Abenteuer im Sibirien-Express. Lisa Honroth Löwe

Abenteuer im Sibirien-Express - Lisa Honroth Löwe


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Rodenhausen sofort beruhigend.

      Schon richtete sich das Mädchen auf.

      „Herr Rodenhausen, verzeihen Sie, ich bin eine sehr unbequeme Reisegefährtin! Mir fällt ein, ich habe in den letzten zwei Tagen kaum etwas gegessen. Es war alles so fürchterlich.“

      „Aber, liebes, kleines Fräulein, da brauchen wir uns ja gar nicht zu wundern, meinen Sie, dass ich als Mann das aushalten würde?“ Er verbarg Sorge und Erschütterung unter einem gewollt harmlosen Ton. „Nein, noch nicht aufstehen, so, jetzt legen Sie sich noch ein paar Minuten hin, damit Sie mir nicht etwa umkippen, während Sie allein sind, und ich gehe rasch, uns im Speisewagen zwei Plätze bestellen. Sie sollen einmal sehen, wenn Sie erst etwas Warmes im Magen haben, dann sind Sie gerade wieder so ein tapferes Mädel wie vorher.“

      Sie streckte sich gehorsam und dankbar lächelnd auf dem Polster aus, während Rodenhausen in Richtung Speisewagen verschwand.

      Er rannte mehr die Gänge der Wagen entland, als er ging — man durfte das junge Mädchen nicht so lange allein lassen. Herrje, habe ich denn beim Einsteigen ganz übersehen, dass wir so weit vom Speisewagen entfernt sind? Das ist dumm, dass das kleine, schwache Mädel nachher so weit rennen muss. Vielleicht kann ich erreichen, dass man uns im Abteil serviert. Rodenhausen merkte selbst gar nicht, wie besorgt er um seine junge Reisegefährtin war. Er war so in den Gedanken an sie befangen, dass er fast zusammenfuhr, als leises Flüstern an sein Ohr drang. Da, wo der Wagen die Biegung machte, rechts zum Waschraum, standen zwei Männer in der Tracht russischer Dörfler, nur ihre Gesichter hatten ausgesprochen mongolische Züge.

      „Auf der Brücke, vor dem Viadukt“, hörte Rodenhausen. Als er unvermutet neben ihnen auftauchte, brach das Gespräch ab. Angelegentlich sahen die Männer an ihm vorbei. Nachdenklich ging er zum Speisewagen.

      Als er zurückkam, waren die Männer verschwunden.

      Endlich war er auch wieder an seinem Abteil angelangt. Das kleine, hilfsbedürftige Fräulein — sie hatte ihm bei allem Erzählen noch nicht einmal ihren Namen genannt — sollte nicht so lange allein bleiben. Ob sie wohl einen nordischen Vornamen hatte?

      Er bemühte sich, die Erregung seiner Gedanken zu meistern.

      Leise näherte er sich der Tür. Vielleicht war das kleine, junge Ding wieder eingeschlafen. Aber eine harte Stimme tönte ihm entgegen. Das junge Mädchen stand mit dem Rücken zur Tür. Vor ihr ein Mann, der seine kleinen, dunklen Augen mit frecher Neugierde über die zarte Schönheit des Mädchens gleiten liess. Jetzt trat der Mann näher. Angstvoll wich das Mädchen zurück. Aber schon war Rodenhausen neben ihr. Barsch trat er an den russisch sprechenden Menschen heran.

      „Sie wünschen, mein Herr?“

      Das überraschte Gesicht des Russen wurde feindlich.

      „Ich bin Beamter. Hier mein Ausweis. Zeigen Sie Ihr Gepäck.“

      „Unser gesamtes Gepäck ist bereits in Manschuli revidiert worden. Ich denke, das genügt. Seit wann werden denn die Reisenden zweimal belästigt? Sollte das vielleicht nicht dienstliche, sondern private Gründe haben?“

      Dabei ging sein nicht misszuverstehender Blick von dem Gesicht des Russen zu dem lieblichen des jungen Mädchens, das angstvoll von einem zum anderen sah.

      Rodenhausen machte sich in seiner Erregung die Unvorsichtigkeit seines Handelns nicht klar. Der ganze Kerl da vor ihm reizte ihn. Die Art, in der er das Mädchen und nun auch ihn musterte, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht.

      Statt einer Antwort riss der Kommissar die sorgfältig verpackten Vermessungsinstrumente aus dem Gepäcknetz.

      „Was bedeutet das?“ fuhr er Rodenhausen an.

      „Das sind meine Vermessungsgeräte, ich bin geologischer Forscher, wenn Sie wissen, was das ist. Seit drei Iahren treibe ich unbehelligt meine Forschungen in der Mandschurei, Bodenbeschaffenheit, Bodengehalt usw. interessieren mich. Mit ihrem Krieg hier habe ich nichts zu tun. Ich reise jetzt nur nach Deutschland zurück, weil mir durch den Kriegszustand das Innere des Landes versperrt ist.“

      „Wo das ist, wird noch mehr Verdächtiges sein“, sagte höhnisch und unverschämt der Kommissar, als ob er Rodenhausens Worte überhaupt nicht gehört hätte. „Handtasche aufmachen!“ Er riss Rodenhausen den Schlüssel aus der Hand und durchwühlte rücksichtslos den Handkoffer.

      Am Boden der Tasche in Futter hatte Rodenhausen die Papiere verwahrt, die der kleine Amerikaner ihm im letzten Moment mitgegeben hatte. Ihr Knistern machte den Kommissar aufmerklam.

      „Ah —“, er hielt triumphierend die Papiere in der Hand —, „Ihre Aufregung ist mir jetzt durchaus begreiflich, mein Herr.“

      „Was erlauben Sie sich mit dieser Andeutung?“

      „Das wird Ihnen sehr bald klar sein, wenn Sie an der nächsten Station mit mir aussteigen.“

      Das junge Mädchen schrie auf. Ein Pfeifen, ein jäher Ruck, Bremsen knirschten, der Zug stand, — Dunkelheit, Geschrei, Schüsse, Menschen stürzten, Koffer flogen, — das junge Mädchen flog auf die Bank, der Kommissar zu Boden, Rodenhausen auf ihn. Mit einem Griff entriss der Fürst dem Russen seine Papiere und barg sie unter dem Hemd auf der Brust.

      Der Kommissar erhoh sich, rannte in das Dunkel hinaus.

      Rodenhausen zog seine Gefährtin aus dem Abteil, — „alles stehen lassen, bücken“, flüsterte er ihr zu, dann riss er mit der einen Hand jene Tür auf, die auf der anderen Seite der Bahnstrecke ins Dunkel führte. Mit der anderen Hand griff er nach seinem Revolver in seiner Tasche.

      Kaum waren sie draussen, als sich in den Gängen des Zuges ein ungeheurer Tumult erhob. Man sah durch die erleuchteten Fenster ein Gedränge von Menschen, erhobene Revolver, hörte Schüsse knattern.

      Rodenhausen und das Mädchen lagen in nachtschwarzer Dunkelheit draussen neben dem Zug an Boden.

      „Kriechen“, flüsterte Rodenhausen, „dort bis an die Böschung kriechen.“

      Atemlos, lautlos schoben sie sich, auf dem Bauche liegend, bis zum Abhang vorwärts.

      „Herunterrollen, langsam, vorsichtig, bleiben Sie dicht neben mir, so, geben Sie mir Ihre Hand, dort bis zum Gestrüpp.“

      An dem Unterholz machten sie halt, Rodenhausen hob ein wenig den Oberkörper vom Boden, um Umschau zu halten, soweit es bei dem begrenzten Blickfeld und der Finsternis möglich war. Verdammt, dass es zum Abend ging.

      „Können Sie aufstehen, sind Sie verletzt?“ flüsterte er immer noch dem Mädchen zu.

      „Nein“, gab sie flüsternd zurück.

      „Also vorwärts ―“, Rodenhausen ergriff ihre Hand und rannte mit ihr bis zu dem nahen Walde. Dort, durch die ersten Bäume verdeckt, blieben sie erschöpft stehen.

      „Armes Kind“, er fuhr ihr zart über das Haar, „keine Angst haben, ich schütze Sie. Können Sie noch?“

      Sie zitterte vor Kälte und Uebermüdung. Rodenhausen zog seinen Rock aus und hing ihn ihr trotz ihres leisen Wehrens um.

      „Soll ich Sie ein Stück tragen? Hinsetzen einen Augenblick? Nein, nein, Kind, das geht nicht. Sie könnten sich den Tod holen. Wir müssen weiter! Wer weiss, welchen Rückweg diese Räuberbande, die den Zug überfallen hat, nimmt. Wir müssen uns sichern.“

      Er unterbrach sich, er fühlte, wie der Kopf des Mädchens an seine Schulter gesunken war. Sie war völlig ermattet. Schlief sie? Behautsam nahm er sie auf die Arme, ― für den grossen, kräftigen Mann war das zarte Wesen keine schwere Last, wenn er auch mit seinen 53 Jahren nicht mehr der Jüngste war ― alles, was an väterlichen Gefühlen in ihm lebte, und was durch die Verhältnisse unnatürlich zurückgedrängt worden war, strömte zu diesem jungen Geschöpf hin. Die verschiedensten Empfindungen stritten in ihm. Karen? Wieder übermannte ihn die Erinnerung, und seine Lippen formten lautlos den einst geliebten Namen. Ja, du bist es, Karen ― vor fünfzehn Jahren warst du es, und jetzt bist du es genau so wieder ―

      Sie


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