Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland. Volker Elis Pilgrim
Heterosexualität eigentlich geschlossen werden können. Gerade Ullrich muss vorgeworfen werden, dass er dieses Kurz-und-Bündig-Ergebnis zu Hitlers nicht-existierender Heterosexualität für weitere unabsehbare Jahre Hitler-Forschung verhindert hat.
Zweitens: Linge (6.) Bei Ullrich fehlt ausgerechnet eine der Zeugen-Hauptfiguren – Hitlers zweiter Leibdiener Heinz Linge – mit ihrer Einsicht über Eva Brauns Schicksal an Hitlers Seite: »als Bettgenossin ein entsagungsvolles Leben.« Diese fünf Wörter sind so einprägsam wie Döhrings »unbefleckte Laken«, erst recht Linges Stabbruch über »Hitlers Verhältnis zu Eva Braun«, das »eindeutig unnormal« gewesen sei. Anstatt Linge aus dem Buch Hitler zu zitieren, widmet sich Ullrich dem »Widerrufs-Linge«, (Ullrich, S. 689) den er zum Ja-Sager umpolt, dieser Vorgang bekommt in AMORO eine ausführliche Behandlung (2. Ja-Sager).
Ullrichs sechsmal Ja – das hält die Waage mit Ullrichs Sechs-Komma-Zwei Neins (sechs im Text, zwei in den Anmerkungen). Und schon steht der heterosexuelle Hitler Kerzen-gerade da.
Drittens: Hanisch (8.) – wesentlich wegen Hanischs Hinweis auf Hitlers Mädchen-Phobie schon als 10/11-Jähriger.
Viertens: Das Münchener Freundes-Kollektiv von 1913/14 (9.): »Nie Damenbesuch!«
Fünftens: Junge (11.) – Das Braun-Hitler-Verhältnis habe »nichts mit Erotik zu tun« gehabt. Wieder, wie bei Hoffmann, wird ein Beiwort benutzt, das Endgültigkeit beansprucht. Bei Hoffmann ist es »immer platonisch«, bei Junge »nichts mit Erotik zu tun«. Ende der Diskussion, was Ullrich verhindert.
Sechstens: Brandt (12.) – Die Braun-Hitler-Beziehung sei ein Versorgungs-Arrangement gewesen und keine romantische Liebe.
Siebentens: Blaschke (13.) – 14 Jahre keine Geste, keinen Liebes-Blick gesehen.
Achtens: Plaim-Mittlstrasser (14.) – Nie etwas emotional Du-Harmonisches wahrgenommen und niemand wusste, wo Hitler »eigentlich geschlafen« hätte.
Neuntens: Schaub (15.) – Seine Auswalzung der »wartenden« Eva, der »oft Enttäuschten« mit der »inneren Leere« in ihrem Leben.
Zehntens: Wolf (16.) – Hitler war an Eva Braun gar nicht interessiert, wollte sie beim Kriegführen nicht in seiner Nähe haben. In die Wolfsschanze durfte sie nie kommen. Und in den »Führer«-Bunker unter der Reichskanzlei hat sie sich Hitler für die letzten Untergangs-Wochen im April 1945 aufgedrängt.
Elftens: Krause (17.) – Es gab »kaum Gelegenheit« zum Sexualverkehr – heißt: Trotz »Führer«-»Mätressen«-Suite auf dem Berghof war auch da nix mit Geschlechtsakten.
Zwölftens: Misch (18.) – Nie »etwas« bemerkt. Die Erotik fehlte sogar über dem komischen Mann-Frau-Seit-an-Seit. »Die Musi spielte« auf dem Berghof erst, wenn Hitler weg war.
Dreizehntens: Orr (20.) – Alle Eingeweihten wussten es: Braun und Hitler hatten keine »Liebesgemeinschaft« miteinander. Das ganze Dokumenten-Refugium über Adolf Hitler im Gestrüpp der Münchener Hausfrauen-Illustrierten Revue kennt Ullrich nicht. Und dieses Versäumnis begeht er, obwohl Orr bei Ullrichs größtem Vorläufer, Ian Kershaw, mehrmals vorkommt.
Vierzehntens: Scholten (21.) – die Gynäkologen-Quelle zu Eva Brauns Hitler-Phallus-vakanter Vagina.
Fünfzehntens: Kempka (23.) – das Nach-45-Interview mit dem Verdikt, Eva Braun wäre »die unglücklichste Frau Deutschlands« gewesen und das über ein Jahrzehnt lang, wonach wiederum die Hitler-Hetero-Akte hätte geschlossen werden können.
Die gesamte englische TV-Dokumentation Adolf and Eva von Marion Milne (2001), in der auch das Statement von Hitlers ehemaligem »Leibfahrer« Erich Kempka vorkommt, enthält zu viele Hinweise auf Ungereimtheiten in Bezug auf Hitlers Heterosexualität, (Milne) sodass Ullrich sie links liegen lässt, sie nicht im Einzelnen oder gar nicht kennt, auf jeden Fall nicht erwähnt, weil er sie seiner Darstellung eines heterosexuell normalen Hitlers nicht in die Quere kommen lassen will.
»Ausgewogenheit« als ein Mittel der Hitler-Bild-»Frisierung«
Ullrich bringt in seiner Hitler-Biografie, Teil I, doch Tausende Quellen – warum ihm das Fehlen von 15 vorwerfen? Weil er mit dieser Aussparung erneut einen Hitler in die Welt gesetzt hat, den es in sexueller Hinsicht nicht gab. Ullrich macht das nicht dogmatisch-indoktrinie-rend wie ab den 1970ern sein Vorläufer Werner Maser. (Maser 71-2001) Aber gerade mit Ullrichs Ausgewogenheits-Methode wirkt der Dargestellte normal funktionierende Heteromann Adolf Hitler so überzeugend, dass er für die nächsten Jahre im gesellschaftlichen Bewusstsein Wahrheits-resistent weiter umlaufen kann – und ab März 2016, dem Erscheinen der englischen Fassung von Ullrichs Buch, dann auch in der vom Englischen dominierten ganzen Welt.
Neben die 8 Nein-Sagenden stellte Ullrich 9 Ja-Sagende, die drei Zeuginnen Winter, Schirach und Ostermayr, die über ein Techtelmechtel zwischen Braun und Hitler in dessen Münchener Wohnung am Prinzregentenplatz berichtet haben (ORALO, Auf dem Chamberlainsofa), dazu die Berghof-Angestellte und ab 1943 Hausverwalterin Gretel Mittlstrasser (7. Ja-Sagerin), die betroffene Eva Braun mit ihrem Tagebuch-Fragment über ihre Beziehung zu Adolf Hitler (ORALO, 6. Ja-Sagerin) und den angeblichen 180-Grad-Kehrtwende-Diener Heinz Linge (AMORO, 2. Ja-Sager) – macht sechs.
Mit zwei Herren-Statements möchte Ullrich das Hetero-Bild Hitlers abrunden. Er zitiert eine Äußerung Hitlers, die dieser angeblich zu seinem Kanzlei-Adjutanten Fritz Wiedemann gemacht hätte: »[…] halte ich mir eben in München ein Mädchen«. (Wiedemann, S. 70, Ullrich, S. 322 f.) Und Ullrich baut auf Hitlers »Leibpiloten« Hans Baur auf, der behauptetermaßen in ein »Stelldichein« zwischen Braun und Hitler geplatzt sei = achtens.
Neuntens fügt Ullrich einen Satz aus den Gesprächen zwischen Joachim Fest und Albert Speer an, »das Verhältnis Hitlers zu Eva Braun [sei] ›einfach zu enträtseln‹, Hitler habe sie sich ›ausschließlich für gewisse natürliche Bedürfnisse gehalten‹ – ›sozusagen für die Regulierung seines Hormonhaushalts‹«. (Fest 05 I, S. 59, Ullrich, S. 689, 10. Ja-Sager)
Dass Hitlers Hormonhaushalt über heterosexuelle Praktiken reguliert worden sei, hat Speer aus der Luft gegriffen, wie Ullrich selbst sofort im Nachsatz des Zitats den Finger in die Wunde dieser Übermittlung legt: »Woher er [Speer] dieses Wissen bezogen hatte, das verriet Speer allerdings nicht.« (Ullrich a. a. O.)
Diese Relativierung Ullrichs genügt nicht, denn der von Fest zitierte Speer-Satz ist der Wurf einer Handgranate in jegliches Forschungs-Labor, in dem Hitlers sexuelle Außer-Normalität nachgewiesen werden soll: Adolf Hitler habe seinen Hormonhaushalt über den heterosexuellen Geschlechtsverkehr mit seiner Berghof-Genossin Eva Braun reguliert. So etwas glaubt die Hetero-Mehrheit bereitwillig, weil sie es glauben will.
Und das noch Dickere im Speer-Zitat: Hitler habe »ausschließlich […] gewisse natürliche Bedürfnisse« in Richtung Eva Braun gehabt und sie sich im Geschlechtsverkehr mit ihr befriedigt. Da können Marianne Hoppe und Karl Wilhelm Krause mit ihrer Registrierung von Hitlers Oberschenkel-Reibungen vor Männer-Kampf-Szenen einpacken. (ONANO, Hitlers Männermord-Orgasmus)
Es handelt sich bei Speers Satz gegenüber Fest um reine »Männerphantasien« (Theweleit) – ausgetauscht von Normalo zu Normalo über den angeblichen Mit-Normalo-»Führer«. Seinen Hormonhaushalt regelte der noch junge, verheiratete Ehemann und Familienvater Albert Speer gemeinsam mit seiner Ehefrau Margarete und mithilfe seines ihm zur Verfügung stehenden männlichen Dranges, »eine Frau körperlich zu besitzen« (ONANO, 19. Nein-Sager Otto Wagener).
Ullrich lässt mit diesen neun Pro- und acht Kontra-Zeugen zu Hitlers Heterosexualität die Wahrheit in der Schwebe und schreibt dazu für Forscher-Gemüter Tränen-Rühriges: Er geht daran, »eine Zentralfrage in Hitlers persönlicher Biographie aufzuwerfen: wie es nämlich um seine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht bestellt war. – Diese Frage ist nur sehr schwer und wahrscheinlich niemals abschließend zu beantworten. Von ›undurchsichtiger Erotik‹ hat schon