Der Malik. Bernhard Kreutner
Nachdem alle Platz genommen hatten und mit Kaffee und Wasser versorgt waren, schob Sektionsleiter Berger eine dünne Aktenmappe über den Tisch. »Das ist leider alles, was wir in der Sache wissen. Ganz ehrlich, wir haben keine Ahnung, warum der Denk verschwunden sein könnte.«
Michael Lenhart blätterte kurz in den Unterlagen und legte sie dann beiseite. »Sehe ich das richtig, es gab keinen konkreten Fall, sondern der Denk ist aufgrund eines Telefonats mit seinem maltesischen Kollegen in den Flieger gestiegen?«
»Ja, er rief mich am Freitag gegen zwanzig Uhr an und teilte mir mit, dass er am Montag für ein bis zwei Tage nach Malta müsse. Das war’s.«
»Eine sehr spontane Reise.«
»Ja, und der Denk ist ein erfahrener und sehr genauer Mann. Wenn er also am Freitag beschließt, nach Malta zu fliegen und damit seinen gesamten Terminkalender durcheinanderzuwirbeln, dann muss es wichtig gewesen sein.«
»Weißt du, ob er seinen maltesischen Ansprechpartner schon länger kannte?«
»Nicht genau, aber ich nehme es an. Der Denk war, nein, ist für die internationalen Kontakte, beispielsweise die EGMONT-Gruppe, zuständig. Allein durch die regelmäßigen Treffen im Rahmen der internationalen Kooperation dürfte er ihn gekannt haben. Ich meine, so groß ist Malta und das dortige Finanzministerium nicht.«
»Ein gutes Argument. Ich nehme an, du hast auch mit Denks Mitarbeitern gesprochen.«
»Sicher, aber die tappen ebenfalls im Dunkeln und haben keine Erklärung.«
»Du sagtest, der Denk ist ein sehr penibler Mann, und als solcher hat er sich auf das Treffen doch sicher vorbereitet. Gibt es dazu irgendetwas?«
»Nein. Er war am Wochenende nicht im Büro. Wir haben seine Logfiles überprüft. Er hat am Freitag um sechzehn Uhr sieben das Büro verlassen und davor nichts im Zusammenhang mit Malta aufgerufen.«
»Trotzdem, es muss etwas geben. Was sagt dir dein Gefühl? Du kennst den Mann. Wie ist seine Arbeitsweise? Wofür ist er bekannt?«
Sektionsleiter Berger dachte nach, stand dann plötzlich auf und griff zum Telefon. »Lass mich etwas überprüfen.« Eine Minute später hatte er die Antwort: »Der Denk hat sich immer über Land und Leute schlaugemacht. Ich bin sicher, in seiner Wohnung werdet ihr Unterlagen zur Geschichte Maltas finden, von der Besiedelung bis zur Botanik.«
»Danke für den Hinweis. Wir werden darauf achten.«
»Macht das. Mehr kann ich im Moment leider nicht für euch tun.«
»Dass es bei dir im Haus keinen aktuellen Fall gibt, ist für uns schon eine große Hilfe.«
Michael Lenhart stand auf und gab damit das Zeichen zum Aufbruch.
Bei der Verabschiedung an der Tür klopfte Sektionschef Berger ihm anerkennend auf die Schulter: »Bevor ich’s vergesse: Gratulation zu dieser Geschichte in der Herrengasse. Das scheint ja ein ganz dicker Fisch gewesen zu sein. Ich schätze, damit hat sich das anfangs fragwürdige Ansehen der Abteilung für Sonderfälle schlagartig verbessert.«
»Na ja, ich habe den Eindruck, die Wirtschaftskriminalisten sind da anderer Meinung, zumindest der Tschiller.«
»Du warst bei ihm?«
»Ja, vorhin.«
»Und? Ist er noch immer beleidigt?«
»Es scheint so.«
»Tja, die eigenen Fehler einzugestehen, ist nicht leicht.« Und an Anton Steinbach gewandt ergänzte er freundlich: »Und Sie sind laut Flurfunk das Organisationsgenie von Michael. Falls Sie berufliche Abwechslung suchen und Ihnen die philosophischen Weisheiten von unserem Professor zu viel werden, rufen Sie mich an.«
Lächelnd erwiderte Anton: »Danke für das Kompliment, aber bis jetzt fühle ich mich bei den Sonderfällen pudelwohl.«
Im Auto und zurück auf dem Weg in die Herrengasse fragte Anton: »Woher kennst du den Sektionschef?«
»Privat. Er hat mit meinem Freund, Helmut Schober, studiert.«
Nachdenklich erwiderte Anton: »Meinem Freund. Soll das heißen, du hast nur einen einzigen Freund?«
»Ja, allerdings definiere ich Freundschaft nicht nach Facebook-Kriterien. Ich halte es eher mit Aristoteles. Der unterscheidet bei der Freundschaft drei Motive: um des Wesens, des Nutzens und der Lust willen. Hinzu kommt noch der Faktor Zeit, man könnte es auch Bewährung oder Gewohnheit nennen. Wahre Freundschaft ist in meinen Augen nur jene des Wesens, denn sie ist von hoher Toleranz und einer gewissen Bedingungslosigkeit geprägt. Ja, mein Freund, oder sagen wir, mein bester Freund ist der Helmut.«
Anton Steinbach schüttelte den Kopf. »Da muss ich noch viel lernen. Neben dir kommt man sich schnell ein wenig dumm vor.«
»Ganz im Gegenteil, Anton! Im Grunde geht es um Lebensklugheit, gepaart mit Offenheit. Du verfügst über beides.«
»Danke für die Blumen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Könnte auch ich dein Freund werden, trotz unseres Wesensunterschieds?«
»Da habe ich mich vielleicht ein wenig missverständlich ausgedrückt. Mit Wesen ist primär eine Art Gleichklang im Charakter gemeint, und hier scheinen mir die Voraussetzungen durchaus gut. Aber Freundschaft ist nichts, was man hat, sondern was man tut. Sie lebt von der Pflege, und zwar gegenseitig. Beziehungen, egal welcher Art, unterliegen immer einer Entwicklung, entscheidend ist die Richtung und, wie gesagt, das Tun, die Pflege. Aber nun zu anderen Dingen: Wir müssen noch fürs Mittagessen einkaufen. Lass uns beim Büro parken und zu Fuß zum Neuen Markt gehen, so bekommen wir noch ein wenig frische Luft.«
Zurück im D-Trakt, erwartete Sabine sie bereits. Michael sagte, er wolle noch schnell etwas überprüfen, und währenddessen stellten Sabine und Anton die mitgebrachten Speisen auf den Tisch.
»Und? Was habt ihr mitgebracht?«
»Chicken Tikka Masala, Rosmarin-Zitronen-Huhn und Kalbsbutterschnitzel, dazu Salat und als Nachspeise Marmorgugelhupf.«
»Sehr gut, und wie war’s sonst?«
»Interessant! Michael hat mir die drei Motive der Freundschaft erklärt.«
Lachend erwiderte Sabine: »Ja, unser Philosoph. Ein brillanter Kopf mit Problemen bei der Umsetzung.«
»Wie meinst du das?«
»Michael denkt zu viel. Oder sagen wir so, er denkt nicht zu viel, sondern begnügt sich privat zu oft mit der Erkenntnis.«
Nachdenklich musterte Anton seine Kollegin. »Darum auch sein sehr überschaubarer Freundeskreis?«
»Ja, aber das ist eine eigene Geschichte. Wie war’s bei den Kollegen?«
»Bei den Wirtschaftskriminalisten ist Michael nicht gerade beliebt, und im Finanzministerium haben sie keine Ahnung, warum der Denk nach Malta geflogen ist. Dafür war der Empfang deutlich freundlicher. Mit anderen Worten, in Wien gibt es nichts, womit wir arbeiten können. Hast du die Kollegen in Malta erreicht?«
»Ja, ich erzähle es euch nach dem Essen. Hol du unseren Sherlock.«
Nach dem zweiten Ruf gesellte sich Michael zu den beiden und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Als ihn Anton fragend ansah, meinte Michael nur: »Nach dem Essen, Mahlzeit.« Und Sabine ergänzte: »Michael spricht beim Essen nicht gerne über die Arbeit. Das widerspricht seinem Verständnis von Achtsamkeit, und ganz ehrlich, im Grunde hat er recht. Beim Essen hat die Arbeit Pause.«
Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten und Michael für alle Kaffee brachte, nahm Anton den Faden wieder auf. »Also erzähl, was hat es mit diesem Blatt Papier auf sich?«
Michael Lenhart drehte die einzelne Seite um. Es war nur der Fotoprint eines Post-its. »Die Kollegen von der Finanz haben dankenswerterweise auch Denks Arbeitsplatz fotografiert, und das ist womöglich eine Spur.«
Die beiden sahen es sich an, aber die handschriftlichen Worte »der