Hatz. Jørgen Gunnerud
»Ich hab’s überprüft und alles durchsucht. Nichts gefunden.«
»Aber war das nicht riskant? Ihre Kollegin wurde umgebracht.«
»So hab ich’s immer gemacht. Wenn Sie Zeit haben, können Sie ja mal unsere Messersammlung begutachten.«
Moen überhörte die Einladung.
»Hatten Sie denn bemerkt, dass in den Keller eingebrochen wurde?«
Reidar Olsby sah Moen erstaunt an. »Wir sind gleich nach oben in die Abteilung gegangen.«
Während Moen die Auskünfte auf sich wirken ließ, fragte Gihle: »Wo sind die anderen Jugendlichen?«
»Die sind auf einem Ausflug in Schweden, zusammen mit dem restlichen Personal. Per Erik durfte nicht mitfahren. Ich kümmere mich in einer Doppelschicht um ihn, und Anne hat die Nachtwachen übernommen.«
»Weshalb durfte er nicht mitfahren?«
»Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie jetzt hören?«
»Wie lautet die Kurzfassung?«, warf Moen ein.
Reidar Olsby überlegte einen Moment.
»Er hat eine Praktikantin angegriffen.« Er zuckte mit den Schultern. »Das klingt nicht besonders toll, ich weiß, aber die Geschichte ist nicht so einfach. Soll ich was darüber erzählen?« Moen schüttelte den Kopf.
»Das kann warten. Alle werden ihre Aussage machen können, aber verraten Sie mir eins: Wie alt ist der Junge?«
»Er ist fünfzehn.«
»Was ist mit den Erziehungsberechtigten? Wir würden ihn gerne vernehmen.«
»Die Mutter ist mit dem Stiefvater und zwei neuen Kindern irgendwo im Süden im Urlaub. Der Vater wohnt in Nordnorwegen, und ich weiß auch nicht, ob er uns überhaupt helfen kann.«
»Ist es möglich, den Vater zu kontaktieren, sodass er jemandem eine Vollmacht erteilen kann?«
»Das müssen Sie mit der Leitung klären. Da habe ich nicht genügend Einblick.« Reidar Olsby blickte verstohlen zu Asbjørn Gihle. »Aber das ist vielleicht leichter gesagt als getan, mehr will ich dazu nicht sagen.«
Ohne eine Miene zu verziehen, sagte Asbjørn Gihle: »Sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben, Olsby. Sie werden mich sowieso nicht schockieren können.«
»In einer solchen Situation sollte die Leiterin der Einrichtung hier sein und nicht zu Hause liegen. Das ist kein Zufall, um es so auszudrücken.«
Moen sah auf die Uhr.
»Gibt es jemand anderen, der sich um diese Angelegenheit kümmern kann?«
»Das wäre dann der Abteilungsleiter hier, Kjell Mannsåker, aber der hat eine Besprechung in der Stadt.« Nach einer Pause fügte Olsby hinzu: »Also Oslo meine ich, nicht Gjøvik.«
»Haben Sie seine Telefonnummer?«
Reidar Olsby bejahte, und Moen bat ihn, Gihle die Nummer zu geben. »Schaff ihn so schnell wie möglich her.«
Gihle ging hinaus in den Aufenthaltsraum. Moen und Olsby blieben zurück und sahen einander an, bis Olsby einwarf:
»Niemand hier in der Abteilung kann Per Erik in seine Obhut nehmen, wenn Sie das glauben.«
»Warum denn nicht?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Moen lächelte: »Okay. Gibt es jemanden in Per Eriks Nähe, der diesen Job machen kann? Jemand, der nicht hier arbeitet und nicht erst um die halbe Welt fliegen muss?«
»Wir haben hier eine Schule, und er hat ein ziemlich gutes Verhältnis zu seinen Lehrern, besonders zu einem.« Reidar Olsby sank in sich zusammen.
»Kann ich bald gehen? Ich fühle mich nicht gut.«
»Nein, Sie müssen noch bleiben und uns helfen.«
3
Sie kontaktierten die Schule. Asbjørn Gihle und Reidar Olsby gingen in den Keller hinunter, um zu überprüfen, ob etwas gestohlen worden war. Die Polizeidirektion von Vestoppland war mit einer Einsatztruppe unterwegs. Ebenso die Kripo-Zentrale. Reidar Olsbys Abteilungsleiter hatte sein Handy abgestellt, was ganz natürlich war, da er mit aller Wahrscheinlichkeit in einer Besprechung saß. Moen ging hinaus in den Gang und betrat den Wachraum. Odd Sørli, groß und finster, stand gleich an der Tür. Der Junge saß zusammengesunken auf einem Sofa, die verbundene Hand im Schoß. Er schaute nicht einmal auf, als Moen in der Türöffnung erschien. Der Arzt war dabei, seine Sachen zusammenzupacken. Moen winkte ihn mit dem Finger heraus. Sie begrüßten sich per Handschlag und Moen zog ihn außer Hörweite.
»Haben Sie Erfahrung mit Stichwunden?«
Der Arzt antwortete kurz angebunden: »Durch die Ambulanz in Oslo.«
»Irgendeinen Kommentar?«
»Ein Stich. Direkt in den Bauchbereich. Die Wunde war tief und breit. Muss ein großes Messer gewesen sein. Ein samisches oder irgend so ein verdammtes Ding.« Sein Gesicht war abgewandt, und er schaute Moen nicht an. »Gibt’s noch was? Ich muss weiter.«
Moen schüttelte den Kopf und ging hinein zu dem Festgenommenen, denn als solchen betrachtete er ihn. Ein Sonnenstrahl drang durch einen Schlitz in den Gardinen. Der Raum roch nach einer Mischung aus kaltem Rauch, Körperausdünstungen und billigem Waschmittel. Der Eindruck wurde durch die keineswegs neu erscheinenden Möbel verstärkt. Man hatte sie sicher auch nicht für sonderlich vornehm gehalten, als sie gekauft wurden. Das einzig Moderne war ein Notebook, das Moen ziemlich elegant vorkam. Dann fiel sein Blick auf eine Damenhandtasche, und ihm wurde klar, dass sich die Nachtwache hier aufgehalten hatte. Er scheuchte alle hinaus in die Küche.
»Per Erik Henriksen, nicht wahr?«
Es kam keine Antwort. Der Junge schaute auf und sah Moen unter zusammengewachsenen Augenbrauen einige Sekunden lang an. Er nickte knapp und senkte den Blick. Moen erklärte, dass sie auf seinen Lehrer warteten, und fragte, ob er ihn als stellvertretenden Vormund akzeptiere.
»Du bist nicht mündig. Wir versuchen, deinen Vater zu erreichen, damit er eine Vollmacht geben kann.«
Der Junge antwortete nicht.
»Bist du einverstanden, eine Erklärung darüber abzugeben, was du hier letzte Nacht erlebt hast?«
Der Junge wiegte sich mit dem Oberkörper hin und her und presste schließlich ein Ja hervor.
»Akzeptierst du diesen Lehrer als stellvertretenden Vormund?«, wiederholte Moen. Der Junge rieb sich mit der bandagierten Hand die Wange.
»Ja, in Ordnung.«
Das ist ja schon mal was, dachte Moen. Er bat den Polizeibeamten Sørli, sich nach dem Verbleib des Lehrers zu erkundigen, und fragte ganz unschuldig, warum der Junge nicht mit allen anderen Jugendlichen zusammen in Schweden sei. Der Junge sagte, dass sie ihn aus der Einrichtung werfen wollten und dass er deshalb nicht hatte mitfahren dürfen. Moen fragte, welchen Grund dies habe, wenngleich ihm klar war, dass er sich hier, rechtlich gesehen, auf dünnem Eis bewegte. Der Junge gab zur Antwort, er habe sich mit einer Praktikumskraft geschlagen. Er führte nicht weiter aus, welches Geschlecht die Kraft hatte, und Moen fragte nicht weiter nach.
Sørli steckte den Kopf zur Tür hinein, er glaubte, der Lehrer sei gekommen.
»Holen Sie ihn her.«
Moen sah Per Erik Henriksen unverwunden an.
»Steht das, was du mir erzählt hast, in irgendeinem Zusammenhang mit den Geschehnissen von heute Nacht?«
»Vielleicht«, gab der Junge zurück.
Sørli musste den Mann mit dem kurz geschnittenen grauen Haar und der Brille beinahe in den Raum hineinschieben. Er sah sich mit seinen betrübten grauen Augen etwas unsicher um. Seine Lippen waren angespannt und die Mundwinkel hingen herab.