Abenteuer im Sibirien-Express. Lisa Honroth Löwe

Abenteuer im Sibirien-Express - Lisa Honroth Löwe


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auf chinesisch. Aber das junge Mädchen, das schweigend und etwas verängstigt neben ihm den Bahnsteig entlanggegangen war, sah mit einem lächelnden und vertrauensvollen Blick auf: „O, Sie sprechen deutsch, mein Herr“, sagte sie mit einem beinahe fehlerfreien Dialekt, „dann, bitte, sprechen wir zusammen deutsch.“

      Ueberrascht blickte Rodenhausen seine junge Begleiterin an, die schmal und schlank neben ihm schritt. „Aber wie gern, mein Fräulein, das ist eine gute Vorbedeutung, dass ich hier schon meine Muttersprache höre. Sind Sie auch Deutsche?“

      „Nein, mein Vater war Schwede, aber meine liebe Mutter ist in Deutschland aufgewachsen, obwohl sie —“

      Sie vollendete nicht, sondern sprang, von Rodenhausen zurückgerissen, zur Seite, denn ein Kuli rollte mit stumpfsinnigem Gesichtsausdruck einen Reisewagen mit Koffern gerade vor ihnen dem Zollgebäude zu.

      Und nun war keine Zeit mehr zu Privatgesprächen. In einer Schlange standen die Menschen vieler Nationen hier in dem hölzernen, kalten Zollabfertigungsraum und schoben sich, Schlüssel in den Händen, langsam zu dem Tische vor, auf dem die Koffer, Kisten und Taschen zur Revision bereit lagen.

      Rodenhausen hatte sich dicht neben seine junge Reisegenossin gestellt. Als er sah, wie ängstlich ihre Brauen zuckten, wie nervös sie wurde, je mehr sie in der Reihe vorrückte, nahm er ihr ganz einfach den Kofferschlüssel aus der Hand: „Ich hoffe, Sie haben keine Kontrebande darin, mein kleines Fräulein“, meinte er lächelnd, „dann werde ich alles für Sie erledigen.“

      „O, ich danke Ihnen“, flüsterte das junge Mädchen, „nein, ich habe nichts Verbotenes, bloss, ich habe böse Erfahrungen mit Beamten gemacht, und so fürchte ich mich ein wenig.“

      „Kein Grund, ich kenne hier einige der Kommissare, ich sehe manche bekannten Gesichter“, Rodenhausen nickte zu einem älteren Manne mit einem grauen Spitzbart hinüber, der offenbar hier eine Aufsichtsstelle innehatte. „Siehe da“, sagte der höflich und nahm ihn ausser der Reihe heran, „wie geht es Ihnen, glücklich aus dem Hexenkessel zurück?“

      Rodenhausen reichte ihm seine und die Schlüssel seiner Reisegefährtin. „Danke, ja, Herr Kommissar, es hört sich alles aus der Entfernung und in den Zeitungen schlimmer an, als es in der Nähe ist, in Harbin ist es noch ganz gemütlich — aber, was nicht ist, kann ja noch werden. — Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, die Koffer dieser Dame gleich mit zu inspizieren? Wir haben das gleiche Abteil, und ich möchte sie dann gern gleich wieder im russischen Zuge verstauen.“

      Der Kommissar prüfte rasch das Gepäck.

      „Haben Sie Steuerpflichtiges?“ fragte er das junge Mädchen höflich, nachdem er Rodenhausens Gepäck einer oberflächlichen Durchsicht unterzogen, und als das junge Mädchen verneinte, drückte er das Siegel der Sowjets auf die Koffer.

      „Können passieren“, rief er, und die Kulis, welche Rodenhausens und die Koffer seiner Unbekannten hierherbefördert, ergriffen das Gepäck und rannten grinsend mit ihm davon, dem russischen Zuge zu, der auf dem Gleise neben dem chinesischen wartend stand.

      „Gott sei Dank, das hätten wir hinter uns“, meinte Rodenhausen, als er seine Begleiterin über die Schienen hinweg in das Abteil hineingeleitet hatte. „Aber nun, mein Fräulein, wollen wir uns gleich einen Speisewagenplatz sichern, damit wir das wirklich vortreffliche Essen hier in dem russischen Zuge geniessen können. Sind Sie die Strecke schon einmal gefahren?“

      „Nein, ich reise zum ersten Male hier, das heisst, als Kind, als meine Mutter noch lebte, bin ich einmal mit ihr nach Europa gefahren, aber das liegt schon lange zurück. Aber jetzt fahre ich voraussichtlich für immer Europa, denn mein Vater ist auch gestorben.“

      Ihre sanfte Stimme schwankte ein wenig, und sie wandte das Gesicht ab.

      Rodenhausen schwieg. Armes Ding, dachte er, so jung — und so allein. Er musste an Viky denken, an ihr behütetes Mädchenleben. Sie war sicherlich nicht älter als diese Unbekannte hier, die allein Tage um Tage durch die Welt fuhr. Nun, was an ihm lag, sie sicher bis an die deutsche Grenze zu bringen, das sollte geschehen. Schon wegen dieser Aehnlichkeit, die ihn, je länger er die Kleine beobachtete, immer stärker anrührte und eine Erinnerung in ihm wachrief — eine süsse und schmerzliche Erinnerung, die in ihm geschlafen, jahrelang. Und die nun angesichts dieses zarten, hilflosen Menschenkindes in ihm erwachte.

      „Ich habe in all der Umsteigeaufregung noch gar nicht Gelegenheit gehabt, mich vorzustellen“, sagte er bemüht, das trübe Schweigen zu brechen, in das sein Gegenüber versunken. „Gestatten Sie, dass ich es jetzt nachhole: Rodenhausen. Aber damit können Sie noch gar nichts anfangen“, meinte er lächelnd, „nun, wir werden auf dieser Reise noch Zeit und Musse genug haben, miteinander zu plaudern — und ich hoffe, dass Sie, wenn ich Ihnen erst mehr von mir erzählen durfte, Vertrauen zu mir haben werden und mir gestatten, Sie ein wenig zu umsorgen — ich könnte ja schon Ihr Vater sein“, fügte er hinzu, als das junge Mädchen ihn mit einem scheuen Blick musterte. Da war wieder dieser dunkle Augenaufschlag, dieses Scheue und dennoch Feste im Blick, dieses schnelle, flügelgleiche Zucken der hochgestellten feinen Brauen, — er musste wissen, wer diese Unbekannte war mit dem Gesicht, das ihn so bekannt und vertraut anmutete.

      „Wollen Sie mir nicht auch sagen, wer Sie sind, mein gnädiges Fräulein?“ bat Rodenhausen und sah die Gefährtin herzlich an, „ich wüsste gern mehr von Ihnen, Sie erinnern mich an jemanden, den ich vor langen Iahren Iahren kannte, und der mir sehr nahegestanden hat.“

      Seine Stimme war weich und gütig, und in seinen Augen lag eine ernste Bitte.

      „Ich — ich bin Ihnen so dankbar“, das junge Mädchen sprach stocken, „Sie sind so gut zu mir, und ich bin es nicht gewöhnt, dass man mir soviel Interesse zeigt. Ich war fast immer allein. Und nun hab’ ich auch noch meinen Vater — —“, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      Rodenhausen erschrak: Was hab’ ich da angerichtet! Jetzt erst kam es ihm klar zum Bewusstsein, dass das junge Mädchen in Trauer war. Er ergriff mit aufquellendem Mitleid die kleine, blasse Hand:

      „Bitte, sprechen Sie nicht, ich fühle, es wird Ihnen schwer.“

      „Nein, nein, Herr — Rodenhausen. Es ist schon wieder vorbei.“

      Es hatte etwas Rührendes, dies Bemühen um ein Lächeln, das nicht recht glücken wollte, „ich zeige mich hier als ein ganz anderer Mensch, wie ich in Wirklichkeit bin, o, ich bin wirklich nicht verweichlicht“, unwillkürlich reckte sie sich, als wollte sie beweisen, wie tapfer sie wäre, „das durfte ich auch als meines Vaters Tochter nicht sein. Er liebte es, wenn man tapfer war.

      Er hat mich aufgezogen wie ein Junge. Ganze Tage bin ich mit ihm geritten von einem Bergwerk im Ural zum anderen. Bis nach Jekaterinenburg. Dort besass er Steinschleifereien für die Steine, die in seinen Bergwerken gefunden wurden. Auch auf die Jagd hat er mich mitgenommen. Er vergass manchmal ganz, dass ich ein Mädchen war. Für ihn war ich immer ein Junge. Er hatte sich damals nämlich einen Jungen gewünscht. Das hat er mir oft erzählt. Und ich glaube, er hat es die Mutter auch fühlen lassen, dass er enttäuscht war. Das weiss ich von der alten Wasja, meiner Kinderfrau“, sie verwirrte sich plötzlich und wurde rot, „aber das interessiert Sie sicher gar nicht, Herr Rodenhausen. Und es ist auch gar nicht recht von mir, dass ich — wenn Mutter noch lebte, würde ich ganz gewiss immer wissen, was ich sagen darf und was nicht.“

      „Also Ihre liebe Mutter ist auch tot?“

      „Schon sehr lange. Wohl zehn Jahre. Und Vater, Vater — haben sie vor vierzehn Tagen — erschossen“, endete sie leise.

      Plötzlich wurde ihr Gesicht von einer tödlichen Blässe überzogen. Die Augen schlossen sich, der Kopf fiel zurück, der Körper drohte von der Bank zu gleiten.

      Rodenhausen griff zu, bettete die Ohnmächtige auf der Bank.

      Einen Augenblick ruhte der Kopf des jungen Mädchens auf seinem Arm. In tiefer Rührung, in eindringlichem Forschen schaute er auf das süsse Gesicht. Konnte das Leben so seltsam spielen? Wie vertraut waren ihm doch diese reinen Züge. Vorsichtig bettete er ihren Kopf tief und rieb ihr die Schläfe nit Kölnisch-Wasser,


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