 021-Nummer.
»Aros Rechtsanwaltbüro, Susanne Norman«, meldete sich jemand am anderen Ende.
»Hallo, Susanne, hier ist Elina. Ich bin auch noch im Dienst. Stör ich dich?«
»Nein, ich packe gerade ein und will gehen. Emilie ist bei Johan.«
»Oh, wie geht’s dem Herzchen?«
»Redest du von Johan?« Susanne Norman lachte. »Emilie geht es prima. Sie hast du doch wohl gemeint? Gestern hat sie ihre ersten Schritte gemacht. Ich brauchte sie nur ein bisschen festzuhalten.«
»Du hast doch nicht vergessen, dass wir morgen verabredet sind?«
»Ich hab’s nicht vergessen. Um sieben bin ich bei dir. Ich freu mich schon. Das letzte Mal scheint Ewigkeiten her zu sein.«
Elina Wiik legte auf, hob aber gleich wieder ab und rief Egon Jönsson an. Sie berichtete, dass sie nichts Bemerkenswertes erfahren hatte an diesem Tag. Egon Jönsson teilte ihr mit, dass eventuelle Tipps von nun an im Revier in Västerås oder Hallstahammar entgegengenommen wurden.
»Vielen Dank für deinen Arbeitseinsatz«, sagte er und legte auf.
Aha, dachte Elina, das war’s also für mich.
7
Samstagmorgen um neun stand Elina Wiik nackt in einem ziemlich kalten Raum. Sie öffnete ihre Tasche und holte Slip und Sport-BH heraus. Dann zog sie eine weiße locker sitzende Hose aus kräftigem Baumwollstoff und eine dazu passende Jacke an. Um die Hüfte band sie einen schwarzen Gürtel.
Die Kleidung war verschlissen, aber frisch gewaschen und gebügelt. Auf der Schwelle zwischen Umkleideraum und Gymnastiksaal blieb sie stehen und verbeugte sich leicht.
»Osu«, sagte sie.
»Osu«, antworteten zwei Männer, die ihre Waden an einer Sprossenwand stretchten. Der eine trug einen braunen Gürtel und der andere einen grünen.
Elina kniete sich hin, schloss eine Weile die Augen und beugte sich dann vor, die Handflächen auf dem Fußboden. Sie hoffte, dass Sadegh, der mit dem braunen Gürtel, gegen sie antreten würde. Das würde ein zwei Stunden währendes steinhartes Training bedeuten. Dabei könnte sie ihre Frustration darüber vergessen, dass sie nicht mehr an der Brandermittlung beteiligt war. Sadegh passte gut zu ihr, er war ungefähr so groß wie sie und hatte einen disziplinierten Schlag.
Für Elina ging es beim Training jetzt in erster Linie um Willenskraft. Es war nicht leicht gewesen, die Intensität durchzuhalten, seitdem sie ihre Wettkampfkarriere beendet hatte. Der Höhepunkt vor einigen Jahren war Bronze bei den nordischen Meisterschaften gewesen. Aber jetzt wollte sich der Körper nicht mehr jeder Herausforderung unterwerfen. Muskeln und Sehnen strafften sich und leisteten Widerstand.
Nicht nur das Alter hatte sie veranlasst, mit den Wettkämpfen aufzuhören. Als sie anfing, in Fällen von Frauenmisshandlung zu ermitteln, musste sie rasch erkennen, dass sie nicht mit blauen Flecken im Gesicht zu den Verhören erscheinen konnte. Denn obwohl der Gegner mit seinen Schlägen nicht das Gesicht treffen durfte, war Karate ein Sport, der häufig Schmerzen bereitete. Nicht alle hatten ihre Schlaglänge so unter Kontrolle wie Sadegh.
Nach dem Aufwärmen wendeten sie über eine Stunde die Grundtechniken aneinander an. Dann eine halbe Stunde kumitte. Kampf Mann gegen Mann. Sie hörten erst auf, als sie beide total durchgeschwitzt waren und aus reiner Müdigkeit unkonzentriert wurden.
»Osu, danke«, sagte Elina und verbeugte sich.
»Osu, danke«, antwortete Sadegh.
Elina wusste, dass er im Iran ein Ingenieurstudium abgeschlossen hatte. Er konnte Englisch, Deutsch, Persisch und lernte jetzt Schwedisch für Einwanderer. Sie war überzeugt, dass er gut zurechtkommen würde, wenn er nur erst die Sprache beherrschte.
Ich könnte etwas von seiner Zielstrebigkeit brauchen, dachte sie, im Job und im Privatleben.
Nachdem sie ihre Sporttasche zu Hause abgestellt hatte, spazierte sie zum Zentrum. Die Stora Gatan war voller Menschen. Zwischen den Häusern hingen Wimpel an Leinen. Die Sonne schien und es war erst das zweite Wochenende nach der Gehaltsauszahlung, viele hatten also noch genügend Geld. Elina wollte sich für den Abend ein neues Kleid kaufen. Sie freute sich darauf, Susanne allein zu treffen, ohne Ehemann und Kind.
Eigentlich waren sie ein ungleiches Freundinnenpaar. Elina hatte Susanne Ekblom, wie sie damals hieß, bei einem Prozess kennen gelernt. Der Angeklagte war der Ehemann jener schwer misshandelten Frau gewesen, die den Beginn von Elinas Karriere als Kriminalermittlerin eingeleitet