Genies in Schwarzweiß. Martin Breutigam

Genies in Schwarzweiß - Martin Breutigam


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früh. Der Lasker-Biograf Jacques Hannak hat berichtet, wie schon der fünfjährige Emanuel seinen Mathelehrer verblüffte, indem er mühelos und blitzschnell Aufgaben „wie 7 mal 53 oder 18 mal 96“ gelöst habe.

      Mit elf Jahren schickte ihn sein Vater, ein jüdischer Kantor, ins große Berlin zu Emanuels acht Jahre älterem Bruder Berthold, der als Medizinstudent in der Familie eines Schneiders untergekommen war. In Berlin lebte auch der bekannte Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker, ein Onkel der beiden Brüder. Für Emanuel folgten prägende Jahre mit materiellen Entbehrungen und einigen Schul- und Wohnungswechseln.

      Das Schachspielen lernte Lasker als Zwölfjähriger von seinem Bruder, der bereits ein starker Spieler und offenbar auch ein Vorbild war. Um sich in die Materie zu vertiefen, blieb Emanuel mit 14 ein Jahr lang der Schule fern. Bereits in dieser Zeit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit Schach: Oft spielte er bis spätabends in den Tee- und Spielsalons der Stadt. Eigentlich habe Lasker schon frühzeitig ein Leben als Mathematiker und Philosoph im Sinn gehabt, weniger eines als Schachspieler, behauptet Hannak. Schachspielen habe er damals müssen, um sich etwas zu essen kaufen zu können. „Nicht aus Leidenschaft kam er zum Schach, sondern aus Not.“

      Emanuels Lebenswandel missfiel dem Vater. Er holte seinen 16-jährigen Sohn aus Berlin heraus und schickte ihn aufs Realgymnasium in Landsberg an der Warthe (heute Gorzów Wielkopolski/Polen), unweit Emanuels Geburtsstadt Berlinchen gelegen. Mit 19 bestand er sein Abitur. Emanuels Schachleidenschaft erlosch in Landsberg aber keineswegs.

      Von seinem 21. Lebensjahr an stellten sich erste beachtliche Erfolge ein: Lasker gewann in Breslau 1889 das Hauptturnier und wurde „Meister des Deutschen Schachbundes“. Im gleichen Jahr schlug er Jacques Mieses in einem Wettkampf mit 8,5:3,5 Punkten. Im Jahr 1892 – Lasker lebte inzwischen in London, wo es für Schachspieler viel bessere Verdienstmöglichkeiten gab – gewann er auch einen Wettkampf gegen den britischen Altmeister Henry Edward Bird mit 8:2 Punkten. Der Nürnberger Arzt Siegbert Tarrasch, der damals als chancenreicher WM-Anwärter galt, lehnte hingegen Laskers Vorschlag, einen Wettkampf zu spielen, mit dem Hinweis ab, sein junger Landsmann solle erst einmal ein bedeutendes Turnier gewinnen.

      Anders als in Deutschland würdigte man Laskers frühe Erfolge im Ausland. In The Field schrieb Steinitz’ Erzfeind Leopold Hoffer: „Ein aufgehender Stern aus Berlin zeigt beachtliches Talent. Es sieht danach aus, dass er der kommende Meister wird.“

      Lasker nahm in der Folge Einladungen nach New York und Havanna an, wo er in kleineren Turnieren und Matches imposante Erfolge erzielte und verschiedene Simultanvorstellungen gab. Im Sommer 1893 forderte er scheinbar kühn Weltmeister Steinitz heraus. Im Frühjahr 1894 sollte es schließlich zu dem Duell kommen, beide hatten jeweils 2.250 Dollar Einsatz aufgetrieben.

       „Dreimal Hurra!“

      Gespielt wurde in New York, Philadelphia und Montreal. Steinitz galt als Favorit, gleichwohl er seinen Leistungszenit sicherlich überschritten hatte. Zunächst gestaltete sich der Wettkampf ausgeglichen, bis Lasker beim Stand von 3:3 unentschieden fünf Partien in Folge gewinnen konnte. Am Ende siegte er mit 10:5 Punkten und war neuer Weltmeister. Lasker schrieb später: „Als Steinitz die letzte Partie seines Matches gegen mich verloren sah, erhob er sich und rief: ‚Dreimal Hurra für den neuen Weltmeister!' Diese Worte haben mich gerührt.“

      Ob er aber tatsächlich der beste Spieler der Welt war, sollte er vielen Zeitgenossen erst noch beweisen. Beim äußerst stark besetzten Turnier in Hastings 1895 bekam er erstmals Gelegenheit dazu. An der Tabellenspitze liegend, baute er am Ende des 21-rundigen Turniers etwas ab, kassierte zwei Niederlagen und musste sich mit dem dritten Platz begnügen, einen Punkt hinter dem amerikanischen Überraschungssieger Harry Nelson Pillsbury und einen halben hinter Tschigorin, aber vor Tarrasch und Steinitz.

      Schon zur Jahreswende 1895/96 folgte das nächste Topturnier. In St. Petersburg versammelten sich vier der fünf weltbesten Spieler: Lasker, Pillsbury, Tschigorin und Steinitz (Tarrasch hatte aus beruflichen Gründen abgesagt). Sechsmal jeder gegen jeden. Zur Halbzeit lag wiederum Pillsbury vorn, allein gegen Weltmeister Lasker hatte er 2,5 Punkte aus drei Partien geholt. Dann folgt das spektakuläre vierte Duell der beiden:

       Pillsbury – Lasker

      Sankt Petersburg 1895/96

       Damengambit

       1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Sf3 c5 5.Lg5 cxd4 6.Dxd4 Sc6 7.Dh4 Le7 8.0-0-0 Da5 9.e3 Ld7 10.Kb1 h6 11.cxd5 exd5 12.Sd4 0-0 13.Lxf6 Lxf6 14.Dh5 Sxd4 15.exd4 Le6 16.f4 Tac8 17.f5 Txc3 18.fxe6 Ta3! 19.exf7+ Txf7 20.bxa3 Db6+ 21.Lb5 Dxb5+ 22.Ka1 Tc7 23.Td2 Tc4 24.Thd1 Tc3 25.Df5 Dc4 26.Kb2

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      Nach einem faszinierenden, wenngleich nicht ganz fehlerfreien Kampf steht die Partie vor dem Kulminationspunkt. Lasker hat bereits acht Züge zuvor spektakulär einen Turm auf dem Feld a3 geopfert, nun folgt ein erstaunliches Déjà-vu-Opfer: 26…Txa3! 27.De6+ Kh7?! Garri Kasparow machte darauf aufmerksam, dass nur 27…Kh8! zum Sieg hätte führen dürfen, z.B. 28.Kb1 Lxd4 29.De8+ Kh7 30.De2 Db4+ 31.Tb2 Lxb2. 28.Kxa3? Hier hielt 28.Df5+! womöglich das Gleichgewicht, z.B. 28…Kh8 29.Kb1! Txa2! (nicht 29…Lxd4?? 30.Df8+ Kh7 31.Dxa3) 30.Txa2 Db3+ 31.Kc1 Lg5+ 32.Tad2 Dc3+ 33.Dc2 Da1+ 34.Db1 Dc3+. Nach dieser vergebenen Rettungschance endet die Partie allerdings in einem würdigen Finale. 28…Dc3+ 29.Ka4 b5+! 30.Kxb5 Dc4+ 31.Ka5 Ld8+ 32.Db6 Lxb6 matt. 0:1.

      Nach dieser Schlüsselpartie wendete sich das Blatt. Lasker übernahm bald die Tabellenführung, während Pillsbury in der zweiten Turnierhälfte einbrach. Er soll sich, so steht es in einem fast ein Jahrhundert später erschienenen Turnierbuch, während des Turniers in St. Petersburg mit Syphilis angesteckt haben – jener Krankheit, der Pillsbury zehn Jahre später erlag. Am Ende siegte Lasker mit zwei Punkten Vorsprung vor Steinitz.

       Gewaltige Kampfkraft

      Auch das Turnier in Nürnberg 1896 gewann Lasker, so dass er zwei Jahre nach seinem Titelgewinn auch die letzten Zweifler davon überzeugte, wer der weltbeste Spieler war. Schon hier kamen Laskers Stärken, die in den nächsten Jahrzehnten den Unterschied zu seinen Konkurrenten ausmachen sollten, zum Vorschein: Er war in allen Partiephasen hellwach, so dass er sich selbst aus strategisch misslichen Lagen oftmals befreien konnte, mit gewaltiger Kampfkraft, Originalität und taktischem Geschick.

      Ende 1896 ließ er Steinitz beim Revanchekampf in Moskau keine Chance: Lasker gewann 10:2. Vier weitere Male sollte er seinen Titel im kommenden Vierteljahrhundert erfolgreich verteidigen. Bis zum nächsten Titelkampf verstrich indes mehr als eine Dekade. Es gab ja noch keinen Weltverband, somit waren die als WM-Anwärter in Frage kommenden Gegner auch auf die Bereitschaft des Weltmeisters angewiesen.

       Mathematiker und Philosoph

      Lasker machte in jener Zeit erstmals eine längere Turnierpause und kümmerte sich um sein Mathematikstudium. Er spielte aber sowohl in den USA als auch in Europa Simultan und gewann auch noch die bedeutenden Turniere in London 1899 und Paris 1900 mit großem Vorsprung. Ebenfalls 1900 promovierte er im Fach Mathematik zum Dr. phil. In der Folge bemühte er sich intensiv um eine Professur, zeitweise lehrte er auch an englischen und amerikanischen Universitäten Mathematik, ohne irgendwo dauerhaft Fuß fassen zu können. Im Jahr 1905 – Lasker lebte mittlerweile in New York – veröffentlichte er Zur Theorie der Moduln und Ideale.

      Doch schon seit geraumer Zeit hatte er sich wieder vermehrt auf andere Dinge konzentriert, auf die Philosophie und aufs Schach. In Cambridge Springs teilte er sich 1904 den zweiten Platz mit David Janowski, hinter Frank Marshall. Diesen beiden sollte er ein paar Jahre später auch WM-Herausforderungen gewähren. Zehn lange Jahre hatte es überhaupt keinen WM-Kampf gegeben, nun folgten sie Schlag auf Schlag. Doch zunächst wurde ihm niemand gefährlich: Lasker schlug 1907 Marshall in den USA mit 8:0 Punkten (die sieben Remisen nicht mitgezählt). Als Nächster hatte endlich auch Dr. Siegbert Tarrasch seinen Landsmann herausfordern dürfen: Bis zu 2.000 Zuschauer verfolgten im Spätsommer 1908 die Partien in Düsseldorf und München. Lasker ging nach fünf Partien mit 4:1 Punkten in Führung und ließ sich den


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