Ultramarin. Henrik Tandefelt

Ultramarin - Henrik Tandefelt


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er war nicht direkt unfreundlich, aber ziemlich mürrisch«, entgegnet Olli.

      »Dacht ich mir’s doch.«

      »Hatte er irgendwelche Feinde, ich meine Leute, die ihn so hassten, dass sie in der Lage gewesen wären, bei ihm einzubrechen und ihn zu misshandeln?«, frage ich ins Blaue hinein.

      »Glaub ich nicht. Die meisten Leute hielten sich von ihm fern«, brummt Olli, fährt die Scheibe hinunter und entlässt eine fette Bremse nach draußen, ehe er weiterspricht: »Der einzige Verdächtige ist Dimitri – obwohl sie so nah beieinander wohnten, aber was weiß ich, was für ein Verhältnis sie zueinander hatten. Die Leute hatten Angst vor Jens Bäck. Er muss seine erwachsenen Patienten ziemlich schroff behandelt haben und war allgemein bekannt für sein ungehobeltes Auftreten. Dennoch war er ein geschätzter Arzt, der sicher den meisten Leuten in dieser Gegend irgendwann mal geholfen hat.«

      »Stimmt, er war ein bekannter, nahezu legendärer Griesgram«, bestätigt Taisto. »Das hab sogar ich gehört, obwohl ich noch nicht lange hier wohne.«

      »Griesgram ist vielleicht der falsche Ausdruck«, entgegnet Olli, »aber unbequem und stur soll er gewesen sein. Legte wohl auch wenig Wert auf Kontakte mit anderen Menschen und pflegte keine Freundschaften, soweit mir bekannt ist.«

      »Weder männliche noch weibliche?«

      »Nein. Nur die Kinder mochte er außerordentlich gern und war wie ein Engel zu ihnen. Die Ermittlungen haben jedoch keinen einzigen erwachsenen Bekannten in dieser Gegend zutage gefördert. Allerdings war er ziemlich viel auf Reisen und pflegte seine sozialen Kontakte möglicherweise woanders. Vielleicht gab es befreundete Ärzte?«

      »Was ist mit dem Internet? Hatte er einen Computer?«

      »Das haben wir natürlich überprüft. Er hatte zwar einen Internetzugang, hat ihn jedoch nie zum Surfen benutzt. Dabei ist es an sich schon ungewöhnlich, dass Leute in seinem Alter einen Computer haben. Er war wohl in jeder Hinsicht ein Original, was ja auch der absolute Mangel an Einrichtungsgegenständen in seinem Haus zeigt. Das allein hätte viele Leute doch schon abgeschreckt. Er war wirklich sehr speziell.«

      »Und wie sah seine Praxis aus?« Der schrullige Arzt interessiert mich immer mehr.

      »Ziemlich normal, soweit ich mich erinnere. Der Ermittlungsbericht geht darauf nicht ein. Doch sein Wohnhaus muss schier unglaublich ausgesehen haben«, fügt Olli kopfschüttelnd hinzu und erzählt ein paar Einzelheiten. Das meiste hört sich zwar nach Klatsch und Tratsch an, aber immerhin ...

      Bäck hatte nahezu sein gesamtes Berufsleben auf seinem Hof Hiitelä verbracht. Von einer Frau, Verlobten oder Freundin hatte man nie etwas gehört oder gesehen. Das Ambiente seines Hauses gab Anlass zu manchen Gerüchten, die jedoch niemand aus eigener Anschauung bestätigen konnte. Auch rätselte man, woher Bäck ursprünglich gekommen war. Die Ermittlungen der Polizei ergaben schließlich, dass er aus Helsinki kam. Er galt allgemein als tüchtiger und erfahrener Arzt, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Wer ihn als Patient aufsuchte, dem wurde geholfen. Dennoch gingen viele Leute aus der Gegend zu anderen Ärzten, auch wenn sie dafür eine längere Fahrt in Kauf nehmen mussten. Je älter er wurde, desto mehr Angst flößte er den Menschen ein. Seine Zunge wurde immer spitzer, sein Humor schärfer, die Umgangsformen wurden rauer. Nur die Kinder bekamen davon nichts zu spüren. Sie behandelte er weiterhin mit derselben Fürsorglichkeit und Behutsamkeit wie eh und je. Die Kinder liebten ihn.

      »Er hätte Kinderarzt werden sollen, aber wie dem auch sei, das Merkwürdigste, vor allem auf seine alten Tage, war doch sein Lebensstil. Meterhohe Zeitungs- und Bücherstapel, dazwischen nur noch schmale Gänge. Ab und zu erkannte man Teile der einstigen Einrichtung, die obere Kante einer Standuhr, einen schmutzigen Vorhang oder die Ecke eines Bilderrahmens. Und durch all dieses Chaos watschelten die Enten, wenn man den Spuren glauben darf«, berichtet Olli.

      »Das ganze Haus war in einem erbärmlichen Zustand«, bestätigt Taisto. »Die Käufer haben wohl unterschätzt, was da auf sie zukommt, und es bald wieder abgestoßen. Jetzt steht es schon seit Jahren leer. Sie hätten es an mich verkaufen sollen«, seufzt er. »Ich hätte es gerne instand gesetzt.«

      »Woher weißt du, wie es bei ihm innen aussah?«, frage ich Taisto.

      »Weil meine Eltern Bäck mal besucht haben, ungefähr zwei Jahre vor seinem Tod. Mein Vater ist Immobilienmakler. Bäck hatte damals mit dem Gedanken gespielt, den Hof zu verkaufen und nach Lahti zu ziehen. In eine Wohnung nahe dem Altersheim. Er sagte, er wolle auf alles vorbereitet sein. Er war ja auch schon fast achtzig«, erklärt Taisto hinter dem Steuer.

      »Es war also nicht dein Vater, der sich um die Auflösung des Haushalts gekümmert hat?«, frage ich sicherheitshalber.

      »Nein, Gott sei Dank nicht«, entgegnet er, worauf Olli den Bericht fortsetzt:

      »Der gesamte Hausrat wurde versteigert, der Rest landete auf der Müllhalde. Zunächst war der Hof von einer Familie gekauft worden, die ihn restaurieren wollte. Aber sie waren noch nicht weit gekommen, als sie es aufgaben und ihn wieder verkauften. Die nächsten Eigentümer werkelten ebenfalls ein bisschen herum, bis auch sie das Handtuch warfen.«

      »Heute gehört er der Kommune. Wenn ich richtig informiert bin, soll auf dem Grundstück ein Kunst- und Kulturzentrum entstehen. Die Lage ist ja wirklich sehr schön«, ergänzt Taisto.

      »Gibt es jemanden aus der Gegend, der etwas vom Hausrat ersteigert hat?«, frage ich.

      »Aber ja!«, antwortet Taisto stolz. »Für zehn Kronen habe ich einen hübschen schwarzen Spazierstock gekauft. Und jetzt halt dich fest! Zu Hause hat meine Frau entdeckt, dass es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Spazierstock handelt: Der hat eine eingebaute Klinge. Eine richtige Mordwaffe ist das«, sagt er lachend.

      »Eine Klinge?«

      »Ja, man kann das Ende abschrauben und eine siebzehn Zentimeter lange Klinge herausziehen. Die ist nicht nur blank und scharf, sondern auch sehr hübsch, hergestellt in Toledo, mit einer Unmenge von Verzierungen. Ich zeig sie dir, wenn wir bei mir sind«, sagt Taisto.

      »Wird höchste Zeit, dass wir was in den Magen kriegen«, grummelt Olli. »Wegen deines Totenkopfs haben wir noch nicht mal frühstücken können ...«

      »Keine Sorge, ich kümmere mich schon.« Taisto ruft seine Frau an und erklärt ihr, wir seien alle fürchterlich ausgehungert. Kurz vor Sysmä biegt er auf einen kleinen Weg ab und parkt vor einem Neubau. Das Haus steht nahezu einsam im Wald. In einiger Entfernung sieht man zwei Nachbarhäuser durch die Bäume schimmern. Es ist eine hübsche kleine hellgraue Villa mit weißen Eckbalken. Davor befinden sich ein gepflegter Rasen, eine Fahnenstange sowie eine Doppelgarage, in der ein älterer Ford Escort steht.

      »Virpi ist Krankenschwester und arbeitet meist nachmittags und abends. Kann also sein, dass sie’s ziemlich eilig hat ... kommt rein, Jungs!«

      Wir treten uns sorgfältig die Füße ab und stellen unsere Schuhe auf den Flur. Taistos Frau streckt den Kopf aus der Küche. Sie muss ein paar Jahre jünger sein als er.

      »Essen ist gleich fertig!«, sagt sie und begrüßt uns, bevor wir von Taisto ins Wohnzimmer geführt werden.

      In einem Bücherregal, in dem überwiegend gähnende Leere herrscht, ruht auf einem kleinen schwarzen Holzgestell der elegante Spazierstock. Taisto nimmt ihn herunter, dreht an einem Ende, und schon hat er einen kleinen Degen in der Hand.

      »Nicht schlecht, oder? War bestimmt mal zur Selbstverteidigung gedacht«, mutmaßt er.

      »Oder um zu töten«, sagt Olli.

      »Das Alter lässt sich nur schätzen. 18. Jahrhundert, würde ich sagen«, meint Taisto stolz.

      Ich selbst tendiere eher zum ausgehenden 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert. Aber wer weiß. Im Grunde habe ich keine Ahnung. Eine Verteidigungswaffe hatte Bäck jedenfalls besessen, doch vermutlich lag der kleine Degen unter Zeitungsstapeln und Gerümpel verborgen oder befand sich in einer unerreichbaren Kommodenschublade, als er ihn gebraucht hätte.

      Nachdem wir Taistos Auktionserwerb ausgiebig bewundert haben,


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