Leo - Die Geschichte einer ungewöhnlichen Elfe. Eva Haring-Kappel

Leo - Die Geschichte einer ungewöhnlichen Elfe - Eva Haring-Kappel


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Das passiert nur, wenn etwas lange irgendwo steht und dann von selber zuwächst. Wie ist das möglich, wenn ihr erst vorgestern mit dem Bauen angefangen habt?“

      Wir machten betretene Gesichter. „Was ist hier los? Wenn ihr mir jetzt nicht sofort sagt, was hier los ist, ruf ich Mama an!“ Anna fischte geschickt Wendels Handy aus seiner Hosentasche und fuchtelte damit drohend vor unseren Gesichtern herum.

      Bevor wir überhaupt reagieren konnten, hörten wir eine vertraute schrille Stimme von unten. „Das wird nicht nötig sein, ich habe das nämlich alles gemacht.“ Leo stand am Fuße der Leiter und schaute zu uns herauf.

      Wir erstarrten, bevor mehrere Dinge gleichzeitig passierten. Anna streckte den Kopf aus der Tür, um zu schauen, wer da mit uns redete, und sah Leo. Genauso wie Leo Anna sah. Instinktiv hielten wir uns die Ohren zu, denn in jedem Film und in jedem Buch hätten die beiden sofort losgeschrien, und zwar auf diese seltsame, durchdringende Art, in der Mädchen immer kreischen. Doch wider Erwarten blieben sie ganz still und starrten sich nur an.

      Weil ich ganz nahe bei Anna kniete, bemerkte ich, dass sie blass geworden war, und ich konnte an ihrem Hals deutlich sehen, dass ihr Herz ziemlich rasch schlug. Ich denke, sie war sehr erschrocken. Darum legte ich meinen Arm um sie, was mir natürlich in späteren Zeiten viel Spott und Hänseleien eingetragen hatte. Aber es war wie ein Reflex, in diesem Augenblick wollte ich sie nur beschützen.

      „Darf ich vorstellen? Das da unten ist Leo und das ist Anna, die Schwester von Wendel“, sagte ich mit möglichst beruhigender Stimme.

      Anna holte hörbar Luft. Dann schüttelte sie sich wie ein nasser Hund und schaute uns der Reihe nach an „Das also wolltet ihr vor mir geheim halten!“, rief sie mit triumphierender Stimme.

      „Ja“, antwortete Georg, „und es wäre wohl besser gewesen, wenn uns das gelungen wäre.“

      Inzwischen war Leo langsam die Leiter hochgeklettert. Sie stand nun am Eingang zur Hütte und es schien, als gehorche das Baumhaus einem geheimen Zauber, denn als sie hereinkam, wurde es plötzlich viel größer und geräumiger und wir hatten alle bequem Platz.

      Die Elfe setzte sich in unsere Mitte. „Wo sind die Speisen?“, fragte sie und schien die Anwesenheit von Anna gar nicht mehr zu bemerken.

      „Gehen wir also zur Tagesordnung über“, ätzte Georg und kletterte hinunter, um unsere Rucksäcke heraufzuholen.

      Anna wollte sich nützlich machen, um damit ihre Verlegenheit zu überspielen, und begann, das mitgebrachte Essen in sechs gleich große Portionen aufzuteilen, allerdings hatte sie nicht mit Leo gerechnet.

      „Was tust du da?“ Leos Stimme war um einiges lauter als sonst und die Elfe war mit drohend in die Hüften gestemmten Armen aufgestanden.

      „Ich teile alles gerecht auf“, lautete Annas unschuldige Antwort.

      „Ich bestimme, was hier gerecht ist!“

      „Warum?“ Erstaunt blickte Wendels Schwester das kleine Wesen an.

      „Weil ich wachsen muss.“

      „Ich auch.“

      Leo betrachtete Anna von Kopf bis Fuß. „Mag sein, aber ich habe eure Speisen viel nötiger als ihr.“ Sprachʼs, setzte sich wieder und begann, in Hochgeschwindigkeit zu essen.

      Anna schüttelte den Kopf und nahm sich auch etwas. Doch Leo starrte sie mit vollem Mund so lange finster an, bis sie es wieder zurücklegte und murmelte: „Eigentlich bin ich noch gar nicht hungrig.“

      „Gestern hieß es, du sagst uns heute, wie es weitergehen soll. Und ich schätze, Anna müssen wir auch einiges erklären“, ergriff ich das Wort.

      „Das übernehme ich, schließlich bin ich ihr Bruder“, mischte sich Wendel ein.

      „Halt!“ Leo hatte die Hand gehoben und heftig kauend rief sie: „Ich werde das alles zur rechten Zeit machen. Zuerst will ich jedoch etwas ruhen. Ihr könnt ja einstweilen eure Spiele spielen oder noch besser: Gestern sah ich nicht weit von hier eine Waldhimbeerhecke, geht doch und pflückt mir ein paar Beeren.“

      Missmutig kletterten wir aus dem Baumhaus, und als wir außer Hörweite waren, begannen wir fast gleichzeitig, aufgeregt durcheinanderzureden.

      „Das ist wirklich eine Frechheit, wir sind doch keine Sklaven!“, schimpfte Georg.

      „Ja, und ich lass mir nicht vorschreiben, wann ich meiner Schwester was erkläre“, fügte Wendel hinzu.

      „Na ja, wenn es dir so wichtig gewesen wäre, mir was zu erklären, dann hätte es schon vorher Gelegenheiten dazu gegeben. Aber wenn es nach dir ginge, könnte ich die ganzen Ferien allein zu Hause sitzen, während du mit deinen Freunden hier im Wald das tollste Abenteuer erlebst“, sagte Anna.

      „Na, so toll ist das Abenteuer auch wieder nicht!“, warf Benni ein. „Wenn mir meine Mutter zu Hause sagt, ich solle in unserem Garten Himbeeren pflücken, mache ich das auch nicht und für die soll ich es tun?“ Er wies mit dem Kopf in Richtung Baumhaus.

      „Außerdem ist es langweilig, wenn sie immer nur schläft und isst. Nachdem wir jetzt alles fertig gebaut haben, wissen wir gar nicht, was wir machen sollen. Ich habe heute extra meine Konsole zu Hause gelassen, weil ich gedacht habe, ich brauche sie eh nicht. Und jetzt?“, rief Georg aufgebracht.

      „Beruhigt euch, bitte, beruhigt euch!“, ergriff ich das Wort. „Ich muss euch etwas erzählen ...“ Und dann berichtete ich von meiner Beobachtung vor zwei Nächten. Als ich mit meinem Bericht zu Ende war, schauten mich alle ängstlich an.

      „War es ein Wolf?“, wollte Wendel schließlich wissen.

      „Ich habe keine Ahnung, ich konnte es nicht genau erkennen, es war zu weit weg. Ich weiß ja nicht mal genau, ob es überhaupt Leo war, die ich gemeinsam mit diesem Tier gesehen habe, ich vermute es nur.“

      „Aber wo ist dieses Vieh denn dann jetzt?“ Georg blickte sich besorgt um.

      „Vielleicht liegt es irgendwo im Gestrüpp auf der Lauer und beobachtet uns“, setzte Wendel noch eines drauf.

      „Ich glaube, ich geh jetzt heim.“ Es sollte wie ein Scherz klingen, doch Benni hatte gerade ausgesprochen, was wir alle dachten.

      „Also, zum Fürchten finde ich das eigentlich nicht“, meinte Anna schließlich. „Ich glaube, wenn du sie in der Nacht mit irgendeinem Tier gesehen hast, ist das trotzdem kein Grund, in Panik davonzulaufen. Wenn ich in der Nacht allein im Wald sein müsste, dann wäre ich auf jeden Fall auch froh, wenn es irgendein großes schwarzes Tier gäbe, das mich beschützt.“

      Anschließend erzählten wir Anna, was wir bisher über Leo wussten, und sie war total beeindruckt. Das merkte ich daran, dass sie mit halb offenem Mund, kugelrunden Augen und ohne einen Mucks zu sagen zuhörte. Anna war es auch, die schließlich eine von den mitgebrachten Jausendosen mit Himbeeren füllte.

      Um die Mittagszeit tauchte Leo verschlafen und hungrig bei uns auf. „Eure Säcke sind leer! Es war zu wenig, was ihr mitgebracht habt.“ Anna reichte ihr die Dose mit Himbeeren und ein wenig besänftigt aß Leo sie leer. „So, nun setzt euch zu mir“, meinte sie dann gnädig. Gehorsam ließen wir uns nieder und schauten sie erwartungsvoll an. „Ihr wollt jetzt also von mir wissen, wie es weitergeht?“ Wir nickten. „Nun, ich habe euch schon erzählt, dass ich ein richtiger Mensch werden möchte so wie ihr. Das ist eine ziemlich schwierige Prozedur und es dauert einige Zeit. Wie es genau abläuft und was dabei passiert, weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Es gibt nur wenige Berichte und das Wissen darüber ist im Elfenreich geheim. Mein Vater hat mir strengstens verboten, in den alten Schriften zu stöbern und etwas darüber nachzulesen. Eines steht jedoch fest, ich muss viel essen und viel schlafen.“

      „Das ist uns bereits aufgefallen“, warf Georg ein.

      „Trotzdem freue ich mich über eure Gesellschaft und ihr habt ja auch versprochen, mir immer genügend Speisen zu bringen.“ Wir nickten wieder.


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