Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler
das brieflich Mitgeteilte „in einer natürlich entsprechend entschärften Form“ in der Welt publizieren zu lassen: „Sie wären damit aus der Verlegenheit genommen, selbst das Wort ergreifen zu müssen und die Richtigstellung in Ihrer Art wäre erfolgt.“49 Es handle sich, so Martini am 24. Februar 1961, „um eine Hilfe Ihnen gegenüber“.50
Die Jahre 1960 und 1961 waren nicht nur ein Höhepunkt der Pressekampagne gegen Celan, sondern auch eine Periode von offenem Antisemitismus mit Hakenkreuzschmierereien auf Synagogenwänden und Grabsteinen, mit Morddrohungen in Briefkästen oder eingeschlagenen Fensterscheiben in ‚jüdischen‘51 Geschäften und Verlagen. Celan hat zurecht immer wieder auf den Zusammenhang zwischen der bereitwilligen Aufnahme von Claire Golls Plagiat-Thesen in der westdeutschen Presse und diesem Kontext hingewiesen. Schon im Rundbrief ist Derartiges sichtbar – erschreckend deutlich wird der Zusammenhang durch ein ungefähr gleichzeitiges Dokument, eine Darstellung des Lyrikers Richard Exner durch Claire Goll, wohl für eine Publikation seiner Gedichte in Hans Benders Zeitschrift Konturen: Exner wird geradezu als ‚arisches‘ Gegenmodell zum hier nicht genannten ‚Juden‘ Celan stilisiert. Während im Rundbrief in Bezug auf diesen von Unnatürlichkeit, „Tarnung“, „gespielte[r] Ergebenheit“, und „geschickt assimilierte[r] Verwertung“ die Rede ist,52 heißt es zu Exner: „Hier war nicht gesuchte Künstlichkeit, sondern gemusste, gefühlte Kunst. Aus diesen Zeilen tönte ein eigener Klang“, der Autor sei nicht der „moderne Poet“, der es vorziehe „zu zersetzen und zu zerstören anstatt aufzubauen“, vielmehr „ein hoher blonder Mensch“ – in einem Entwurf statt „Mensch“: „Germane“! –, ein in Deutschland geborener ehemaliger Hitlerjunge.53
Das ist kein öffentliches Dokument, der Artikel im Baubudenpoet aber ist dies. Dort beschreibt Claire Goll nicht nur, wie schon im Rundbrief von 1953, Celan als einen eitlen, ehrgeizigen aber unkreativen, geldgierigen, seine Zuneigung nur vortäuschenden Erbschleicher – schon das sind antisemitische Klischees –, zusätzlich aber als jemanden, der sein Schicksal als Überlebender der Shoah nur vortäuscht: „Seine traurige Legende, die er so tragisch zu schildern wusste, hatte uns erschüttert: die Eltern von den Nazis getötet“.54
Die antisemitischen Nuancen der Affäre sind keine erst am Bregenzer Material zu gewinnende Erkenntnis, neu aber ist, in welchem Maße von Celans Korrespondenzpartnern die Wahrnehmung der antisemitischen Komponente verweigert wurde, nicht nur von Fritz Martini, von dessen SA-Vergangenheit Celan wusste, sondern auch von solchen, die, wie Rudolf Hirsch, selbst als ‚Juden‘ betroffen waren.
Celan erhielt die beiden in Bregenz archivierten ausführlichen Briefe Exners an Hirsch durch den Empfänger, nicht aber dessen im Bregenzer Archiv neu zugängliche Antwortbriefe. Aus ihnen hätte Celan ersehen können, welche Anliegen Vorrang haben. Der Verleger schickt den Rundbrief von 1953 und den Artikel im Baubudenpoet am 15. August 1960 ja nicht deshalb an Exner, um diesen auf die antisemitische Komponente von Claire Golls Argumentation aufmerksam zu machen, sondern weil Exner „direkt oder indirekt, als Kronzeuge erwähnt“ sei.55 Vielleicht verschweigt Hirsch bewusst, was er selbst durchaus wahrzunehmen in der Lage ist. Denn es ist nicht einfach, der Öffentlichkeit zu erklären, warum Derartiges gerade von einer Überlebenden der Shoah ausgeht: Auch das Verschweigen der eigenen Jüdischkeit, verbunden mit jüdischem Selbsthass, kann freilich eine Strategie des Überlebens sein. Die Frage, warum Claire Goll damit 1960 in Westdeutschland so erfolgreich ist, wäre trotzdem zu stellen gewesen.
Die Nichtbeachtung dieses Aspekts hat Konsequenzen für den Umgang aller Beteiligten mit Paul Celan. ‚Weiß‘ man doch, Überlebende der Shoah sind überempfindlich, sehen überall Antisemitismus. Jemand wie Celan musste also geschont werden; auch Hirsch, der zunächst vertrauensvoll um Rat gebetene Verleger, ist nicht offen zu ihm. Die Gegenbriefe zeigen, wie wenig Celan als Person ernst genommen wird,56 obwohl seine durchaus belegbare und Hirsch bekannte These, das Claire Golls Nachlass-Publikationen zugrundeliegende Material sei samt den von ihr verbreiteten Daten postum bearbeitet, von Exner ja hätte bestätigt werden können. Für den Verlag, wenn auch eher für die Deutsche Verlags-Anstalt, Verlag von Mohn und Gedächtnis, als den S. Fischer Verlag, wäre ein tatsächlicher Plagiatsfall unter Umständen Verpflichtung zu juristischem Handeln gewesen; einen Prozess wegen persönlicher Verleumdung aber musste Celan allein führen – und der um seine Meinung gebetete Anwalt des Verlags konnte ihm getrost davon abraten.57 Celan konnte als Fall von Verfolgungswahn abgetan werden. Einfacher als Celans Hinweisen ernsthaft nachzugehen und die politische Dimension wahrzunehmen, die die willfährige Verbreitung von Claire Golls Formulierungen in der westdeutschen Presse hatte, schien es für alle Beteiligten offenbar, Exner zu rehabilitieren und die ganze Affäre als persönlichen Konflikt einzustufen: Darüber wüssten sowieso nur die beiden Beteiligten, Claire Goll und Celan, Bescheid,58 beide zerbrächen sie offenbar daran. Damit wird also im Grunde dem Bedrängten selbst mangelnde Offenheit unterstellt. „Wo man hinschaut Unheil, unheilbares Unheil“, schreibt Hirsch am 15. August 1961 an Exner und stellt Paul Celan und Claire Goll in der Sache auf eine Stufe: „Celan zerrüttet, C.G. zerrüttet, die ganze Welt ein Hospital.“59 Celans Misstrauen gegenüber Martini und Hirsch war kein Zeichen einer krankhaften Überempfindlichkeit, sondern berechtigt, das bestätigen die neu zugänglichen Briefe nicht zum ersten Mal, aber doch sehr eindrücklich. Das Material aus Exners Besitz im Franz-Michael-Felder-Archiv ermöglicht also nicht nur neue Erkenntnisse zu einer literaturgeschichtlichen Affäre, sondern dokumentiert darüber hinaus – und zwar als Gesamtkonvolut – den Umgang mit der deutschen Vergangenheit in der Zeit zwischen den frühen 1950er und den frühen 1960er Jahren, mit ihren selbstentlastenden Mechanismen, der eigenen Verständnislosigkeit und den Schuldzuweisungen gegenüber den ‚Überempfindlichen‘. Dass daran ‚Juden‘ und ‚Nichtjuden‘, Menschen aus Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und den USA gleichermaßen beteiligt sind, macht den Wert des Bestandes auch für andere Forschungsbereiche gerade aus.
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1 Richard Exner an Robert Warnebold, 22.5.1981 (Datierung nach Poststempel, Typoskript, Nachlass Robert Warnebold, Franz-Michael-Felder-Archiv, N 46/2 : Exner : 04). Wir danken Annegret Stein für die Genehmigung der Zitate von Richard Exner. Weitere Rechteinhaberinnen haben auf Anfrage einer Publikation nicht widersprochen oder waren nicht aufzufinden.
2 Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000.
3 Am 10.6.1981 schreibt Exner an Warnebold von „mir peinlichen Briefen Claires an mich“ (Typoskript, Nachlass Robert Warnebold, Franz-Michael-Felder-Archiv, N 46/2 : Exner : 04). Am 29.6.1981 betont er explizit, dass die geforderte Diskretion mit seinem Tod erlischt (Typoskript, Nachlass Robert Warnebold, Franz-Michael-Felder-Archiv, N 46/2 : Exner : 04).
4 Ivan Goll: Traumkraut. Gedichte aus dem Nachlaß. Wiesbaden: Limes Verlag 1951. Der Vorname Golls