Genies in Schwarzweiß. Martin Breutigam
1890/91, verteidigte Steinitz seinen Titel gegen den in London lebenden gebürtigen Ungarn Isidor Gunsberg, obwohl er auch hier zwischenzeitlich in Rückstand geraten war wie in all seinen WM-Kämpfen. Wesentlich enger ging es im Revanchekampf mit Tschigorin zu. Nach 22 Partien stand es, die Remisen nicht mitgezählt, 9:8 für Steinitz, der sich in der 23. Partie allerdings in eine nahezu verlorene Stellung manövriert hatte:
Tschigorin – Steinitz 23. WM-Partie, Havanna 1892
(Stellung nach dem 31. Zug von Schwarz)
In der Hitze Havannas, die Tschigorin anscheinend mehr zu schaffen machte als seinem älteren Gegner, ging das Duell in die entscheidende Phase. Fast 2.000 Zuschauer waren an diesem Tag gekommen. Das obige Diagramm zeigt die Stellung nach dem 31. Zug, als plötzlich das Unfassbare geschah: Anstatt mit 32.Txb7! (Idee: 32…Txd5? 33.Sf4) dem Gewinn und dem 9:9-Ausgleich einen großen Schritt näher zu kommen, zog Tschigorin … 32.Lb4?? … und soll sich nach … 32…Txh2+ … an die Stirn gefasst haben. Das Matt nach 33.Kg1 Tdg2 hatte er völlig außer Acht gelassen. Er gab auf. 0:1.
Tragödien und Niederlagen
Steinitz hatte es wieder einmal geschafft, er blieb Weltmeister. Trotz Hitze, trotz Rückstands, trotz seines Alters. Und trotz schwieriger Lebensumstände: Im Jahr 1888 war seine Tochter verstorben. Vor dem Wettkampf gegen Tschigorin musste Steinitz sein verlustträchtiges International Chess Magazine einstellen. Und nach dem Wettkampf, im Mai 1892, starb auch seine Frau, an Hepatitis.
Steinitz heiratete bald darauf zum zweiten Mal, die 28 Jahre jüngere Elisabeth, mit der er noch zwei Kinder zeugte. Doch er hatte schon so viel erforscht, so viel erreicht und so viel erlitten, dass er im Jahr 1894 seinem jungen Herausforderer Emanuel Lasker offenbar nicht mehr gewachsen war. Der 5:10-Niederlage folgte 1896 im Revanchekampf in Moskau ein noch schmerzlicheres 2:10. Dies verschlechterte sein seelisches Befinden derart, dass er kurz danach in Moskaus psychiatrische Anstalt eingeliefert wurde, wo er einen Monat lang blieb, offenbar gegen seinen Willen.
Steinitz litt in seinen letzten Jahren unter Depressionen, seine geistige Verwirrung nahm mitunter groteske Formen an. Er bildete sich ein, ohne Telefon telefonieren zu können. Er behauptete, mit elektrischen Wellen, die sein Gehirn ausstrahle, Kontakt zu anderen aufzunehmen. Auch zu Gott, den er zu einer Partie Schach herausfordern und dem er dabei einen Bauern sowie einen Zug vorgeben wollte. An einen Wiener Freund schrieb er aus der Heilanstalt: „Wie alle Narren bin ich davon überzeugt, dass die Ärzte verdrehter sind als ich.“ Am 12. August 1900 starb Wilhelm Steinitz.
En passant
Ein Juwel
In seiner vielleicht berühmtesten Partie, die Steinitz im Alter von 59 Jahren gegen Curt von Bardeleben gewann, spiegeln sich neben der brillanten Kombination beiläufig auch Motive der Steinitz’schen Lehre wider:
Steinitz – von Bardeleben
Hastings 1895
Italienisch
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.c3 Sf6 5.d4 exd4 6.cxd4 Lb4+ 7.Sc3 d5? 8.exd5 Sxd5 9.0-0 Le6 10.Lg5 Le7 11.Lxd5 Lxd5 12.Sxd5 Dxd5 13.Lxe7 Sxe7 14.Te1 f6 15.De2 Dd7 16.Tac1 c6
Wäre hier Schwarz am Zug, hätte er kaum Grund zu klagen; nach …Kf7 nebst …Sd5 würde der Springer das Feld d5 vor dem Isolani kontrollieren, dabei handelt es sich, wie man seit Steinitz weiß, prinzipiell um ein „schwaches Feld“. Es ist allerdings Weiß am Zug, was das Stellungsurteil erheblich verändert. Und auch hier ist es hilfreich, an Steinitz’ Grundsätze zu erinnern: Weiß hat im Gegensatz zu Schwarz seine Entwicklung vollendet, alle auf dem Brett verbliebenen Figuren sind im Spiel. Der schwarze König steht hingegen noch in der Mitte, außerdem ist das Feld e6 im schwarzen Lager bereits geschwächt. Reichen diese positionellen Vorteile schon aus, um einen Angriff zu rechtfertigen? 17.d5! Ja, Steinitz öffnet im rechten Augenblick eine weitere Angriffslinie. 17…cxd5 Zäher wäre vielleicht 17…Kf7 18.dxc6 gewesen; Weiß bliebe aber ebenfalls klar im Vorteil, z.B. 18…bxc6 19.Sd4 oder 19.Ted1 De6 20.Dxe6+ Kxe6 21.Sd4+ Kf7 22.Sxc6. 18.Sd4 Die Pointe. Während die Fesselung in der e-Linie bestehen bleibt, peilt der Springer das „Loch“ auf e6 an. 18…Kf7 19.Se6 Nun soll der bereit stehende Turm auf c7 eindringen. 19…Thc8?! Danach kommt es zu einem furiosen Finale, das Geschichte machen wird. Die Alternative 19…Tac8? sah aus schwarzer Sicht nicht erfreulicher aus, wegen 20.Dg4 g6 21.Sg5+ Ke8 22.Txc8+ und gewinnt. Etwas hartnäckiger war 19…Sc6!? 20.Sc5 Dd6 21.Sxb7 Dd7 22.Sc5 Dd6, allerdings stünde Weiß auch in diesem Fall klar besser: 23.Dh5+ g6 24.Dh3. 20.Dg4! g6 21.Sg5+ Ke8 Dies ist erzwungen, schließlich musste die Dame geschützt werden. Doch nun holt Steinitz zu einem gewaltigen Schlag aus: 22.Txe7+!
22…Kf8! Huch! Was nun? Plötzlich droht Matt auf dem Feld c1, und zugleich hängt die Dame auf g4. Schwächer wären sowohl 22…Dxe7 23.Txc8+ Txc8 24.Dxc8+ gewesen als auch 22…Kxe7 23.Te1+ Kd6 24.Db4+ Tc5 (oder 24…Kc7 25.Se6+ Kb8 26.Df4+ Tc7 27.Sxc7 Dxc7 28.Te8 matt) 25.Te6+ und gewinnt. 23.Tf7+! Aber nicht 23.Dxd7?? Txc1+. Ungenau wäre 23.Txc8+? – weshalb, wird in der letzten Anmerkung deutlich. 23…Kg8! Schlicht gewänne Weiß im Fall von 23…Dxf7 24.Txc8+ Txc8 25.Dxc8+ De8 26.Sxh7+. 24.Tg7+! Der verrückte Turm will den König unbedingt auf die siebte Reihe locken, damit die Dame d7 mit Schachgebot fällt, aber … 24…Kh8 Oder 24…Kf8? 25.Sxh7+ Kxg7 26.Dxd7+ und gewinnt. 25.Txh7+! Nach diesem Zug verließ von Bardeleben wortlos den Turniersaal. Statt aufzugeben, ließ er unfair die Bedenkzeit ablaufen. Seine Stellung war verloren: 25…Kg8 26.Tg7+! Kh8 (oder 26…Kf8 27.Sh7+!) 27.Dh4+! Kxg7 28.Dh7+ Kf8 29.Dh8+! Ke7 30.Dg7+ Ke8 (Oder 30…Kd6 31.Dxf6+ nebst Matt. Hier wird klar, wie klug es war, die Türme im 23. Zug auf dem Brett zu lassen.) 31.Dg8+ Ke7 32.Df7+ Kd8 33.Df8+ De8 34.Sf7+ Kd7 35.Dd6 matt. 1:0.
Emanuel Lasker
Kosmopolit und
Rekordweltmeister
Emanuel Lasker war bereits ein Jahr lang Schachweltmeister, als er anno 1895 sein erstes Buch veröffentlichte. Es trug den Titel Common Sense in Chess (dt. Titel: Gesunder Menschenverstand im Schach). Der deutsche Weltmeister hatte darin anhand praktischer Beispiele einige allgemeine, teilweise neuartige Grundsätze des Schachs formuliert. Laskers Thesen wurden zu jener Zeit aber noch ebenso skeptisch beäugt wie die Frage, ob er wirklich der weltbeste Spieler sei. Er war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst 26 Jahre alt. Doch Emanuel Lasker sollte – was sich damals gewiss niemand vorzustellen vermochte – den WMTitel weitere 26 Jahre behalten. Anders ausgedrückt: Insgesamt währte seine Herrschaft auf den 64 Feldern von 1894 bis 1921. Ein Rekord für die Ewigkeit.
Emanuel Lasker, 1895
Rückblickend betrachtete Lasker seinen Common Sense als einen „Protest gegen den herrschenden Schachstil jener Zeit, der tiefsinnig sein wollte, aber nur gekünstelt, geschraubt und verschroben war“. Lasker war ein Pragmatiker. Für ihn war Schach vor allem Kampf. Er suchte nicht in jedem Fall nach dem objektiv stärksten Zug, mitunter reichte es ihm, einen für den Gegner unangenehmen Zug gefunden zu haben. Damit stand er in Opposition zu manchem Zeitgenossen, insbesondere zu seinem Landsmann Dr. Siegbert Tarrasch, der als Rivale am Brett einmal auch menschlich zu ihm auf Distanz ging: „Ihnen, Herr Lasker, habe ich nur drei Worte zu sagen: Schach und Matt.“
Von Berlinchen nach Berlin
Laskers beeindruckendes Leben begann im verschlafenen pommerschen Berlinchen