Ultramarin. Henrik Tandefelt
auch Taisto sitzt ein Termin im Nacken. Er muss die Kinder von der Schule abholen und zu ihrer Oma bringen. Er tut das mehr aus Spaß, erklärt er. Die Großmutter wohnt ganz in der Nähe der Schule. Wir begleiten ihn und lernen die Kinder, zwei gesprächige Mädchen, kennen, ehe uns Taisto zu Ollis Sommerhaus zurückfährt. Zum Müßiggang hat er keine Zeit, jetzt, da eine Leiche in seinem Distrikt aufgetaucht ist.
»Als Dimitri starb – falls es sich bei dem Toten wirklich um Dimitri handelt –, gehörte diese Gegend zum Polizeidistrikt von St. Mickel«, erklärt Olli. »Deshalb sind die Polizisten von dort gekommen. Heutzutage sind eigentlich die Kollegen aus Heinola zuständig.«
»Warum Heinola?«, frage ich in Unkenntnis des finnischen Polizeiwesens.
»Weil alles neu organisiert worden ist. Wenn’s dich interessiert, erkläre ich dir gern die Paragrafen und Reichstagsbeschlüsse.«
»Nicht nötig, ich frage mich nur, wer für den Fall eigentlich zuständig ist. Wenn ich mich nicht irre, liegt Heinola doch ein gutes Stück weiter südlich. Die Polizisten kamen aber aus St. Mickel, das noch weiter weg ist, in Richtung Osten.«
»1996 sind die Bezirksgrenzen neu gezogen worden, nachdem man dreißig Jahre darüber diskutiert hat und mit tausend Kompromissen lebte. Vor der Reform gab es in Finnland über zweihundert Polizeidistrikte, davon sind sechsundneunzig übrig geblieben. In Schweden sind es, glaube ich, einundzwanzig«, sagt Olli und fügt beiläufig hinzu, dass die Aufklärungsquote in Finnland erheblich höher sei als im westlichen Nachbarland. Mein Erstaunen veranlasst ihn zu einem ausschweifenden Bericht.
»In Finnland werden gut 59% aller Verbrechen aufgeklärt, in Schweden ungefähr 26«, erklärt Olli und präzisiert: »Ich spreche von Verbrechen gegen das Strafgesetzbuch. Nimmt man alle Vergehen als Maßstab, ist die Aufklärungsquote noch besser und dürfte bei gut 70% liegen. Frag mich nicht, wie das errechnet wird«, lacht er, »damit habe ich nichts zu tun.«
»Ist ja ein ganz schöner Unterschied. In Finnland Verbrecher zu sein ist offenbar kein Vergnügen.«
»Ach, wer weiß, vielleicht geht auch alles auf einen Rechenfehler zurück. Wie die Zahlen zustande kommen, weiß ich wirklich nicht, aber die Relation wird schon ungefähr stimmen. Nein, Ganoven haben’s wirklich nicht leicht bei uns.«
»Hoffen wir, dass sich das rumspricht. Aber wer ist nun für diesen Fall zuständig?«
»Offiziell wohl St. Mickel, aber ein Großteil der praktischen Arbeit wird sicher von den Kollegen vor Ort erledigt.«
6
Manchmal muss man sich schon wundern, was man alles mitmacht. Zumindest für mich war es das erste Mal, dass ich ein Skelett im Wald gesehen habe.
Doch selbst ein Profi wie Olli wirkt ein wenig bedrückt. Er steht schweigend am Herd und bereitet unser Abendessen zu: Hechtfrikadellen nach Art des Hauses.
Der Nachmittag war strahlend schön gewesen. Wir hatten nichts Bestimmtes getan. Gebadet. Gefaulenzt. In der Zeitung geblättert. Ein bisschen über Dimitri geredet und über sein Ende im Wald spekuliert.
Wir wissen nicht mehr von ihm, als dass er bei Bäck gewohnt und gearbeitet hat. Sich um den Hof, die Tiere und den Wald gekümmert hat. Bäcks rechte Hand. Bis er verschwand. Niemand kennt die näheren Umstände, doch liegt ein Zusammenhang mit Bäcks Tod auf der Hand. Glauben wir zumindest. Mit dem Fahrrad, mitten im Winter? Zumindest das Warum scheint geklärt zu sein. Bleibt die Frage nach dem Wohin.
Wohin wollte er mit dem Fahrrad? Hatte er jemanden treffen wollen?
»Ist schon ein komisches Gefühl für einen Polizisten«, sagt Olli, um seine Wortkargheit zu erklären. »Da wird jemand ganz in deiner Nähe umgebracht, und mit den Ermittlungen hast du nichts zu tun.«
»Warten wir ab, was deine Kollegen aus St. Mickel herausfinden. Und wer verbietet uns denn, eigene Überlegungen anzustellen? Soviel ich weiß, ist es nicht verboten, einen Mörder zu finden, auch wenn man nicht mit der Suche beauftragt wurde.«
»Stimmt schon ...«
»Sag mal, hältst du es eigentlich für möglich, dass die Uhr gestohlen wurde? Dass der Tote ein anderer war? Weiß irgendjemand, wo Dimitri herkam? Vielleicht gibt es Verwandte, die benachrichtigt werden sollten.«
»Nicht dass ich wüsste. Bisher ist rein gar nichts über ihn bekannt. Niemand weiß, wie lange er sich ohne Visum ihn Schweden aufgehalten hat. Diese Gegend ist ja nicht sonderlich dicht besiedelt. Da sollte es einem nicht so schwer fallen unterzutauchen«, entgegnet Olli und stellt die Hechtfrikadellen auf den Tisch.
»Vielleicht hatte er eine Freundin oder ist mal zum Zahnarzt gegangen. Irgendjemand wird ihn doch wohl gekannt haben.«
»Wir wissen es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass der Gerichtsmediziner aus dem Skelett noch viele Erkenntnisse ziehen kann. Soweit ich das erkennen konnte, hat er eine Kugel in die Brust bekommen. Vermutlich eine Hinrichtung. Eine Kugel direkt ins Herz. Zwei Rippen sowie das Brustbein waren gebrochen. Wenn er erschossen wurde, wie ich glaube, dann starb er vermutlich an Ort und Stelle«, sagt Olli.
»Vielleicht konnte er sich dort hinschleppen, wo wir ihn gefunden haben.«
»Mit einer Kugel im Herzen?«
»Was ist mit Selbstmord?«
»Glaub ich nicht. Warum hätte er dann so weit mit dem Fahrrad fahren, sich durch das Gestrüpp kämpfen und unter einer Fichte verstecken sollen? Nein, nein, Selbstmord sieht anders aus.«
»Aber all seine Sachen? Wenn er bei Bäck auf dem Hof wohnte, dann muss er doch auch persönliche Dinge besessen haben.«
»Was glaubst du eigentlich, was die Polizei getan hat, nachdem Dimitri verschwunden war? Natürlich sind seine Sachen durchsucht worden, Stück für Stück. Das hat ungefähr drei Minuten gedauert. Wenige Kleidungsstücke, ein paar Bücher, Zeichnungen, Seife, Handtücher – nichts, was auch nur im Geringsten Aufschluss über seine Identität geben könnte. Allerdings war er ein ziemlich begabter Zeichner.«
»Was hat er gezeichnet?«
»Tiere, die Natur, den Hof, Stillleben, Porträts von Jens Bäck.«
»Wie merkwürdig«, murmele ich, während ich den Tisch decke.
»Und doch hat er keinerlei Spuren hinterlassen. Wir haben natürlich schon damals bei unseren russischen Kollegen angefragt, aber das hat auch nichts gebracht. Als hätte er nie existiert, und doch scheint ihn jemand gut genug gekannt zu haben, um ihm eine Pistole auf die Brust zu setzen und eine Kugel ins Herz zu jagen. Da kriecht man nirgends mehr hin. So, und jetzt will ich nicht mehr darüber reden. Lass uns einfach essen und an etwas anderes denken. Vielleicht kommt ja was Schönes im Fernsehen heute Abend ...«
Das Thema zu beenden fällt mir zwar nicht leicht, aber die Hechtfrikadellen sind wirklich nicht zu verachten, sie schmecken sogar ausgezeichnet. Und was das Fernsehprogramm angeht, haben wir ebenfalls Glück: ›Alarm im Weltall‹, ein Film von Fred M. Wilcox aus dem Jahr 1956. Vor vielen, vielen Jahren habe ich ihn schon mal gesehen. Ein amerikanischer Astronaut findet im Jahr 2200 auf einem fernen, technisch fortschrittlichen Planeten einen dort gestrandeten wahnsinnigen Wissenschaftler, dessen Gedanken zerstörerische Wirkung haben. Er verliebt sich in dessen Tochter und kann sich mit ihr auf die Erde retten. Ich glaube, das war der erste Film mit rein elektronischer Musik. Über die Qualität des Films lässt sich streiten, aber er macht uns Spaß und bringt uns auf andere Gedanken.
Nach dem Weltraumabenteuer trinken wir Tee, und ich sage Olli, dass ich morgen früh nach Hause fahre. Im Moment bleibt uns doch nichts zu tun. Bella und die Hunde brauchen mich, außerdem kann ich ja jederzeit wiederkommen.
Ich spüre, dass der Fall Bäck und Dimitris Tod mich so schnell nicht loslassen werden. Ich muss recherchieren. Jedenfalls ein bisschen.
Am nächsten Morgen verabschiede ich mich, steige ins Auto und trete die Heimreise an. Fahre auf dem kürzesten und schnellsten Weg nach Helsinki, wo ich in den Hägnashallen noch ein paar Blätterteigpasteten kaufe, ehe ich