Hatz. Jørgen Gunnerud
den Armen. »Als wir ihm unten auf der Treppe die Handkurbel der Wanduhr zeigten, wusste er nicht einmal, was das war. Er wusste nicht, dass die Uhr gestohlen war. Er hat uns gesagt, wo er den Fernseher versteckt und wo er das Messer hingeworfen hat, aber wir finden nichts. Seine Erklärungen waren von Anfang an falsch. Er sagte, dass er durch die Eingangstür hinausging. Als ich mit Reidar Olsby darüber gesprochen habe, sagte der, dass die Tür verschlossen war, als er zum Tatort kam. Er war sich bombensicher.«
Moen antwortete auch diesmal nicht. Er dachte an die ersten beiden Fragen, die er dem Jungen gestellt hatte. Wo ist der Schraubenzieher, mit dem du das Fenster losgeschraubt hast? Wo sind die Schrauben? Dem Jungen hatte es die Sprache verschlagen. Fragte man einen Mörder nach so etwas?
Der Lensmann unterbrach seine Gedanken. »Warum sollte er irgendwas verstecken, wenn er zusammen mit dem Opfer auf der Treppe sitzen bleibt?«
»Ab einem gewissen Punkt werden die Menschen von Schuldgefühlen überwältigt. Ich erlebe so etwas zum ersten Mal.«
Gihle war in Fahrt gekommen und unterstrich jeden Punkt mit einer kräftigen Handbewegung. »Ist es so merkwürdig, dass er sitzen blieb? Ein menschenleeres Haus und draußen dunkle Nacht. Das Telefon ist im Wachraum eingeschlossen. Sein Handy war auch da drin, eingeschlossen. Die Jugendlichen bekommen es nur, wenn sie sich außerhalb der Einrichtung befinden. Vielleicht hat er genau deswegen versucht, das Verbundglas zum Wachraum einzuschlagen? Um zu telefonieren?«
Moen stand auf und fasste seinen Freund am Arm. »Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Du vergisst, dass die Nachtwache ihre Schlüssel am Gürtel hängen hatte. Der Junge hätte aufschließen können.«
Gihle schüttelte den Kopf. »Bei so einer Sache bin ich ein ziemlicher Amateur, aber ich kann nicht glauben, dass er es getan hat. Ich verstehe nicht, wieso du so sicher sein kannst.«
»Vielleicht ist es Wunschdenken, aber wir haben ein Geständnis. Erinnerst du dich nicht an die Zeit auf der Polizeihochschule? Andenæs: ›Das Geständnis ist die Königin der Beweise.‹« Moen ließ seinen Arm los.
»Die Nachtwache wurde umgebracht. Das ist nicht irgendwas, das der Junge erfunden hat. Jetzt müssen wir vielleicht auch da draußen suchen.« Moen zeigte auf die Ortschaft, die in der Herbstsonne badete.
»Das kann eine schwierige Arbeit werden. Wenn du einverstanden bist, nehme ich deine Polizisten mit und schnüffle etwas herum. Du übernimmst die Mannschaft aus Gjøvik. Ihr müsst Haus und Hof auf den Kopf stellen.«
5
Moen lief hinter Odd Sørli und der Polizeibeamtin Jenny Kammerstuen her. Er blieb stehen, die Sonne im Rücken, saugte die Wärme in sich ein und ließ den Blick auf der Kirche von Kolbu ruhen, die auf dem nächsten Hügel thronte. Im Augenwinkel sah er, dass Sørli sich hinunterbeugte und auf etwas zeigte. Jenny beugte sich ebenfalls hinunter. Moen steckte die Hände in die Taschen der Feldjacke und schlenderte zum Steinzaun hinüber, der den Garten des Internats vom Besitz dahinter trennte. Die Polizeibeamtin wies auf eine Vertiefung im Boden unterhalb des Zauns. Es war der Abdruck eines Cowboystiefels. Jenny hatte gleich in der Nähe das Untergestell eines Fernsehgeräts gefunden. Moen kletterte über den Zaun und blickte auf den Acker hinaus, atmete die raue Oktoberluft ein und machte ein paar Grimassen, um die Gesichtsmuskeln zu entspannen.
Die Strohrollen warfen lange Schatten in der Morgensonne. Der Boden war nach einem warmen, regenarmen September hart und trocken, und Moen konnte in keiner Richtung Spuren entdecken.
Sørli räusperte sich: »Die Hauptstraße geht da vorne entlang, am Pächterschuppen. Vielleicht haben sie sich in diese Richtung bewegt.«
Moen nahm sich Zeit, den ganzen Horizont abzusuchen, bevor er schließlich nickte.
»Ist das Haus bewohnt?«
»Aus dem Kamin kommt Rauch«, hörte er Jenny sagen.
Moen wandte sich um und belohnte Jenny mit einem keineswegs sparsamen Lächeln.
»Das muss zu Store Lundby gehören. Vielleicht haben die Bewohner ja etwas gehört oder gesehen?«
Sørli blickte fragend zu Moen, der nur einfach losging. Sie liefen eine Weile weiter, mit ein paar Metern Abstand zwischen sich, den Blick auf den Boden geheftet, bis Sørli stehen blieb. Sie waren ungefähr hundert Meter vom Haus entfernt. Die rote Bemalung an den Wänden war fast verblichen, das Blechdach rostig. Der einzige Schmuck bestand aus einer alten Hagebuttenhecke. Sørli schnupperte prüfend in die Luft.
»Merken Sie das? Es riecht nach verbrannter Wolle.«
Moen ging weiter auf das Haus zu und stoppte an der Treppe. Er wandte sich zu Sørli um. »Sie wissen also nicht, wer hier wohnt? Es sieht nicht nach einem Personalgebäude aus.«
»Hab nicht die leiseste Ahnung.« Sørli antwortete zögernd.
»Manchmal vermietet die Kommune ja schlecht verkäufliche Häuser an irgendwelches Gesindel, aber ich weiß nicht.«
Jenny unterbrach ihn. »Vielleicht wohnen ja die Praktikanten hier oder so etwas.«
Moen überließ Sørli den Vortritt. Von seinem Standort aus hatte er einen Ausblick auf den Garten der Einrichtung. Der Polizeibeamte klopfte ein paarmal an die Tür und die Fensterscheibe nebenan, dann drückte er vorsichtig die Türklinke herunter, und die Tür öffnete sich nach innen. Sørli rief ein paarmal Hallo, ohne eine Antwort zu bekommen, dann kam er wieder heraus. Er schüttelte den Kopf. »Verdammter Dreck, da drinnen riecht’s wie im Schweinestall.«
Moen setzte sich auf die Steintreppe und zündete sich eine Zigarette an. Sørli fragte, was sie jetzt tun sollten. Moen wollte gerade sagen: Nichts, doch bat stattdessen um Bedenkzeit. Eine Zeit lang hatte er sich solch einen Ort gewünscht, und er verschwand in einem kleinen Tagtraum, während Sørli vor dem kleinen roten Häuschen hin und her stolzierte und Tatendrang verkörperte. Dieser führte Sørli schließlich zu einer angelehnten Kellertür. Sørli konnte gerade noch mitteilen, dass ein geschlachtetes Reh da drinnen hing, als ein Toyota Pick-up von der Hauptstraße einbog und so scharf bremste, dass sich das Heck des Wagens anhob und die Vorderräder eine tiefe Spur in den Kies gruben. Moen sprang auf und sah flüchtig, wie Sørli sich umdrehte und sich zwei Schritte nach vorn bewegte.
Aus dem Auto stieg ein Mann mit roten Haaren und Pferdeschwanz. Sein Bart war bis zu den Augen hinaufgewachsen. Er blieb einen Moment stehen, wie um das Gleichgewicht zu finden, und als er hinter dem Auto hervorkam, sah Moen sofort, dass er unter Drogen stand. Moen nahm Blickkontakt zu Sørli auf. Der Polizeibeamte nahm sein Funkgerät und rief Gihle. Er gab durch, dass sich eine Situation ergeben habe, und bat um Unterstützung. Jetzt stolperte der Mann in seinen abgetragenen Cowboystiefeln auf sie zu. Er trug einen orangefarbenen Overall, der mit Firmenabzeichen eines amerikanischen Motorradherstellers dekoriert war.
Dann zeigte sich, dass der Mann auch sprechen konnte. Es klang wie ein Erdrutsch in einer Kiesgrube. Ein merkwürdig grobes Gebrumm, das Moen nicht einordnen konnte. Sørli ging einen Schritt auf die Erscheinung zu und bat ihn, stehen zu bleiben. Moen war überrascht, dass der Mann gehorchte, doch sein derbes Gedröhne verwandelte sich in Gewaltandrohungen für den Fall, dass sie nicht schnurstracks von seinem Eigentum verschwinden würden. Moen warf einen Blick auf das schwere Messerfutteral, das mit einem Lederriemen am Schenkel befestigt war. Es war leer. Moen zeigte seinen Dienstausweis und blickte dem Mann direkt in die Augen. Diese Augen waren schmale, runzelige Öffnungen, und Moen sah einen Funken Überraschung darin. Der Mann hatte geglaubt, sie seien Jäger. Nur Jenny war in Uniform, doch die hatte er noch nicht zur Kenntnis genommen. Er versuchte, in einem Bogen um Moen herumzugehen, der zwischen ihm und der Kellertür stand.
Moen wich zurück und sagte: »Bleiben Sie stehen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
Der Mann murmelte, dass sie das auch drinnen besprechen könnten, und setzte seine Kreisbewegung in Richtung Kellertür fort. Moen schnitt ihm den Weg ab: »Haben Sie eine Waffe da drinnen?«
In der nächsten Sekunde wusste Moen, dass der Angriff kommen würde. Der Mann beugte sich vor, hob das rechte Bein an und schlug mit der linken Hand zu. Reflexartig sprang