Ultramarin. Henrik Tandefelt
Kollegen Reijo und Rauno.«
Während wir uns die Hand geben, denke ich, dass er wirklich nicht älter als dreißig sein kann. Ich schnappe mir noch rasch meine Kamera, bevor wir uns auf den Weg machen. Taisto nimmt uns in seinem Wagen mit und gibt mächtig Gas.
»Wer hat das entdeckt?«, frage ich. Wörter wie »Toter« oder »Leiche« wollen mir an einem so schönen Sommermorgen nicht über die Lippen.
»Ein schwedischer Tourist. Vielleicht hatte er ein menschliches Bedürfnis. In diesem Wald geht man eigentlich nicht spazieren«, entgegnet Taisto, während er auf einen größeren Weg abbiegt und das Tempo erhöht. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Wie heißt der denn?«, frage ich.
»Rolf Nodén, ein Rentner aus Uppsala.«
Wenn ich mich nicht irre, sind wir in Richtung Norden unterwegs. Nach ungefähr zwölf Kilometern halten wir an, steigen aus und folgen Taisto, der links in den Wald einbiegt. Nachdem wir uns eine Weile durch von Mücken bevölkertes und fast undurchdringliches Gestrüpp gekämpft haben, erreichen wir das Ufer eines Weihers. Dort steht ein Mann und wartet auf uns. Taisto begrüßt ihn, dann führt der Mann uns zum Fundort.
Von dem Körper ist nicht mehr viel zu erkennen. Neben einem Ameisenhügel unter einer Fichte liegen mehrere Zweige. Darunter ist ein Schädel zu erahnen, der aus einem ausgebleichten Nylonhemd herausschaut. Von der Hose sind nur noch Reißverschluss, Gürtel und Knöpfe übrig geblieben. Dort, wo sich vermutlich die Hosentaschen befanden, liegen ein paar Münzen, finnische Mark, sowie eine große, altmodische goldene Taschenuhr mit Deckel und Kette. Auf der Rückseite ist in finnischer Sprache eingraviert: Für Dimitri von Jens mit ewigem Dank.
Einige Knochen liegen in der Gegend verstreut, wahrscheinlich von Tieren verschleppt. Bei näherem Hinsehen findet man unter den Zweigen noch Stoffreste, die einst die Leiche bedeckten. Wir ziehen uns zurück, um keine Spuren zu verwischen.
Natürlich können wir nicht völlig sicher sein, aber fünfundneunzig Prozent sind ja auch schon was. Es ist Dimitri, der gefunden wurde, doch wie er hierher kam, ist eine offene Frage. Hatte man ihn misshandelt und einfach aus einem fahrenden Auto geworfen? War er daraufhin in den Wald gekrochen?
»Wo ist der Mann, der ihn gefunden hat?«, fragt Olli.
»Auf dem Heimweg nach Uppsala. Wir haben seine Aussage schon zu Protokoll genommen.«
Während wir auf die Polizisten warten, die mit dem Auto aus dem entfernten St. Mickel kommen, durchstreife ich ein wenig die Gegend. Kämpfe mich durch den Wald, bis ich die nächste Straße erreiche. Überlege, wer wohl die Ermittlungen in diesem nicht ganz frischen Fall übernehmen wird.
Weder Pfade noch Wege, kein Haus weit und breit. Ein vergessenes, unberührtes, nahezu undurchdringliches Waldstück, das offenbar keinem Forstwirtschaftsunternehmen gehört. Sicherlich wird auch dieser alte Fall, in dem es weder Spuren noch Zeugen gibt, rasch zu den Akten gelegt werden.
Nahe der Straße, ein paar Kilometer weiter nördlich, glaube ich, stoße ich auf ein Haus. Ein unansehnliches Haus mit ebenso hässlichen Nebengebäuden und einer Garage. An Wohnlichkeit oder architektonische Finessen war hier kein Gedanke verschwendet worden. Auf dem Briefkasten an der Straße steht Suominen. Der Schornstein raucht. Ich klopfe an. Eine Frau mittleren Alters schaut aus dem Fenster. Offenbar sehe ich halbwegs vertrauenswürdig aus, denn sie öffnet tatsächlich. Ich berichte in aller Kürze, was geschehen ist, und frage sie, ob sie etwas Verdächtiges gehört oder gesehen habe.
Sie bittet mich wortlos herein. Sie greift nach einem Notizblock, und noch während wir den Flur hinuntergehen, notiert sie darauf etwas auf Finnisch:
Vor fünf oder sechs Jahren hat ein fremder Mann sein Fahrrad in der Nähe des Hauses stehen lassen. Vielleicht ist er es, der gefunden wurde. Er ist nie zurückgekommen, um sein Fahrrad zu holen. Mindestens ein halbes Jahr lang war es unter dem Schnee begraben. Dann habe ich es in den Schuppen gestellt, damit es nicht völlig verrostet.
Wir setzen uns in ein überraschend gemütliches Wohnzimmer. Jedenfalls steht das Innere des Hauses in deutlichem Kontrast zu seinem Äußeren. Ich will gerade etwas sagen, da geht mir durch den Kopf, dass sie möglicherweise auch taub ist und mir jedes Wort von den Lippen abliest. Ich wende mich ihr zu, damit sie meinen Mund sehen kann, zucke die Schultern und sage, dass die Identität des Mannes noch ungeklärt sei. Dann frage ich sie, ob sie irgendetwas beobachtet hat, das sie in der Vermutung bestärkt, dass wir tatsächlich den Mann mit dem Fahrrad gefunden haben. Während ich die Frage formuliere, bemerke ich, dass sie meine Lippen nicht anzusehen braucht. Sie hat mich verstanden, nickt und notiert:
Ich bin mir nicht sicher, aber kurz nachdem der Mann sein Fahrrad hier abgestellt hatte, fuhr ein Auto vorbei. Dort, wo das Fahrrad stand, verlangsamte es seine Fahrt. Vermutlich hielt er hinter der nächsten Kurve an, denn eine Stunde später hörte ich beim Holzholen, wie ein Motor angelassen wurde. Andere Autos sind während dieser Zeit nicht vorbeigefahren.
Sie gibt mir den Block, nimmt ihn jedoch sogleich wieder zurück und schreibt weiter:
Ich habe nichts gehört, und bisher hat keiner nach ihm gefragt, aber manchmal höre ich Schüsse im Wald. Ich glaube, da jagt jemand Kleinwild auf unserem Grund.
Gut. Dann brauche ich danach nicht mehr zu fragen. Jetzt sollen sich erst mal die Polizisten aus St. Mickel der Sache annehmen. Dann sehen wir weiter. Ich frage sie, ob sie sich an die Marke des Autos erinnert, das hinter der Kurve anhielt.
Ja, es war ein Dodge Van. Ein älteres Modell. Hellgrau, aber da kann ich mich irren. Er war sehr schmutzig und könnte auch beige oder weiß gewesen sein. Ich weiß nicht, wie viele Personen in dem Auto waren.
Ich frage sie, ob ich ihre schriftlichen Antworten mitnehmen darf, und sie bejaht. Dann sage ich ihr, dass sie vermutlich bald Besuch von ein paar Polizisten bekommen wird, die sie befragen werden. Sie nickt und sieht dabei ziemlich fröhlich aus. Wahrscheinlich bekommt sie nicht oft Besuch, denke ich mitleidig.
Kommen Sie an einem Samstag wieder, wenn Sie wollen. Dann ist Antero, mein Mann, auch hier. Er arbeitet derzeit in der Nähe von Kajanu, kommt aber am Wochenende nach Hause. Ihm gehört der alte Wald. Seit ich ihn kenne, also in den letzten dreißig Jahren, hat er dort keinen Finger gerührt, aber nun ist es wohl an der Zeit.
»Ich werde es versuchen«, entgegne ich. »Und die Polizei wird sich in jedem Fall mit Ihrem Mann in Verbindung setzen.« Mit diesen Worten stehe ich auf und ziehe mich in den Flur zurück.
Mögen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?, schreibt sie, doch leider habe ich keine Zeit mehr. Sonst riskiere ich noch meine Mitfahrgelegenheit. Außerdem werden die Beamten aus St. Mickel bald kommen.
Ich verabschiede mich und trete den Rückweg an, immer die Straße entlang. Denke an Bella, die allein in Helsinki ist. Ich gehe an der Stelle vorbei, an der vermutlich der Dodge gestanden hat. Als ich wenig später Taisto begegne, erzähle ich ihm von meinem Gespräch mit der Frau. Darum würden sich seine Kollegen aus St. Mickel kümmern, sagt er.
Nach weiteren zwanzig Minuten sind sie da, seine Kollegen. Taisto, der offenbar einige von ihnen persönlich kennt, geht voraus. Ich folge in gemessenem Abstand. Nach einer Weile lassen wir sie am Fundort allein.
»Tja, jetzt kann uns wohl niemand mehr helfen, das Verbrechen an Bäck aufzuklären«, seufzt Olli auf dem Rücksitz. Taisto fährt schweigend.
»Das ist alles vor meiner Zeit passiert. Ich bin vor zirka zwei Jahren hierher gekommen. Hast du Bäck eigentlich gekannt?«, fragt Taisto, während er Olli im Rückspiegel anschaut.
»Alle hier in der Gegend wussten, wer er ist, doch kaum jemand kannte ihn näher. Soweit ich weiß, hatte er auch keine Verwandten. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass das bei den Ermittlungen eine Rolle spielte«, antwortet Olli.
»Aber gekannt hast du ihn doch, oder?«, wiederholt Taisto seine Frage.
»Ich war ein paar Mal bei ihm in der Praxis. Einmal, als meine Jüngste von einer Schlange gebissen worden war; sonst waren es Masern oder andere Kinderkrankheiten, die immer während