Leo - Die Geschichte einer ungewöhnlichen Elfe. Eva Haring-Kappel
ein mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, das alles allein machen zu müssen.
Schließlich kam Großmutter mit Kuchen und Saft herein. Ich wurde langsam unruhig, weil ich mir Sorgen um Leo machte, die sicher schon ungeduldig auf uns wartete. Opa lieh uns seinen Handkarren, den wir mit Brettern und Werkzeug schwer beluden, und so machten wir uns am frühen Nachmittag wieder auf den Weg in den Wald.
Ich hatte sogar heimlich Kuchen in meiner Tasche verschwinden lassen. Leo würde sich freuen.
Als wir nach umständlicher Schiebe- und Schlepparbeit schließlich bei der Stelle, wo wir Leo zurückgelassen hatten, angekommen waren, war sie nicht da. Wir riefen ihren Namen und suchten die ganze Umgebung ab, aber sie blieb verschwunden.
„Vielleicht sind wir verrückt und haben uns das alles nur eingebildet“, seufzte ich, denn ich war sehr enttäuscht, nachdem wir uns das alles schon so schön ausgemalt hatten.
„Vielleicht macht sie nur einen Spaziergang und kommt bald wieder“, meinte Wendel, denn er und die anderen waren mindestens so traurig wie ich.
Lustlos luden wir die Bretter und das Werkzeug ab.
„Wir müssen erst einen geeigneten Baum suchen, wenn wir wirklich ein Baumhaus bauen wollen“, rief Georg.
So verbrachten wir die nächste halbe Stunde damit, die umliegenden Bäume auf ihre Baumhaustauglichkeit zu überprüfen. Schließlich entschieden wir uns für eine junge, kräftige Eiche. Sie entsprach in ihrem Wuchs der Beschreibung, die uns Opa gegeben hatte, und sie stand mit ihrem Stamm so nahe an dem felsigen Berghang, als würde sie sich an ihn lehnen. So konnte man die Bretter, die den Boden der Hütte bilden sollten, an den Steinen fixieren, sodass sie einen stabilen Untergrund hätten. Voll Eifer machten wir uns also ans Werk.
Ich bin recht geschickt im Umgang mit Werkzeug, denn Opa lässt mich immer in seiner Werkstatt hämmern, sägen und basteln, wenn ich dazu Lust habe. Georg und Wendel erwiesen sich als nicht sehr brauchbar, doch Benni überraschte uns alle. Nicht nur, dass er Opas Bauplan genau lesen konnte, was mir nicht so gut gelang. Er legte auch ein unwahrscheinliches Tempo beim Sägen und Hämmern vor und schlug vor, ein behelfsmäßiges Gerüst an die Eiche zu bauen, auf dem wir stehen konnten, um am Baumhaus zu arbeiten. Das war etwas, auf das wir anderen nie gekommen wären.
Als ich um halb fünf auf meine Armbanduhr schaute, weil uns die Bretter ausgegangen waren und ich wissen wollte, ob es sich noch lohnen würde, neue zu holen, war der Boden der Hütte bereits fertig und die vier Eckpfeiler standen auch schon. Wir waren sehr stolz und ich machte mich mit Benni auf den Weg, denn im Sommer ist es ja lange hell. Ich beschloss, zudem etwas zu essen mitzunehmen, denn den Kuchen, der eigentlich für Leo bestimmt gewesen war, hatten wir schon aufgegessen. Die Großeltern würden sich keine Sorgen machen und die anderen hatten mit ihren Handys zu Hause Bescheid gegeben.
Als wir nach einer Dreiviertelstunde wieder an der Stelle beim Bach angelangt waren, lag Georg mit seiner Mini-Spielkonsole unter einem Baum und bearbeitete die Tasten. Wendel saß daneben und sah zu, aber sein abwesender Blick sagte mir, dass er in Gedanken ganz woanders war. Von Leo gab es noch immer keine Spur. Ich stellte die große Kühltasche, die mir Oma gut gefüllt auf den Handwagen geladen hatte, unter einen Busch am Bachufer. Dann luden wir die Bretter ab und balancierten sie über die Steine auf die andere Seite. Wir beschlossen, noch ein bisschen weiterzubauen, obwohl wir schon sehr hungrig waren, doch die Arbeit am Baumhaus machte so viel Spaß.
Als es schon fast sieben war, hatten wir die Wände fertig mit Brettern zugenagelt. Es gab jeweils eine Aussparung für ein Fenster und für eine Tür.
Total müde und hungrig trotteten wir zu dem Platz unter dem Busch. Aber was war das? Die Kühltasche war weg. Wir starrten ungläubig auf die leere Stelle.
„Da wird doch das Huhn in der Pfanne verrückt!“, brüllte Georg und sauste wie ein geölter Blitz los.
Dann erkannten auch wir anderen die Schleifspur, die vom Busch weg in den Wald führte. Mein Verdacht bestätigte sich kurz darauf. Leo saß, mit den Resten unseres Abendessens beschäftigt, auf einem Baumstamm ganz in der Nähe.
Sie lächelte zufrieden und satt, als sie uns kommen sah. „Seid ihr schon fertig mit meinem Haus?“, fragte sie mit Unschuldsmiene.
„Du bist total unmöglich!“, schrie Georg, der wie immer sein aufbrausendes Temperament kaum zügeln konnte.
„Lass sie, sie versteht es nicht besser“, versuchte ich, ihn zu beruhigen, denn ich war froh, dass Leo überhaupt wieder aufgetaucht war. Auch Wendel und Benni freuten sich augenscheinlich, sie zu sehen, und ich wusste, es ging Georg nicht anders, er konnte es nur nicht zugeben. Stattdessen wühlte er aufgeregt in der Kühltasche herum und schimpfte vor sich hin.
„Wo bist du denn gewesen?“, fragte ich Leo neugierig.
Sie gähnte und kratzte sich am Kopf. „Ich war so müde und habe mir ein kühles Plätzchen im Moos gesucht, um zu schlafen. Als ich aufwachte, war ich furchtbar hungrig. Wie ihr wisst, kann ich ...“
„... unser Essen riechen“, beendeten wir ihren Satz im Chor.
Erst jetzt, wo die kleine, dicke, schmutzige Gestalt wieder vor uns stand, wurde mir klar, was sie uns bedeutete. Es war ein wirkliches Abenteuer, in das wir durch sie hineingeraten waren. Ein Abenteuer mit unbestimmtem Ausgang und jeder, dem wir jemals davon erzählen würden, wäre total beeindruckt. Es war richtig cool.
„Ach, Schwamm drüber, vergessen wir das Ganze“, sagte ich. „Wir können ja auch zu Hause noch etwas essen.“
„Ja, ihr schon, aber was wird aus mir?“, meldete sich Leo prompt, sie schob wieder ihre Unterlippe vor, was ihr ein sehr kindliches Aussehen verlieh. „Ihr geht nach Hause zu euren Eltern, bekommt eine schöne Mahlzeit, schlaft in euren schönen Betten, habt es gemütlich und warm, aber was wird aus mir? Ich bleibe hier zurück im dunklen Wald!“
Wir schauten uns betroffen an und mir war, als spielte ein zufriedenes Lächeln um ihren Mund, als sie unsere erschrockenen Gesichter bemerkte.
„Wir kommen morgen schon ganz früh und bringen ein richtig tolles Frühstück für dich mit!“, beeilte ich mich zu sagen.
„Einverstanden, aber bringt eine ordentliche Mahlzeit mit und nicht so winzige Portionen wie heute!“
„Das ist doch ...“, setzte Georg an, doch Wendel und Benni klopften ihm beschwichtigend auf den Arm und er verschluckte den Rest des Satzes.
Als wir wenig später auf dem Heimweg nebeneinanderher gingen, waren wir sehr schweigsam. Jeder war tief in seine Gedanken versunken. Nachdem wir auf den Hof meines Großvaters eingebogen waren, sah ich, dass Großmutter vor der Haustür stand und nach uns Ausschau hielt.
„Hallo“, rief sie uns schon von Weitem entgegen, „heute seid ihr aber spät dran!“ Es klang zwar kein bisschen vorwurfsvoll, dennoch wusste ich, dass sie sich Sorgen um uns gemacht hatte.
Die anderen verabschiedeten sich eilig. Georg schwang sich auf sein Rad, er hatte es am weitesten nach Hause.
Die Großmutter legte ihren Arm um meine Schulter und wieder einmal bemerkte ich, dass ich schon fast genauso groß war wie sie. „Na, wie war es, geht es voran mit eurer Hütte?“
„Ja. Das Baumhaus wird super, aber es ist sehr viel Arbeit und wir brauchen noch mehr Bretter und ganz viel Essen für morgen, Oma“, sprudelte ich heraus.
„Das lässt sich sicher machen“, lächelte sie, „aber jetzt gehst du dich erst einmal waschen und dann schlafen.“ Ich war viel zu müde, um zu widersprechen.
Als ich wenig später gemütlich in meinem Bett lag, musste ich an Leo denken. Das Fenster stand offen und die kühle Nachtluft streifte mein Gesicht. Fröstelnd zog ich die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Was machte sie wohl da draußen im Wald so alleine? Ob sie Angst hatte? Ob sie fror?
Ich sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und starrte angestrengt zum Wald hinüber. Aber es war