Genies in Schwarzweiß. Martin Breutigam

Genies in Schwarzweiß - Martin Breutigam


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gewonnen. Die Frage, ob Lasker an einem anderen Ort besser ausgesehen hätte, ist durchaus berechtigt.

      Die Karriere mochte sich dem Ende zuneigen, sein vielleicht größtes Turnierresultat stand jedoch noch bevor. Beim Weltklasseturnier in New York 1924 ließ der fast 56-Jährige noch einmal alle hinter sich. Lasker gewann mit formidablen 16 Punkten aus 20 Partien, vor Weltmeister Capablanca (14,5) und Alexander Aljechin (12). Auch in Moskau 1925 landet Lasker als Zweiter (hinter dem Sieger Efim Bogoljubow) vor Capablanca. Er war nicht nur 27 Jahre lang Weltmeister gewesen, sondern auch drei Jahrzehnte lang der weltbeste Turnierspieler.

      Danach zog sich Lasker für längere Zeit vom Turnierschach zurück. In seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf und in seinem Sommerhaus in Thyrow bei Berlin fand er nun Zeit für seine anderen Leidenschaften, etwa für die Spiele Go und Bridge. Lasker erfand auch ein eigenes Spiel, das er Lasca nannte. Und er publizierte weiterhin: Mitte der 1920er Jahre waren Gesunder Menschenverstand im Schach, die deutsche Ausgabe von Common Sense in Chess, sowie Vom Menschen die Geschichte erschienen, ein zusammen mit seinem Bruder Berthold verfasstes Drama. Das Lehrbuch des Schachspiels kam 1926 heraus. Welch pralles Leben! Lasker der Weltmeister. Lasker der Mathematiker, der Philosoph, der Schriftsteller, der Dramatiker.

      In Wilmersdorf wohnte Lasker in der Aschaffenburger Straße 6a, zweiter Stock. Wer heute seinen Spuren folgt, bekommt eine Ahnung davon, welch vielfältiges kulturelles Leben aus Berlin verschwand. Bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen, lag hier ein Kiez des Geistes; nur eine Straße weiter wohnte Albert Einstein. Und 20 Fußminuten entfernt befand sich das Romanische Café, dort war Lasker Stammgast, ebenso Bertolt Brecht, Otto Dix, Erich Kästner und viele andere, auch jüdische Künstler und Intellektuelle. Am Ort des Romanischen Cafés steht heute das Europa-Center. Auch das Haus in der Aschaffenburger Straße 6a wurde im Krieg zerstört.

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      Emanuel Lasker im Alter von 60 Jahren

      Als die Nazis die Macht übernahmen, sahen Lasker und seine Frau Martha für sich in Deutschland keine Zukunft mehr. Sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Harte Jahre der Emigration standen bevor. Zunächst flohen sie in die Niederlande. Ein Jahr danach zogen sie weiter nach London und später nach Moskau. Der materiellen Not gehorchend, nahm Lasker wieder an Turnieren teil – mit erstaunlichen Erfolgen wie etwa beim großen Turnier in Moskau 1935: Im Alter von 66 Jahren wurde er Dritter, hinter Salo Flohr und Michail Botwinnik, aber vor Capablanca. Schließlich kehrte Lasker auch der Sowjetunion den Rücken und ließ sich von 1938 an wieder in New York nieder, wo er am 11. Januar 1941 in ärmlichen Verhältnissen starb. Seine letzten Worte waren laut Martha Bamberger: „König des Schachs.“

      José Raoul Capablanca

      Ein Gentleman aus Havanna

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      Wie Capablanca auftrat, spielte er auch: erhaben, selbstbewusst, intuitiv und mit einer unverwechselbaren Klarheit.

      Der sowjetische Stummfilm Schachfieber, gedreht während des legendären Turniers in Moskau 1925, gibt einen tragikomischen Einblick in die Leiden einer Frau, die sich auf einen Schachverrückten eingelassen hat: Ihr angehender Ehemann, dessen Innenleben sich von seiner Socke bis zum Teppich in einer schwarzweiß karierten Außenwelt widerspiegelt, ist offenbar so sehr mit einem komplizierten Schachproblem beschäftigt, dass er die wartende Hochzeitsgesellschaft vergisst. Aus der Trauung wird natürlich nichts, weswegen die verzweifelte Braut untröstlich und aufs Schach nicht gut zu sprechen ist. Ausgerechnet in diesem Augenblick läuft ihr ein gutaussehender Gentleman über den Weg, der die Unglückliche schließlich wieder zum Lachen bringt und sie sogar – an dieser Stelle vermischt sich der Film mit der Wirklichkeit – zu einem Besuch des großen Schachturniers überreden kann.

      Den besagten Gentleman spielte José Raoul Capablanca, der dritte Weltmeister der Schachgeschichte. Er mimte im Grunde sich selbst. Denn einerseits wurde Capablanca für seine vornehmen Manieren gerühmt, andererseits sorgte die allseits beträchtliche Zahl seiner Anhängerinnen für Aufsehen. Und wie er auftrat, spielte er auch Schach: erhaben, selbstbewusst, intuitiv und mit einer unverwechselbaren Klarheit. Lediglich 35 Niederlagen musste Capablanca in seiner gesamten Karriere hinnehmen, in seiner stärksten Zeit, zwischen 1916 und 1924, verlor er keine Turnierpartie. „Was andere in einem Monat nicht entdeckten, sah er auf den ersten Blick“, sagte der amerikanische Großmeister Reuben Fine.

       Mit vier den Vater besiegt

      Dieses außergewöhnliche Talent war früh sichtbar geworden. Capablanca wuchs in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Mit vier Jahren erlernte er die Schachgrundlagen, indem er seinem Vater beim Spielen zusah. Noch im gleichen Alter soll er ihn erstmals besiegt haben. Es war das Jahr 1892, damals spielten Steinitz und Tschigorin in Havanna um die Weltmeisterschaft, ein Ereignis, das ihn geprägt habe, erklärte Capablanca später.

      Bald verkehrte auch der junge José Raoul in Havannas noblem Schachklub. Frühe Bilder zeigen ihn bereits damals als einen äußerst gepflegt gekleideten Jungen in der für ihn typischen eleganten Denkerpose. Schon mit zwölf schlug er Juan Corzo, den stärksten kubanischen Spieler. Capablanca war erst 16, als er in die USA zog, um bald darauf an der Columbia University in New York City Chemietechnik zu studieren. Doch ähnlich wie der junge Steinitz strebte Capablanca lieber eine Karriere als Schachprofi an. Er machte schnell Fortschritte, verkehrte im ehrwürdigen Manhattan Chess Club und gewann souverän einige kleinere Turniere. Im Jahr 1909 kam es zu einem Duell mit dem amerikanischen Landesmeister Frank Marshall, der immerhin noch zwei Jahre zuvor gegen Lasker um die Weltmeisterschaft gespielt hatte. Entsprechendes Erstaunen rief das Ergebnis hervor: Capablanca fertigte Marshall mit 8:1 Siegen ab (bei 14 Remisen).

      Danach setzte sich der Siegeszug des jungen Kubaners auf europäischer Bühne fort. Obwohl für das Turnier in San Sebastián 1911 nur Spieler zugelassen waren, die mindestens einen dritten Platz bei vergangenen Topturnieren vorweisen konnten, durfte Capablanca dank seines Sieges über Marshall teilnehmen. Zum Missfallen einiger Meister. „Einer von ihnen war Dr. Bernstein. Ich hatte das Glück, gegen ihn in der ersten Runde zu spielen“, schrieb Capablanca in My Chess Career. Er schlug Bernstein, erhielt für die Partie obendrein einen Schönheitspreis und sollte am Ende auch das Turnier gewinnen, vor dem Favoriten Akiba Rubinstein und Milan Vidmar.

       Endloses Warten auf den Titelkampf

      Es war bezeichnend für sein Selbstbewusstsein, dass er sich nach seinem ersten großen Turniererfolg stark genug fühlte, Weltmeister Emanuel Lasker herauszufordern. Dieser signalisierte Bereitschaft, stellte jedoch 17 Bedingungen: Unter anderem sollte der Herausforderer 10.000 US-Dollar auftreiben, was Capablanca, der sich auf seine Gönner in Havanna verlassen konnte, noch akzeptabel fand. Der Wettkampf sollte ferner auf 30 Partien angesetzt werden und Lasker im Fall eines Unentschiedens seinen Titel behalten. Auch das wäre für Capablanca in Ordnung gewesen. Doch eine Forderung lehnte er kategorisch ab, dass nämlich der Wettkampf auch dann unentschieden gewertet werden sollte, wenn einer von beiden nach 30 Partien mit einem Punkt Vorsprung führte. Anders ausgedrückt: Capablanca hätte zwei Punkte Vorsprung benötigt, um Weltmeister zu werden. Es entwickelte sich zwischen den beiden ein teilweise scharfer Briefwechsel, in dessen Verlauf Lasker Capablanca aufforderte, sich für die Worte „offensichtlich unfair“ zu entschuldigen.

      Sie einigten sich nicht. (Derweil drängte sich Rubinstein, der im Jahr 1912 eine Serie von Turniererfolgen erzielt hatte, als Herausforderer auf.) Beim Turnier in St. Petersburg 1914 trafen Lasker und Capablanca aufeinander: Der Kubaner, in Führung liegend, unterlag dem Weltmeister und wurde von diesem schließlich auf den zweiten Platz verwiesen. Im Anschluss versöhnten sie sich miteinander. Bald darauf brach der Erste Weltkrieg aus, an einen WM-Kampf war vorerst nicht zu denken.

      Capablanca kehrte nach Amerika zurück. Im Jahr 1913 hatte er vom kubanischen Außenministerium pro forma den Status eines Diplomaten erhalten, was ihm eine großzügige finanzielle Absicherung verschaffte. Er konnte sich in Ruhe aufs Schachspielen konzentrieren.

      


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