Genies in Schwarzweiß. Martin Breutigam
tragen. Außerdem saß er einen Tag im Gefängnis, weil ahnungslose Mitarbeiter des New Yorker Postamtes die telegrafisch übermittelten Schachnotationen für einen Geheimcode hielten und Steinitz der Spionage verdächtigten.
War die damalige Art, Schach zu spielen, wirklich nur ein zwar schöner, in Wirklichkeit aber fauler Zauber, der einer genauen Analyse nicht standhielt? Kein Wunder, dass dieser vergleichsweise nüchternen Philosophie zunächst wenige folgen wollten. Während Steinitz die Kunst der Verteidigung demonstrierte und in manchen Partien seine Figuren auf damals unbegreifliche Weise zurückzog, um im eigenen Lager ja keine Schwächen zuzulassen, verspotteten andere die neuen Ideen, etwa Henry Bird, der Steinitz schon 1866 mit 7,5:9,5 unterlegen war: „Lege die Schachfiguren in einen Hut, dann gut schütteln, die Steine aus zwei Fuß Höhe über dem Schachbrett abwerfen, und schon hast du Steinitz’ Stil.“
Angesichts solcher Opposition kämpfte Steinitz fortan in seinen Partien nicht nur um den Sieg, sondern auch um die Würdigung seiner neuen Ideen. Diese haben indes fast alle ihre Gültigkeit behalten, etwa die Bedeutung der Zentrumskontrolle, des Läuferpaars oder der Bauernmehrheit am Damenflügel. Intensiv befasste er sich auch mit den strategischen Besonderheiten verschiedener Bauernstrukturen und deren etwaigen Felderschwächen. Überhaupt wurden Begriffe wie „schwache Felder“ oder „Gleichgewicht der Stellung“ erst durch Steinitz Allgemeingut.
Zugleich bereicherte er viele Eröffnungen mit neuen Spielideen; nach ihm benannt sind unter anderem die Steinitz-Verteidigung (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 d6) in der spanischen Partie und das Steinitz-Gambit in der Wiener Partie (1.e4 e5 2.Sc3 Sc6 3.f4 exf4 4.d4 Dh4+ 5.Ke2). Das Eröffnungskonzept der Wiener Partie (1.e4 e5 2.Sc3 nebst 3.f4) hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts jemand anderes ausgefeilt, nämlich Carl Hamppe, ein in der Schweiz geborener, lange Zeit in Wien lebender und heute fast vergessener Schachmeister. Steinitz hatte ihm nach eigenen Worten viel zu verdanken: „Mein Lehrmeister im Schach war Hamppe.“
Hausverbot für Steinitz
Die neuen Ideen bewährten sich in der Praxis durchaus. Schon 1872, von Steinitz selbst als das Wendejahr seines Denkens bezeichnet, siegte er bei einem Turnier in London mit sieben Punkten aus sieben Partien; kurz danach schlug er Johannes Hermann Zukertort, dem er 14 Jahre später im ersten offiziellen WM-Kampf gegenübersitzen sollte, klar mit 9:3 Punkten. Auch beim großen Turnier in Wien 1873 siegte Steinitz, vor Joseph Henry Blackburne, den er drei Jahre später in einem Wettkampf mit 7:0 Punkten deklassierte.
Danach spielte Steinitz fast sechs Jahre lang keine einzige Turnierpartie. Er publizierte jedoch eifrig weiter, bis er sich mit dem Herausgeber von The Field überwarf und dieser die Schachrubrik kurzerhand aus dem Blatt nahm. (Später führten der Schachpublizist Leopold Hoffer und Zukertort die Rubrik weiter, was Steinitz’ feindseliges Verhältnis zu ihnen erklären mag.) Erst 1882 spielte Steinitz wieder ein Turnier: In Wien teilte er sich mit Simon Winawer den Gesamtsieg.
Steinitz galt als streitbar und starrköpfig. In verschiedenen Londoner Schachklubs hatte er Hausverbot, auch die Räume des berühmten Simpson’s Divan blieben für ihn zeitweise verschlossen. Andererseits gab er sich gegenüber Gegnern und Vertrauten durchaus warmherzig. Und er war, obwohl er sich dem Spiel und seiner Erforschung mit Leidenschaft und wissenschaftlichem Eifer hingab, keinesfalls allein aufs Schach fixiert. Steinitz lebte vegetarisch, zeigte Sympathien für die aufkommende Frauenbewegung, schätzte Kneippkuren und die Musik von Richard Wagner. (Als dieser allerdings davon hörte, ließ er ausrichten, Steinitz verstünde von der Musik wohl ebenso viel wie er, Wagner, vom Schachspiel.) Und nicht zuletzt war er Vater: Im Jahr 1866 hatte seine 18-jährige Ehefrau eine gemeinsame Tochter namens Flora zur Welt gebracht.
Der erste offizielle WM-Kampf
Mit seiner Schachspalte in The Field hatte Steinitz 1883 eine wichtige Einnahmequelle und sein Sprachrohr verloren. Versuche, bei anderen Zeitschriften Fuß zu fassen, scheiterten. Also zeichnete sich schon vor dem Turnier in London 1883, das Zukertort dominieren und mit drei Punkten Vorsprung vor Steinitz gewinnen sollte, ein Bruch in seinem Leben ab. Er sah für sich keine Zukunft mehr in England. Im September des gleichen Jahres siedelte er schließlich in die USA über und schlug sich dort mithilfe neuer Förderer durch. Von 1885 an gab er eine eigene Schachzeitschrift heraus, das International Chess Magazine.
Erst 1886 – der legendäre Paul Morphy war seit anderthalb Jahren tot – sollte es in New York, St. Louis und New Orleans zu dem ersten offiziellen Wettkampf um die Weltmeisterschaft kommen. Steinitz und Johannes Hermann Zukertort, ein in London lebender polnisch-deutscher Weltklassespieler, einigten sich darauf, dass der Sieger den offiziellen Titel „Weltschachmeister“ bekomme.
Eigentlich mochten sie sich nicht. Schon jahrelang hatten sie über ihre jeweiligen Zeitschriften miteinander gestritten, besonders Zukertorts Partner Leopold Hoffer polemisierte in Chess Monthly auf teilweise bösartige Weise gegen Steinitz. Auch Zukertort selbst schimpfte zuweilen auf den Rivalen in Übersee, nannte ihn einen „Feigling“, weil sich Steinitz vor einem WM-Kampf mit ihm drücke. Doch Steinitz stand Zukertort in dieser Hinsicht nicht nach, beispielsweise bezeichnete er ihn als „den größten Lügner“. Es war nicht allein persönliche Antipathie, sondern auch ein Konflikt in Sachen Schachphilosophie. Zukertort war ein „Romantiker“, ein Schüler Anderssens, mit dem er Tausende von Partien ausgetragen haben soll.
Souverän gewann Steinitz den ersten offiziellen WM-Kampf 1886.
Trotz alledem einigten sich die ersten WM-Duellanten auf die Spielbedingungen: Beide mussten einen Einsatz von 2.000 US-Dollar aufbringen sowie ein Reuegeld von 250 Dollar. Zukertort bekam als Entschädigung für seine Reisekosten von den Ausrichtern 500 Dollar in Aussicht gestellt, für den Fall einer Gesamtniederlage 750 Dollar. Jeder erhielt für 15 Züge eine Stunde Bedenkzeit, die mit mechanisch verbundenen Stoppuhren gemessen wurde. In New York sollte so lange gespielt werden, bis einer von beiden vier Partien gewonnen hatte. Danach eine zweiwöchige Pause und Umzug nach St. Louis, wo man bleiben wollte, bis wiederum einer von beiden vier Partien gewonnen hatte. Und schließlich New Orleans, wo so lange gespielt werden sollte, bis einer insgesamt zehn Gewinne erreichte. Beim Stand von 9:9, so war es ursprünglich geplant, sollte der Wettkampf unentschieden gewertet werden.
New York, 11. Januar 1886: Das öffentliche Interesse an den beiden Schachgenies war riesig. Endlich war es so weit: In Cartier’s Academy schob Zukertort seinen Damenbauern nach d4 – der erste Zug der WM-Geschichte! Im Vergleich zu seinem gerne länger grübelnden Gegner spielte Zukertort meistens etwas zügiger. Sein Gesicht war, wie eine New Yorker Tageszeitung beobachtete, „von schwerer Geistesarbeit tief durchfurcht“, während Steinitz gedrungen dasaß, „mit halb kahlem Kopf, vollem rötlich-braunen, fast mähnenartigen Backenbart, lebhaften, sprechenden Augen“.
Steinitz gewann die erste Partie, verlor aber die vier folgenden und lag mit 1:4 Punkten zurück. Also brach man schon nach der fünften Partie zum zweiten Spielort auf, beide fuhren gemeinsam mit dem Zug nach St. Louis. Dort gelang Steinitz die Wende, mit einer 5:4-Führung konnte er sich in New Orleans ans Brett setzen. Am Ende gewann er souverän mit 10:5 Punkten. Offenbar war der herzkranke Zukertort den 77 Tage andauernden Belastungen nicht gewachsen. Zwei Jahre später starb Zukertort an einem Schlaganfall.
Die ersten Herausforderer
In den folgenden drei WM-Kämpfen wehrte Steinitz die Angriffe seiner Herausforderer ab: In den Jahren 1889 und 1892 besiegte er jeweils in Havanna den von ihm hochgeschätzten Russen Michail Tschigorin, was Steinitz selbst so kommentierte: „Ein alter Meister der neuen Schule gewann gegen einen jungen Meister der alten Schule.“
Dass Steinitz ausgerechnet Tschigorin als Gegner akzeptiert hatte, wurde ihm hoch angerechnet. Tschigorin, in späteren Epochen oft als Vater der russischen Schachschule bezeichnet, galt damals als der stärkste von allen russischen Meistern, darunter Petrow oder Jänisch. Tschigorin konnte Steinitz durchaus gefährlich werden; schon beim Turnier in London 1883 hatte er ihn zweimal geschlagen. Doch im WM-Kampf von 1889 unterlag Tschigorin klar, nach 16 von 20 geplanten Partien stand es 10:6 für Steinitz, der mit dem einzigen