Sternschnuppen. Gudmund Vindland
des Strandes zu sehen war. Inga erhob sich in all ihrer Pracht und Kraft und rief: »He, du da! Wenn dich das so interessiert, dann komm doch einfach! Komm her und sieh dich gründlich um. Wie du siehst, sind wir ganz unbewaffnet, und wir beißen auch nicht.«
Und dann geschah das Erstaunliche, daß wirklich ein Typ zum Vorschein kam. Zögernd und unsicher zuerst, dann kam er aber ganz munter über den Strand auf uns zu. Sofort wurde ich innerlich zum Rasierapparat, denn irgendwas stimmte hier einfach nicht. Er trug Shorts und ein T-Shirt, war kräftig und gut gebaut, war in unserem Alter und hatte kurze dunkle Haare. Damals kannte ich niemanden mit kurzen Haaren. Er blieb zehn Meter von uns entfernt stehen und glotzte, und jetzt hatte ich keine Zweifel mehr. Mit diesem Menschen stimmte einwandfrei etwas nicht. Inga war immer immun gegen schlechte Vorzeichen gewesen, und sie behielt ihre überschwengliche Einladung einfach aufrecht: »Setz dich doch zu uns, Genosse, aber dann mußt du dich auch ausziehen. Wir haben hier keine Geheimnisse voreinander, verstehst du?«
Ich konnte gerade noch denken, daß sie vergessen hatte, daß diese Aussage sich auf physische Angelegenheiten begrenzte, als etwas Verblüffendes passierte. Der Junge grinste plötzlich breit und stieß einen gutturalen Laut aus, der zweifellos »vielen Dank für diese nette Einladung« bedeuten sollte. Dann zog er sich sein Hemd über den Kopf, warf die Schuhe beiseite, ließ Shorts und Badehose fallen und erhob sich mit einem entzückenden Lächeln und einer großen, kräftigen Latte, die genau auf uns zeigte. Die Szene hatte etwas Phantastisches. Mir war sofort klar, daß die Frauen jetzt Angst bekamen, aber ich sah ihm gleichzeitig an, daß er nicht gefährlich war. Er stand einfach vertrauensvoll und munter und im wahrsten Sinne des Wortes entblößt da und zeigte uns, was er für uns empfand: Er fand uns einfach toll! Und deshalb war ich dieses eine Mal derjenige, der die Situation rettete – ich prustete los. Jetzt begriff auch Ragnhild, und sie lachte ihr warmes, beruhigendes Lachen, in das unser feuriger Gast mit einer unbeschreiblich hemmungslosen und ohrenbetäubenden Atemübung einstimmte. Er lachte immer weiter, während er die letzten Meter bis zu uns hinter sich brachte, und dann setzte er sich im Schneidersitz mit aufragendem Schwanz auf den Steg und lächelte uns alle der Reihe nach an, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich musterte ihn ausgiebig, um festzustellen, was ihm fehlte, anzusehen war es ihm nämlich nicht. Er war ein bißchen zu dick und hatte bleiche Winterhaut, aber er hatte ein hübsches Gesicht mit einem strahlenden Lächeln und braune Augen – und jetzt sah ich es. Er hatte einen etwas fremden und verwirrten Gesichtsausdruck. Er gab sich schreckliche Mühe, um zu begreifen, in was für eine Situation er hier geraten war. Ich ertappte mich dabei, daß ich nach dem Wort suchte, dem richtigen Wort, dem Etikett, und endlich konnte ich aus meiner überlegenen Schädelfüllung »Gehirnschaden« herausfischen. Auch Inga hatte die Diagnose gestellt – mit Hilfe ihrer sozialwissenschaftlichen Studien –, und deshalb eröffnete sie das Gespräch mit einer überraschend professionellen Kinderfunkstimme: »Hallo! Wie heißt du denn eigentlich?«
»Børre!« Wie schön er das R rollen konnte!
»Und wo wohnst du denn?«
»Dahinten.« Er zeigte unsicher so ungefähr in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Machst du hier vielleicht Ferien?«
Er nickte eifrig und sagte: »Oma und Opa.«
»Aha. Du machst mit deinen Großeltern Ferien auf Nesodden?«
Er nickte und lachte, zeigte auf sich selber und sagte: »Børre. Sechsundzwanzig.« Dann zeigte er auf Inga, die uns alle der Reihe nach vorstellte: »Inga, einundzwanzig. Ragnhild, zweiundzwanzig, Kyrre, einundzwanzig, Yngve, vierundzwanzig und Øystein, zwanzig. Ja?«
Er tauschte mit uns allen ein Lächeln und Geräusche des Wohlbefindens, ehe er auf Inga zeigte und das umwerfende Kompliment brachte: »Schöne Titten!«
Wir lachten, und sie setzte den Kinderfunk fort: »Ach, tausend Dank, Børre. Da muß ich dir aber auch sagen, daß du einen hübschen Schwanz hast, ja? Der ist wirklich toll.«
Er gurgelte hingerissen und zupfte stolz an seinem Gerät. Und dann – mit einem einzigen langen Sprung – warf er sich auf sie. Es ging so schnell, daß alle einfach einige Sekunden wie gelähmt dasaßen, dann brüllte Inga los, und alles war nur noch wildes Chaos. Als ich wieder auf die Beine kam, stand Kyrre schon über ihnen und versuchte, den Typen von Inga herunterzuziehen, und Ragnhild schrie, und Kyrre brüllte: »Jetzt helft mir doch, zum Teufel! Der ist stark!«
Øystein war als erster bei ihnen und stürzte sich in das kurze Handgemenge, das damit endete, daß sie Børre von Inga weg- und ein Stück über den Steg zerrten. Inga setzte sich auf und schien einen leichteren Schock davongetragen zu haben, aber dann fand sie die Sprache wieder, und ich kann wirklich garantieren, daß der Kinderfunk unwiderruflich zu Ende war.
»Was zum Teufel erlaubst du dir, du verdammtes Schwein! Bilde dir bloß nicht ein, du könntest einfach herkommen und hier herumgrabschen, auch wenn du noch so schwachsinnig bist! Wir leben schließlich nicht in der Steinzeit!«
Da erlitt ich einen Anfall von totalem Durchblick und sagte:
»Vielleicht sehen wir so aus!«
In diesem Moment stieß unser spontaner Ehrengast ein herzzerreißendes Geheul aus, und dann riß er sich los und floh in die Richtung, aus der er gekommen war. Und weg war er.
»Was ist denn bloß passiert?« fragte Inga.
»Was hast du gesagt?« wollte Kyrre von mir wissen.
»Er hat gedacht, er wäre in der Steinzeit gelandet.«
»Was zum Teufel meinst du damit?« fragte Ragnhild.
»Hört mal. Er sieht fünf nackte Menschen in freier Wildbahn. So was hat er noch nie gesehen – im Heim, meine ich. Dann rufen wir ihn zu uns und laden ihn ein, und er strippt und hat einen stehen, was wir ohne saures Gesicht akzeptieren. Das hat er auch noch nie erlebt, das kann ich euch schwören. Und alles ist nur Lächeln und Idylle. Habt ihr sein Gesicht nicht gesehen? Er hat sich den Kopf zerbrochen, um zu kapieren, was hier eigentlich abläuft. Es war eine ganz neue Erfahrung, versteht ihr? Dann sagt er etwas Nettes über Ingas Busen, und du sagst, er hätte einen hübschen Schwanz – und das hat ihm jedenfalls noch nie jemand gesagt. Also hat er gedacht, es wäre vielleicht erlaubt, einen Versuch zu machen. Armer Teufel!«
»Ach, Gott! Immer soll ich an allem schuld sein!« Jetzt heulte Inga los, und Ragnhild tröstete, und während ich anfing, mich anzuziehen, war Kyrre derjenige, der nickte und meinte: »Ich glaube, da hast du die richtige Analyse gebracht.«
»Ja«, sagte ich und zog meine Schuhe an. »Aber jetzt müssen wir ihn finden und versuchen, ihm das irgendwie klarzumachen. Er hat ja seine Klamotten und Schuhe und alles hiergelassen. Wir können ihn hier nicht nackt durch die Gegend düsen lassen. Kommt irgendwer mit? Ich geh verdammt noch mal nicht allein!«
Øystein hatte sich schon angezogen, und so machten wir uns auf den Weg, um den armen Jüngling aus der Not zu retten.
Das war nicht so leicht, obwohl wir ihn sofort fanden. Er hatte sich hinter dem Nachbarsteg versteckt. Dort saß er eingequetscht zwischen Beton und Fels, und als er uns erblickte, heulte er gleich wieder los. Er blutete an beiden Knien und hatte sich überall mit Blut eingeschmiert, so daß er aussah wie geschlachtet.
»Hallo, Børre. Wir tun dir doch nichts! Wir bringen deine Kleider!« Jetzt veranstaltete ich die Kinderstunde, und ich hatte das Gefühl, mich genauso falsch anzuhören wie die Kinderfunkonkel meiner Kindheit.
Børre heulte und schlug sich die Hände vors Gesicht, aber er schien weder fliehen noch angreifen zu wollen. Er saß einfach nur da und heulte. Ich sah Øystein an: »Geh den Erste-Hilfe-Kasten holen und bring auch ein Handtuch und einen Eimer mit sauberem Wasser mit. Und Seife. Ich versuche, ihn ein bißchen zu beruhigen. Und sag den anderen, sie sollen uns in Ruhe lassen.«
»Alles klar, ich beeile mich«, sagte Øystein und fuhr mir durch die Haare, ehe er ging.
Ich wandte mich wieder Børre zu, und nun musterte er mich sorgfältig durch seine Finger hindurch, ehe er rief: »Ihr schmust!« Und dann fing er an zu weinen. Ein piepsendes,