Genies in Schwarzweiß. Martin Breutigam

Genies in Schwarzweiß - Martin Breutigam


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ging es aber nicht um die Weltmeisterschaft.)

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      Emanuel Lasker (links) mit seinem Bruder Berthold im Jahr 1907

      Vor diesen WM-Kämpfen hatte Lasker Kampf veröffentlicht (engl. Titel: Struggle), sein erstes philosophisches Werk. Später sollten weitere folgen: Das Begreifen der Welt (1913) und Philosophie des Unvollendbar (1919). Lasker suchte auch fernab der 64 Felder Anerkennung. Als Mathematiker fand er sie, als Philosoph offenbar weniger. Selbst sein Freund Albert Einstein ließ neben Hochachtung und Sympathie auch Skepsis durchblicken, nämlich im Hinblick auf Laskers philosophische Schriften. Der große Physiker mutmaßte im Geleitwort zu Hannaks Lasker-Biografie, es könne wohl kein Schachmeister seinen Geist vollkommen frei und unbeschwert lassen, weil ihn das Spiel „in seinen Banden hält, den Geist fesselt und in gewisser Weise formt, so dass die innere Freiheit und Unbefangenheit auch des Stärksten darunter leiden muss. Dies fühlte ich in unseren Gesprächen und beim Lesen seiner [Laskers] philosophischen Bücher immer durch.“

       Beinahe entthront

      Laskers enorm dichte Schaffensperiode hielt an. Zu Beginn des Jahres 1910 kam es in Wien und Berlin zu einem WM-Kampf mit dem Wiener Meister Carl Schlechter. Gespielt wurden nur zehn Partien. Erst vier Remisen. Dann ein Sieg für Schlechter. „Wie kann man jemanden schlagen, der Gewinnmöglichkeiten und starken Angriffsdrohungen mit der gleichen Gelassenheit begegnet“, rätselte Lasker. Vor der letzten Partie schien er bereits verloren, er lag mit 4:5 Punkten hinten. Ein Sieg musste her, denn ein 5:5-Unentschieden hätte zur Titelverteidigung genügt. Doch danach sah es zunächst überhaupt nicht aus:

       Lasker – Schlechter

      10. WM-Partie, Berlin 1910

       Damengambit

       1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6 4.e3 g6 5.Sc3 Lg7 6.Ld3 0-0 7.Dc2 Sa6 8.a3 dxc4 9.Lxc4 b5 10.Ld3 b4 11.Sa4 bxa3 12.bxa3 Lb7 13.Tb1 Dc7 14.Se5 Sh5 15.g4 Lxe5 16.gxh5 Lg7 17.hxg6 hxg6 18.Dc4 Lc8 19.Tg1 Da5+ 20.Ld2 Dd5 21.Tc1 Lb7 22.Dc2 Dh5 23.Lxg6 Dxh2 24.Tf1 fxg6 25.Db3+ Tf7 26.Dxb7 Taf8 27.Db3 Kh8 28.f4 g5 29.Dd3 gxf4 30.exf4 Dh4+ 31.Ke2 Dh2+ 32.Tf2 Dh5+ 33.Tf3 Sc7 34.Txc6 Sb5 35.Tc4 Txf4 36.Lxf4 Txf4 37.Tc8+ Lf8 38.Kf2 Dh2+ 39.Ke1

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      Manchmal entscheiden Kleinigkeiten über große Geschichten. Hätte Schlechter hier das schon seinerzeit von Georg Marco vorgeschlagene 39…Dh4+! gefunden, wäre er als dritter Weltmeister in die Schachgeschichte eingegangen. Denn Weiß müsste nach 39…Dh4+ den Doppelangriff auf seinen König und den ungedeckten Turm c8 im Auge behalten, z.B. 40.Kf1 Dh1+ 41.Kf2 Dh2+ 42.Ke1 Dh4+ 43.Kd2 Dh2+, mit ewigem Schach. Oder 40.Tg3? Dh1+ 41.Kd2 Tf2+ und Schwarz gewinnt; ebenso im Fall von 40.Kd1? Dh1+ 41.Ke2 Txf3 42.Dxf3 Sxd4+. Auch der Gewinnversuch 40.Kd2 Dh2+ 41.Ke3?! taugte nicht viel, wegen 41…Txf3+ 42.Kxf3 Dh3+ 43.Ke2 Dxc8 44.Dxb5 Dg4+ 45.Kd3 Dd1+ 46.Ke4 Dh1+. Vielleicht hätte sich Schlechter in der folgenden Partiephase noch hier und da zäher verteidigen können. Doch nachdem er diese klare Chance verpasst hatte, gelang Lasker nach großem Kampf der Sieg. 39…Dh1+? 40.Tf1 Dh4+ 41.Kd2 Txf1 42.Dxf1 Dxd4+ 43.Dd3 Df2+ 44.Kd1 Sd6 45.Tc5 Lh6 46.Td5 Kg8 47.Sc5 Dg1+ 48.Kc2 Df2+ 49.Kb3 Lg7 50.Se6 Db2+ 51.Ka4 Kf7 52.Sxg7 Dxg7 53.Db3 Ke8 54.Db8+ Kf7 55.Dxa7 Dg4+ 56.Dd4 Dd7+ 57.Kb3 Db7+ 58.Ka2 Dc6 59.Dd3 Ke6 60.Tg5 Kd7 61.Te5 Dg2+ 62.Te2 Dg4 63.Td2 Da4 64.Df5+ Kc7 65.Dc2+ Dxc2+ 66.Txc2+ Kb7 67.Te2 Sc8 68.Kb3 Kc6 69.Tc2+ Kb7 70.Kb4 Sa7 71.Kc5 1:0.

      Im letzten Moment hatte Lasker doch noch den Ausgleich geschafft und seinen Titel verteidigt. Am Ende des gleichen Jahres bereitete ihm Janowski wesentlich weniger Schwierigkeiten: Lasker siegte in Berlin mit 8:0 Punkten, Janowski erreichte nur drei Remisen.

       Wieder in Deutschland

      Danach entschloss sich Lasker, wieder in Deutschland zu leben. Der Weltbürger verkehrte oft mit anderen Intellektuellen. Im Jahr 1911 heiratete er die seinerzeit populäre Schriftstellerin Martha Bamberger. (Eine biografische Parallele zu seinem Bruder Berthold, der zuvor neun Jahre lang mit Else Lasker-Schüler liiert war.) Lasker war bereits 42 Jahre alt. In dieser Zeit wuchs vor allem ein Gegner zu einer echten Gefahr für ihn heran: Akiba Rubinstein. Der Pole hatte zwischen 1907 und 1912 einige bedeutende Turniere gewonnen, doch zu einem WM-Kampf sollte es nicht kommen. Manche behaupteten, Lasker habe sich davor gedrückt. Andererseits hatte Rubinstein Lasker nie offiziell zu einem solchen Kampf herausgefordert. Wie dem auch sei, beim großen Turnier in St. Petersburg 1914 ließ Lasker wiederum die gesamte Konkurrenz hinter sich, woraufhin sogar Tarrasch voll des Lobes über den ewigen Rivalen war (in seinem Turnierbuch über St. Petersburg 1914).

      Im Juli 1914 reiste Lasker nach Mannheim zum 19. Deutschen Schachkongress, der in die Geschichte einging, weil am 1. August die parallel zum Kongress laufenden Turniere wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges abgebrochen wurden. Lasker war nicht gekommen, um selbst zu spielen, sondern hatte eine andere Mission: Der Weltmeister wollte gemeinsam mit Funktionären des Deutschen Schachbundes, des Allrussischen Schachverbandes und anderen Spielern einen internationalen Schachbund gründen. Mit Sponsorengeldern sollte, so die Unterzeichner, ein Fond für in Not geratene, verdienstvolle Schachmeister eingerichtet werden.

      Lasker galt zeitlebens als ein harter Verhandlungspartner, doch wenn er um bessere Konditionen kämpfte, tat er dies keineswegs immer nur für sich allein, sondern auch für die Schachkunst an sich. Er hatte stets die Professionalisierung des Schachs vor Augen – und auch das Schicksal seines Vorgängers Steinitz sowie anderer Koryphäen. Ihm graute vor Altersarmut. Welch Tragik, dass auch sein Leben eines Tages genau darin enden sollte!

      En passant

       Spielte Lasker psychologisch?

      Gilt Wilhelm Steinitz bis heute als Vater des positionellen Spiels, so wird Lasker zugeschrieben, die Thesen des von ihm geschätzten Steinitz weiterentwickelt und die Psychologie ins Turnierschach eingeführt zu haben. Letzteres hält Großmeister Dr. Robert Hübner allerdings für eine Legende, die er in verschiedenen Aufsätzen zu widerlegen versuchte. Die von jeher bekannte Behauptung, Lasker habe mitunter absichtlich schwächere Züge gewählt, um seine Gegner zu verwirren, ist laut Hübner absurd. Und die Tatsache, dass Lasker manchmal, etwa bei der Wahl der Eröffnung, die Stärken und Schwächen des jeweiligen Gegners berücksichtigte, sei nicht psychologischer, sondern schachtechnischer Natur.

      Tatsächlich haben wohl eher Laskers Bewunderer und Gegner mit der Legende von der „psychologischen Spielweise“ seine gewaltigen Erfolge zu erklären versucht. In Laskers eigenen Schriften finden sich kaum derartige Hinweise. Doch er selbst erklärte interessanterweise den Stil seines Vorgängers Steinitz „psychologisch“, und zwar im Lehrbuch des Schachspiels: „Er [Steinitz] wollte, dass seine Gegner auf Gewinn spielten, also gab er ihnen einen Vorwand dazu, eine Ausrede dafür, zumindest einen Anreiz dazu, indem er sein Streben, von vornherein nicht auf Gewinn zu spielen, allzu deutlich machte und sich öfter zu bizarren Zügen hinreißen ließ. Dieser Vorgang war sicherlich im Bezirk des Unterbewussten, auch lag dafür keine logische Notwendigkeit vor, aber wirkte sich psychologisch bei Steinitz so aus.“

      Schachpsychologie hin oder her – der Einfluss des Zeitgenossen Sigmund Freud ist unverkennbar.

       Lasker ist besiegt

      Im Sommer 1920 verzichtete Lasker in einer offiziellen Erklärung auf seinen WM-Titel zugunsten des Kubaners José Raoul Capablanca. Dieser hatte ihn neun Jahre zuvor herausgefordert. Doch ein Wettkampf war nicht zustande gekommen. Zunächst hatte man sich nicht auf die Bedingungen einigen können, dann war der Krieg dazwischengekommen. Und als man sich 1920 wieder zusammensetzte und endlich einigte, war die Finanzierung ungewiss. Laskers Verzicht stieß allerdings auf allgemeine Ablehnung. Kurz darauf wurden doch noch genügend Sponsoren gefunden. Havannas ruhmreicher Schachklub sprang ein, so dass Laskers Honorarforderung (11.000 Dollar) akzeptiert werden konnte und sich beide im März 1921 gegenübersaßen.

      Dem 52-jährigen Lasker machte die tropische Hitze in Kuba offenbar mehr zu schaffen als seinem 20 Jahre jüngeren


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