Der Malik. Bernhard Kreutner
nach links auf einen Schotterweg abbog.
Walter Denk bemerkte, dass er trotz der Klimaanlage zu schwitzen begonnen hatte. Durch die Windschutzscheibe sah er einen steinernen Wachturm, konnte sich aber nicht an dessen Namen erinnern. Wahrscheinlich war es einer der zahlreichen Beobachtungstürme, die die Malteser im siebzehnten Jahrhundert nach der erfolgreich überstandenen Türkenbelagerung errichtet hatten.
Als sie den Turm erreicht hatten, hielt der Fahrer an, stieg aus, sah sich um und nickte. Wortlos griff sein Sitznachbar in die Hemdtasche, nahm einen kleinen Schlüssel heraus und reichte ihn Walter Denk, mit der Pistole auf dessen Füße zeigend. Als seine Füße frei waren, zeigte die Pistole Richtung Tür. Also stieg er aus. Der unbekannte Beifahrer tat es ihm gleich und deutete Richtung Turm.
Walter Denk fragte sich, warum er in diesem Augenblick nichts fühlte. In Kürze würde er sterben, aber in ihm war alles leer. Er spürte den Wind auf der Haut, hörte die Brandung unter ihm gegen die Felsen schlagen und fühlte − nichts.
Dann ein leichter Stoß in den Rücken. Anscheinend sollte er weitergehen. Er tat es. Langsam, Schritt für Schritt Richtung Meer. Einen Meter vor der Klippe blieb er stehen. Wieder ein Stoß in den Rücken, diesmal etwas fester. Er konnte deutlich die Mündung der Pistole an seinen Rippen spüren. Links, genau auf Höhe seines Herzens.
Walter Denk machte einen Schritt. Dann noch einen. Jetzt stand er unmittelbar an der Klippe und wunderte sich, dass die einzige Frage, die ihn beschäftigte, jene war, ob er nun erschossen oder von der Klippe gestoßen werden würde. Dann war die Pistolenmündung nicht mehr zu spüren. Also war sein Begleiter einen Schritt nach hinten getreten. Jetzt war er sich sicher, erschossen zu werden, von hinten, mit einer Desert Eagle, Kaliber .50 AE. Walter Denk lächelte, es war ihm doch noch eingefallen. Der Film hieß Snatch.
Der stumme Schütze steckte die Waffe weg, trat einen Schritt nach vorn und versuchte, in der unter ihm tosenden Brandung die Leiche zu entdecken, vergebens. Dann sah er sie einige Meter von den Klippen entfernt in Richtung offenes Meer treiben und nickte zufrieden. Diejenigen, die es anging, würden die Botschaft verstehen. Die Österreicher eher nicht.
Donnerstag, 9.00 Uhr, Bundesministerium für Inneres, Herrengasse, Wien
»Sie wollen die Auszeichnung tatsächlich nicht annehmen?«
Hauptmann Michael Lenhart, Leiter der Abteilung für Sonderfälle, sah zu seiner Partnerin, Leutnant Sabine Preiss, und trank einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Frau Ministerin Mannlicher, das Glück gehört denen, die sich selbst genügen.«
»Ihre Vorliebe für philosophische Weisheiten ist schön und gut, aber ich vermute, die Selbstgenügsamkeit ist nicht der einzige Grund für Ihre Ablehnung. Oder gehört das alles zu Ihrem Image als einsamer Wolf?«
»Frau Ministerin, es ist weniger eine grundsätzliche Aversion gegen Auszeichnungen als vielmehr eine Frage der Gerechtigkeit. Die Organmafia haben wir als Team aus dem Verkehr gezogen. Einzig mich als zufällig eingesetzten Leiter dieser Zwei-Personen-Strafabteilung mit einem Preis zu schmücken, halte ich daher für falsch.«
Widerwillig antwortete die Ministerin: »Mag sein, aber so sind nun mal seit jeher die Regeln.«
»Dann, Frau Ministerin, habe ich einen Grund mehr, die Auszeichnung abzulehnen und diese Regel, da falsch, zu brechen.«
Lächelnd schüttelte die Ministerin den Kopf. Offenen Widerspruch war sie nicht gewohnt. Dieser Lenhart war anders als die sonst leitenden Beamten und Polizeioffiziere, mit denen sie zu tun hatte. Parteipolitisch war er einer der seltenen Nullgruppler, seine Arbeitsmethoden waren mitunter unorthodox, und in der Kollegenschaft ging man ihm meist aus dem Weg. Weniger aus persönlicher Animosität, sondern wegen seiner Konsequenz und seines scharfen Intellekts. Neben Lenhart kamen sich die meisten dumm oder zumindest ungebildet vor. Andererseits waren nicht nur seine Zitate legendär, sondern auch seine Erfolge. Insofern wurde er respektiert, aber mit ihm arbeiten wollte fast niemand. Zumindest bis jetzt.
»Einverstanden, Lenhart. Ihre Arbeit, und damit meine ich Sie ausdrücklich ebenfalls, Leutnant Preiss, bei der Jagd nach der Organmafia war herausragend und hat auch international hohe Wellen geschlagen. Speziell die Schweizer stehen nun tief in unserer Schuld. Ich akzeptiere Ihre Ablehnung des Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich. Ihre Degradierung zum Hauptmann ist hiermit aufgehoben. Lenhart, Sie sind ab sofort wieder Major und Sie, Frau Preiss, Oberleutnant. Um den Papierkram wird sich Brigadier Fritsch kümmern. Ich nehme an, damit können Sie leben?«
Während Sabine Preiss lächelnd nickte, antwortete Michael Lenhart ruhig und gelassen: »Ja, damit bin ich einverstanden, danke, Frau Ministerin.«
»Gut, kann ich sonst noch etwas für Sie beide tun?«
Diesmal war es Sabine, die antwortete: »Ja, Frau Ministerin. Wir haben Gefallen an den Sonderfällen gefunden. Mit Ausnahme der Bürokratie. Die Klassifizierung und Weitergabe der ungelösten Fälle nach den Vorgaben der EU ist keine Polizeiarbeit. Das ist reine Administration und, ganz offen gesagt: vielleicht gut gemeint, mehr aber nicht.«
»Ich weiß. Darum wird sich ebenfalls der Fritsch kümmern. Ich brauche Sie als Polizisten, nicht als Ärmelschoner. Die Frau Direktor und die Sektionschefs werden zwar keine Freude haben, wenn ich mich ins Organisatorische einmische, aber ich werde die Abteilung für Sonderfälle institutionalisieren. Sie bleiben im D-Trakt, berichten ausschließlich dem Fritsch beziehungsweise mir und werden sich um genau jene Fälle kümmern, die besonders sind. Einverstanden?«
Michael sah kurz zu Sabine hinüber, bevor er antwortete.
»Ja, Frau Ministerin, wir sind einverstanden.«
»Gut, Sie bekommen weitgehende Sondervollmachten, ähnlich jener der Nachrichtendienste. Ich will, dass Sie ungehindert und rasch arbeiten können.«
Michael Lenhart hob abwehrend die Hände. »Nein, Frau Ministerin. Hausintern hat man uns den schmeichelhaften Spitznamen ›Abteilung für Abfälle‹ gegeben, und seit letzter Woche klopft man uns mitunter neidvoll auf die Schultern. Sondervollmachten würden uns in den Augen der Kollegen zu etwas Besonderem machen, und das Besondere wird, zumal in Wien, gerne nach allen Regeln der Kunst wieder auf das Durchschnittsmaß reduziert. Abteilung für Sonderfälle genügt. Ihre informelle Unterstützung zusammen mit der organisatorischen Spitzfindigkeit von Brigadier Fritsch und dem Genie von Frau Wolf ist mehr, als wir brauchen.«
Ministerin Mannlicher lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schüttelte den Kopf.
»Auch ein Argument, einverstanden. Aber was mich interessiert: Haben Sie das alles bereits vorab bedacht, oder ist Ihnen diese Erkenntnis erst jetzt gekommen?«
»Denken scheint mir ein steter Prozess zu sein. Allerdings bewegt das Denken allein nichts. Es muss auf einen Zweck gerichtet sein, und das Nachdenken darüber, wie es denn nun nach der erfolgreichen Feuertaufe mit der Abteilung für Sonderfälle weitergeht, war naheliegend. Der Rest ist mehr oder weniger eine Frage der Kausalität.«
»Zweckgerichtetes Denken, sehr gut! Vielleicht sollte ich diesen Grundsatz bei meiner nächsten Parlamentsdebatte von der Opposition einfordern.«
»Frau Ministerin, mit Verlaub, Politiker gehören wahrscheinlich zu den zweckgerichtetsten Menschen überhaupt. Das liegt in der Natur der Sache, nehme ich an. Einzig der Zweck, das Motiv ihres Tuns oder Nicht-Tuns, wäre zu hinterfragen. Abgesehen von der Qualität des Denkens an sich …«
Sabine Preiss unterbrach ihren Kollegen: »Michael, hör auf! Die Bemerkung der Ministerin war keine Einladung für einen Vortrag, sondern sarkastisch gemeint.« Und direkt an die Ministerin gewandt: »Frau Ministerin, wir haben in den vergangenen Tagen intern lange über die Zukunft der Abteilung für Sonderfälle diskutiert, lassen Sie uns einfach unseren Job erledigen.«
Die Ministerin sah zuerst Sabine Preiss einige Sekunden in die Augen und musterte anschließend Michael Lenhart. Der letzte Teil, einfach unseren Job erledigen, hallte in ihrem Kopf nach. War es tatsächlich besser, wenn sie sich nicht einmischte?