Steff. Bernt Danielsson

Steff - Bernt Danielsson


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für sich versucht, ihr zu helfen, aber natürlich auf ihre unbeholfene mamahafte Art, was ganz deutlich zeigte, daß sie auch von ihr nicht ernst genommen wurde.

      Warum kapierte bloß niemand, daß es um Leben und Tod ging – und nicht um irgendein Leben und irgendeinen Tod, sondern ihr Leben und ihren Tod.

      Und was war mit Freundinnen?

      Freundinnen? Sie hatte noch nie viele gehabt, und die Frage war wohl, ob sie im Moment überhaupt welche hatte. Meistens machte ihr das nichts aus, auch wenn sie sich manchmal wünschte, wie Sofie zu sein, die Freundinnen sammelte wie andere Leute Ansichtskarten oder Briefmarken, die nie allein war, die abendelang mit all ihren Freundinnen telefonierte (behauptete sie jedenfalls) und die ständig damit angab, daß sie so viele hatte.

      Und in der Klasse?

      Sicher. Einen ganzen Haufen von Klassenkameradinnen, mit denen sie schon manchmal halbherzig redete, tratschte, faselte, kicherte, grinste und lachte. Aber mehr auch nicht. Sie hatte meistens das Gefühl, daß alles nur aufgesetzt und angestrengt war. Außerdem waren die so kindisch – oder wer weiß, vielleicht war sie kindisch. Sie traute sich nie zu sagen, was sie wirklich dachte und meinte, wenn sie mit ihnen zusammen war, denn sie war sicher, die würden denken, sie sei komisch und blöd.

      Aber stell dir vor, alle sind wie du?

      ‚Wie?‘

      Stell dir vor, alle Klassenkameradinnen sagen nie, was sie eigentlich denken und meinen, weil die auch Angst haben, daß die anderen denken, sie wären komisch und blöd?

      ‚Tsss ...‘ Das glaubte sie keine Sekunde. ‚Total lächerlich. Nein, die meisten sind wirklich richtige Hühnerfotzen‘, – um einen Ausdruck zu verwenden, den sie von einem von Rickys sogenannten Freunden aufgeschnappt hatte. Sie hatte noch nie so ein widerwärtiges Wort gehört, und deshalb sagte sie es, auch wenn es nicht leichtfiel.

      Aber eine beste Freundin?

      ‚Beste Freundin?‘ Sie ging doch nicht mehr in den Kindergarten?

      Nein, aber irgend einen guten Freund oder eine gute Freundin mußte sie doch haben.

      ‚Tja, das wäre dann wohl Anki‘, aber auch wenn sie viel miteinander redeten und sich ziemlich oft trafen, so gab es doch eine Menge Dinge, die sie nie erzählte, und das mit Ricky war so eine Sache. Anki würde bloß nervös werden und angestrengt kichern und über etwas anderes reden – über Kleider, zum Beispiel.

      Niemand nahm sie ernst. So war es. Niemand hörte ihr zu.

      Aber wenn man jemanden dafür bezahlen würde? Die Leute bezahlen ja auch Geld für ihre Psychologen und Therapeuten. ‚Es gibt vielleicht Leute, die meinen, ich würde auch eher so einen brauchen, aber das stimmt absolut nicht.‘

      Sie hatte ein bißchen Geld auf ihrem Sparbuch, auch wenn es nicht sehr viel war. Und wenn sie bitten und betteln würde, dann könnte sie bestimmt auch ihrem Vater etwas aus der Tasche ziehen, das war nicht schwer.

      Eine Woche später hatte sie sich überredet, und mit einem großen, nervösen auf- und abhüpfenden Kloß im Hals machte sie das rostige Gartentor auf, fiel fast in Ohnmacht vor Schreck, weil ein altes Fahrrad mit unglaublichem Krachen und Poltern auf den fast überwachsenen Schieferplattenweg fiel. Die rostige Klingel am Lenker hatte einen schrillen Ton, der lange nachhallte. Mit zittrigen Schritten kletterte sie über das rostige Fahrrad, das einen aufgeplatzten Sattel hatte und ursprünglich innen gegen das Gartentor gelehnt war.

      ‚Unglaublich bescheuerter Platz zum Fahrradabstellen. Kein Wunder, daß es verrostet ist‘, dachte sie und kämpfte sich durch das Gestrüpp zu Theodor Bachs baufälligem Haus durch.

      Nur zwei Stunden später hatte sie ihr Vorhaben mehrmals zutiefst bereut.

      4

      Der große Seufzer

      „Wenn ich [kau, schmatz, kau] dich recht verstehe, dann sieht es also so aus [der ganze Unterkiefer bewegt sich ruckartig seitwärts, und dabei wird jedes Mal ein Muskel entlang des Halses sichtbar; schmatzschlürfende Geräusche], korrigier mich, wenn ich [rülps, schmatz, schluck] was falsch verstanden habe [rülps]. Gott [stöhn], war das gut. Ahh!“

      Theodor Bach reckte sich nach einem Keramikbecher, der so eingeschmutzt war mit braunem Kaffeemuster, das der Karte eines sehr komplizierten Flußdeltas glich – dem Nildelta zum Beispiel.

      „Wart einen Moment, ich muß erst einen [hält mit dem Zeigefinger den Löffel beiseite] Schluck [trinkt; schluck, schluck – der Adamsapfel hüpft rauf und runter] – ahh. So.“

      Stephanies Blick glitt weg und suchte das Fenster. Da draußen war der Morgennebel etwas lichter geworden und hatte die Sonne durchgelassen, die durch die ungewöhnlich vielen gelbgrün schimmernden Blätter leuchtete, die immer noch an den Zweigen von zwei großen Ahornbäumen hingen. Das bleiche Licht ließ die Beerentrauben einer Eberesche aussehen wie rotglitzernde Edelsteine. Auf der Rückseite des Hauses war der Garten nicht ganz so zugewachsen, und außer den Ahornbäumen gab es einen erstaunlich großen, schwarzen, protzigen, gußeisernen Brunnen, der ganz ähnlich aussah wie der im Kungsträdgården. Der Brunnen war abgedreht und stand auf einem moosgrünen Rasen, der mit bräunlichen Blättern bestreut war. Ein Kiesweg führte zu einem Sandkasten und einem rostigen Schaukelgestell mit zwei Schaukeln aus alten Autoreifen.

      Von der Küche aus konnte man auch über die Mauer sehen, auf eine feuchtglänzende Straße und einen Briefträger. Er fuhr auf einem gelben Fahrrad mit langsamen, leicht schwankenden Bewegungen vor einer tief dunkelroten Hecke.

      Es sah recht nett und friedlich aus, fand sie, erheblich angenehmer, als Theodor Bach anzuschauen, der ihr seit gut einer Stunde am Küchentisch gegenübersaß und sein sogenanntes Frühstück in sich hineinstopfte, während die Übelkeit in ihrem Bauch hin- und herschwappte. ‚Vielleicht ist es der Kaffee? Es schmeckt überhaupt nicht so, wie Kaffee sonst schmeckt.‘

      „Ißt du immer so viel?“ fragte sie, ohne den Briefträger aus den Augen zu lassen.

      „Nein, aber man soll nichts umkommen lassen. Und der Lammbraten war heute fast noch besser – unglaublich perfekt gewürzt, wenn ich [donnernder Rülpser] – ups, sorry – das sagen darf. Weißt du, molto perfettamente, der Rosmaringeschmack, den man gleichsam nur ahnt neben dem eigenhändig von mir gezogenen Thymian und etwas Worcestershiresauce. Ich hätte allerdings das Kartoffelgratin aufwärmen sollen. Ja, ja, es war sehr gut. Okay, um das Ganze zusammenzufassen: Der Vater deines Freundes ist verschwunden. Ganz einfach, oder nicht?“

      „Ähm ... doch, an und für sich schon“, sagte sie und fand, daß es ziemlich jämmerlich und nach nicht viel klang.

      Eine ganze Stunde lang hatte sie dagesessen und alles erzählt, direkt und von Anfang an. Warum? Sie konnte es nicht begreifen. Wie bitte, glaubte sie etwa, daß dieser bärtige, eklige Knacker ihr helfen könnte. War er überhaupt ein „Knacker“? Wie alt war er eigentlich? Manchmal hatte er frappierende Ähnlichkeit mit einem verwirrten Fünfzehnjährigen. Merkwürdigerweise war der Glaskäfig weg, der war wohl schon verschwunden, als sie ohnmächtig wurde. Sie hörte ihre Stimme wie immer und hatte auch nicht mehr das Gefühl, neben sich zu stehen. ‚Sehr merkwürdig, aber wunderbar.‘ Erzählte sie deshalb so viel? Weil es so angenehm war, die Stimme wieder normal zu hören? Oder kam es von was anderem? Daß sie Vertrauen für ihn empfand, das konnte es kaum sein. Oder doch?

      Theodor Bach hatte geschmatzt und geschlungen und gegessen und genickt und kaum ein Wort gesagt. Außer einmal, als seine Augen plötzlich ihren Blick auffingen, der ansonsten immer Stellen zu finden versuchte, wo er nicht auf Theodor zu schauen brauchte, aber gerade da hatte sie ihn schnell angeschaut, weil ihre Ohren ihr mitgeteilt hatten, daß er doch tatsächlich gurgelte. Und sie hatten völlig recht – er hielt in der einen Hand ein Glas, es war etwas Weißes, Undurchsichtiges drin; er schaute zur Decke und tat genau, was ihre Ohren behaupteten: Er gurgelte. Bevor sie wegschauen konnte, hörte er auf, schluckte, starrte sie an und fragte:

      „Nimmst du die Pille?“

      „Was?“


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