Hitlers Double. Tatsachenroman. Walter Laufenberg
die Pubtour, die ich jetzt starte, verdanke ich dem Ausflug nach Calgary. Der Eiweißstratege, der unbedingt einen Sohn haben wollte, der hat mich erst darauf gebracht. An der Theke muß ich stehen. Ich muß den Leuten zuhören, die einfach kein Bier runterkriegen, ohne ihr ganzes Leben auszuplaudern. Die alten Nazis, die brauchen doch auch ihr Bier. Jeden Abend ein anderes Lokal, das ist jetzt mein Arbeitsprogramm. Und selbst nichts sagen, nur zuhören, zuhören. Und hin und wieder mit einer vorsichtigen Frage das Gequatsche dahin lenken, wo es aufschlußreich werden könnte.
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In der Redaktionssitzung das alte Spiel. Die eingegangenen Informationen, vom Fernschreiber und aus der Bevölkerung Tag für Tag als reiche Ernte eingebracht, werden Zettel für Zettel kurz bekanntgemacht. Dann behauptet einer spontan sein besonderes Interesse an dem Thema oder es wird einfach vom Abteilungsleiter einem Team zugewiesen. Wenn es nicht schon vorher abgelehnt wird. In den Papierkorb. Weil zu albern, zu unbedeutend - was bei einer aktuellen Regionalsendung schon was heißen will - oder viel zu aufwendig oder aber zu brisant. Schließlich müssen die Interessen der heimischen Wirtschaft und der Lokalpolitiker berücksichtigt werden. Kaum hat einer der Reporter seinen Auftrag, verläßt er die Runde, die auf diese Weise immer kleiner wird. Das heißt, immer weniger Köpfe entscheiden über die so wichtige Frage: Bringen oder nicht bringen? Was aber nicht als Nachteil empfunden wird, weil nach dem Selbstverständnis der Reporterrunde jeder Kopf so gut ist wie der andere.
„Ich habe da von einem tollen Fall gehört, gestern in Calgary“, sagt der für Sportberichte zuständige Reporter. Der war also auch bei dem Spiel der Calgary Stampeders gegen die Kalifornier. Wenn der mich nur nicht gesehen hat. Aber bei den Menschenmassen, unwahrscheinlich. Und wenn er das jetzt nur erwähnt, um mich zu warnen?
„Eine wahnsinnige Familientragödie“, fährt er fort. „Da ist eine Frau in ihrer Wohnung dabei, ihren Säugling zu wickeln. Wie immer auf dem Küchentisch. In der Küche steht auch der Kinderwagen mit dem ein Jahr älteren Kind. Das fängt an zu krampfen und kriegt plötzlich keine Luft mehr, röchelt schrecklich los. Die Frau springt zum Kinderwagen hinüber und nimmt das Kind hoch, reißt ihm die Sachen ab, damit es besser Luft kriegt. In dem Moment wälzt sich der Säugling auf dem Tisch herum und fällt hinter ihrem Rücken vom Tisch. Sie wirft das röchelnde Kind in den Wagen zurück und hebt den Säugling auf und stellt fest: tot. Da wendet sie sich wieder zu dem Kind im Kinderwagen um und stellt fest: erstickt. Sie rennt nach nebenan zu einer Nachbarin und ruft um Hilfe. Die ruft sofort den ärztlichen Notdienst an und dann auch den Ehemann der Frau. Der verläßt sofort seine Maschine in der Fabrik, rennt auf den Parkplatz, springt in seinen Wagen und rast nachhause. An einer Kreuzung fährt er bei rot rüber, kracht in einen Schwerlaster und ist tot. Als die Frau diese Nachricht kriegt, rastet sie aus und lacht, lacht, lacht. Sie ist seitdem in einer geschlossenen Anstalt und lacht nur noch.“
Die Runde ist so still wie nie. Bis Pineladder trocken feststellt: „Gut, daß das in Calgary und nicht hier passiert ist: So können wir sagen, das liegt außerhalb unseres Aufgabengebietes. Also nichts für uns.“ Und als es weder Widerspruch noch Zustimmung gibt, nur Stille, eine widerlich drückende Stille, da meint Pineladder, wieder ganz der Abteilungsleiter:
„Wir brauchen mal wieder einen richtig schönen Riemen. Ich finde, wir haben schon viel zu lange nicht mehr über das Vogelschutzgebiet Vaseuxsee berichtet. Bei Vögeln gibt es immer was Neues. Vögel sind immer aktuell. Und gerade jetzt im Herbst. Davon haben die Leute nie genug. Das muß also nicht so kurz daherkommen, das kann ruhig ein Sechs-Minuten-Bericht werden. Thema: Unsere Vögel spüren schon den Winter kommen. Mister Harrison, wäre das nicht was für Sie?“
„Keine Frage.“ Meine vorgefertigte Antwort für all die Fälle, in denen ich nicht gleich fertigwerde mit einer Frage. Was soll das? Was qualifiziert gerade mich für einen Bericht über Vögel? Mich interessieren Menschen und sonst nichts auf der Welt.
„Ich gebe Ihnen Fred Anthony als Kameramann mit. Der hat Erfahrungen mit der Tierfilmerei und die nötige Engelsgeduld. Denn Geduld brauchen Sie dafür. Und viel Zeit. Wir werden Sie ganz sicher die nächsten drei Tage nicht hier sehen.“
Damit bin ich verabschiedet und mit meiner Verwunderung allein. Mit diesem Fred Anthony habe ich noch nie zusammengearbeitet. Das ist ein Sonderling, weiß ich nur. Ein stiller Mensch, der lieber mit Tieren zu tun hat als mit Menschen. So Typen sind mir eh suspekt. Denn wer nicht mit Menschen zurechtkommt, der muß eine Macke haben, an der die Mitmenschen sich stoßen. Die Tiere natürlich, die merken so was nicht. Die sind total kritiklos und damit die idealen Ersatzkontakte für Kontaktgestörte.
„Das ist ein Bonbon, was Pineladder Ihnen da gegeben hat. Wir fahren mit meinem Wohnmobil“, bestimmt Fred Anthony. „Denn wir werden nicht dazu kommen heimzufahren oder ins Hotel zu gehen. Wir müssen Tag und Nacht auf Beobachtungsstation bleiben.“
„Vier Mann in einem einzigen Wohnmobil?“
„Wir sind nur zu zweit. Den Kameraassistenten brauchen wir nicht. Mache ich alles selbst. Und den Tonmeister sparen wir uns, weil Sie den Ton machen können. Zeige ich Ihnen. Ist ganz einfach. Wir haben ja Zeit genug.“
Na ja, lieber mit Anthony als mit manchem anderen aus unserer Reportercrew drei Tage und Nächte im Wohnmobil. Bei Anthony bin ich wenigstens sicher, daß er nichts von mir will. Ich bin ja kein Tier.
Ich lasse mich fahren und genieße den Blick in die Landschaft. Feinsandige Strände am Okanagansee, vereinzelte kleine Feriensiedlungen und immer wieder dieses Militärisch-Exakte: die gleichmäßigen Reihen der Obstkulturen. Schon in der Schule haben wir die Obstbäume an ihren Stämmen unterscheiden gelernt: Pfirsiche, Kirschen, Pflaumen, Äpfel. Neuerdings werden immer mehr Weingärten angelegt. Die Fahrt die ganze untere Hälfte des Okanagansees entlang nach Süden, durch Penticton und dann durch das deutlich enger werdende Tal am Shahasee vorüber, fühle ich mich schon selbst wie ein Zugvogel, der sich zu der weiten Reise in den sonnigen Süden aufgemacht hat. Warum muß man so darauf gestoßen werden, daß schon wieder ein schöner Sommer vorüber ist, daß es kalt wird? Und warum mache ich nicht mal eine Reise in den Süden? Jetzt, wo ich Geld genug verdiene, könnte ich mir diesen Luxus leisten. Habe doch keine andere Gelegenheit, mein Geld auszugeben.
Wahnsinn! Der kleine Vaseuxsee ist vor lauter Vögeln kaum noch zu sehen. Die Wasservögel, die hier im Sommer genistet haben, sind jetzt von fremdartigen Besucherseharen aus dem Norden wie zugedeckt. Damit müssen die Einheimischen leben. Der Vaseuxsee ist seit eh und jeh im Herbst wie im Frühjahr die Pausenstation der Zugvögel. So haben wir es schon in der Schule gelernt. Ein beinahe endloses Flimmerflatterbild. Der See ist befiedert, und hin und wieder scheint er abzuheben. Um ein paar elegante Schlingen in die Luft zu legen und sich dann klatschend wieder in sein Bett zu werfen.
„Die Totale können wir nicht brauchen. Die Totale ist nichts fürs Fernsehen. Dafür ist der Bildschirm zu klein. Das gäbe ja nur noch Fliegenschiss auf der Mattscheibe.“ Anthony erklärt selbst dann noch weiter, wenn man ihm nicht widerspricht und sogar zunickt. „Wir machen in Porträtfotografie. Da kann man die einzelnen Arten und ihre charakteristischen Unterschiede ansprechen.“
„Aber ich kenne nichts von diesen Arten. Wie soll ich den Film texten?“
„Mache ich schon. Ich bin gewohnt, daß kein Reporter eine Ahnung hat.“
„Und wozu bin ich dann überhaupt mitgefahren?“
„Das weiß ich auch nicht.“
Wir meiden die offiziellen Beobachtungsplätze, wo sich die Touristen drängen, und fahren direkt ins Sperrgebiet hinein. Anthony zeigt stolz seine Sondererlaubnis.
Drei Tage nur Vögel, da findet man es schon erholsam, mit einem Sonderling sprechen zu können. Wie ich versuche, ihn aufzubauen - mit den bewundernden Bemerkungen, daß er ja bei Kelowna TV ein alter Routinier ist und daß er ein ganz besonderes Händchen für Tiere hat -, entsteht tatsächlich so was wie Vertrautheit. Wenigstens für einen Moment. Während ich mich noch wundere, mit was für simplen Tricks man seine Mitmenschen aufschließen kann, wie mit einem gebogenen Draht als Nachschlüssel, werde ich hellhörig. Was hat Anthony da gesagt? Pineladder hat die Bemerkung gemacht: Den Harrison muß ich mal für ein paar Tage