Herzen im Kampf. Liane Sanden

Herzen im Kampf - Liane Sanden


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besass. Die Wirtin der Fremdenpension, in der Marlene lebte, sah sie von Tag zu Tag unfreundlicher an. Sie hatte ja seit Wochen keine Zahlung mehr für Essen und Unterkunft bekommen. Dabei wohnte man bei Frau Reschke sowieso nur geduldet. Ohne das Machtwort von Marlenes Rechtsanwalt, des berühmten Strafverteidigers Lerch, den Frau Reschke gut kannte und ausserordentlich schätzte, hätte sie niemals eine „Vorbestrafte“ bei sich aufgenommen. Das bekam das junge Mädchen täglich von ihr zu hören.

      Als ob sie selber nicht die Schande und den Schmerz immer wieder in sich aufbrennen fühlte! Immer wieder bäumte sie sich auf gegen die Ungerechtigkeit dieses Urteilsspruchs. Die Justiz, in deren Maschen sie geraten, hatte nur die Tat und nicht die Motive gesehen. Aber die Tat hatte nun eben für ihre Schuld gesprochen. Es war ihr nicht möglich gewesen, den Beweis für den guten Glunben, aus dem heraus sie gehandelt, zu geben. Keinen Menschen hatte sie mehr auf der Welt, der zu ihr stand. Der einzige wäre der Pflegevater gewesen. Trotz und allem hätte er vielleicht an sie geglaubt, doch er war ja plötzlich gestorben. Wäre nicht der Verteidiger, Dr. Lerch, so menschenfreundlich gewesen, die ersten Tage nach ihrer Entlassung sich ihrer anzunehmen, sie hätte auf der Strasse gelegen. Doch er hatte Marlene in seine Obhut genommen und sie zu Frau Reschke gebracht. Als er sich dann kurz von ihr verabschiedete, lag eine kleine Geldsumme auf dem Tisch des bescheidenen Stübchens, das ihr eingeräumt worden war. Zum Schlusse hatte er ihr noch gesagt, sie möchte sich wieder einmal bei ihm melden, um ihm zu sagen, was sie unternehmen wolle und ob er ihr irgendwie behilflich sein könne. Aber in ihrem übertriebenen Feingefühl, durch die furchtbaren Erlebnisse geradezu krankhaft empfindlich geworden, konnte sich Marlene nicht entschliessen, den vielbeschäftigten Anwalt nochmals aufzusuchen. Sie wollte nicht ein zweitesmal ein Almosen von ihm in die Hand gedrückt bekommen. Und Dr. Lerch, der arbeitsüberlastete, vergass im Drange der Geschäfte seine junge Klientin. In seinen Akten wie in seinen Gedanken hatte die Tragödie „Marlene Hagen“ ihren vorläufigen Abschluss gefunden ...

      Wäre Marlene etwas leichtsinniger oder weniger stolz gewesen, es hätte sich vielleicht eine schnelle Verdienstmöglichkeit für sie gefunden. Aber keines der verlockenden Angebote, die ihr bereits am Morgen des zweiten Prozesstages zugegangen waren, kamen für sie in Betracht. Sie wollte weder in einem Film, der ihre traurigen Erlebnisse auf die Leinwand brachte, die Hauptrolle übernehmen, also sich selbst spielen, noch über ihr Schicksal, in Gestalt von „Lebenserinnerungen“, schreiben, oder andere schreiben lassen. Sie wollte Arbeit, Verdienst, um an ihrem früheren Brotgeber das gutzumachen, worum sie ihn geschädigt hatte.

      „Setzen Sie sich doch einmal mit Hanna Sturm von der ‚Zeit‘ in Verbindung, und beziehen Sie sich auf mich!“ hatte ihr Dr. Lerch wiederholt geraten. „Leute von der Presse wissen meistens einen Rat!“

      „Niemals würde ich in meiner Lage die Bekanntschaft einer Journalistin suchen!“ wehrte Marlene angstvoll ab. „Ebensogut könnte ich ja filmen oder das, was ich erlebte, selbst in die Blätter bringen. Für Fräulein Sturm wäre ich sicherlich nichts anderes, als ein interessantes Objekt für Zeitungsartikel!“

      Wie war sie doch plötzlich auf Hanna Sturm gekommen? Ach, vermutlich, weil sie jetzt die neueste Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ ausrufen hörte, bei der diese Hanna Sturm Redakteurin war.

      Nur um sich abzulenken, kaufte sie ein Blatt und ging mit ihrem Handköfferchen, das sie seit dem Morgen bei sich trug, in eine nahgelegene Konditorei. Dort wollte sie überlegen, wo sie unterschlüpfen konnte, Mädchenheim oder Heilsarmee? Haus für alleinstehende junge Mädchen? Unterkunft für arbeitende Frauen? Gehört hatte sie im Gefängnis von allen. Vielleicht liess sich durchs Telephon feststellen, wo noch ein Winkel für Marlene Hagen frei sei. —

      Was es heisst, mit einem Makel belastet, ganz auf sich selbst angewiesen zu sein, war Marlene erst heute wieder klargeworden, als sie vor dem Leiter des grossen Buchverlags gestanden, der die südfranzösische Übersetzerin gesucht. Sie sollte im Hause selbst beschäftigt werden, um ständig zur Verfügung zu sein. Nach einer längeren Unterhaltung mit dem jungen Mädchen hatte der Verleger erkannt, dass sie die richtige Kraft für sein Unternehmen wäre. Beglückt atmete sie auf, als man ihr den Vorschlag machte, ihre Arbeit bereits am kommenden Tage zu beginnen. Er liess sich ihre Papiere geben, um den Anstellungsvertrag, der sie zunächst auf einen Probemonat verpflichten sollte, im Sekretariat ausstellen zu lassen. Dann verliess er das Zimmer. Als er nach einer Weile es wieder betrat, Marlenes Schul- und Lehrzeugnisse in der Hand, sah sie an seinem Gesichtsausdruck, dass ihre Aussicht auf Tätigkeit und Verdienst wiederum vernichtet war. —

      „Es tut mir leid, mein liebes Kind, dass ich Sie enttäuschen muss“, sagte der alte Herr. „Ich irre mich doch nicht in meiner Annahme, in Ihnen die Hauptperson eines Prozesses zu sehen, der vor nicht allzu langer Zeit die Öffentlichkeit auf das lebhafteste bewegte?“

      Blutrot vor Scham senkte Marlene den Kopf.

      „Fräulein Hagen“, es kam nun sehr kühl, „ich kann Sie auf Grund dieser Tatsachen unmöglich bei uns einstellen! Bedenken Sie die vielen wertvollen Sammlungen, die Ihnen hier anvertraut werden müssten!“

      Marlene stiess einen schluchzenden Laut aus.

      „Aber Fräulein Hagen, wenn ich Ihnen sonst vielleicht irgendwie behilflich sein darf?“

      Seine Hand fuhr in der Richtung der Brieftasche, doch schon hatte Marlene fluchtartig das Zimmer verlossen.

      Nun hatte sie, völlig entmutigt, auf einer Bank im Tiergarten vor sich hingestarrt, bis es Mittag geworden war und sie todmüde und verzweifelt in die Pension zurückkehrte. Sie überlegte, was ihr nun noch zu tun übrigblieb, welche Hilfsquellen ihr offenstanden und wie sie zu einer gesicherten Existenz käme, ohne sich dem Film oder der Zeitung, durch Preisgabe ihres eigenen Schicksals, zu verschreiben.

      Frau Reschke öffnete ihr und sah sie forschend von der Seite an. „Na, erfolgreich gewesen, heute morgen?“ erkundigte sie sich neugierig. „Ich wünsche es in Ihrem Interesse ebenso, Fräulein, wie in dem meinen, denn jetzt sind gute Zimmer in dieser Gegend rar. Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte, Marie hat heute Besuch aus der Heimat. Ich selbst habe gleichfalls etwas Wichtiges vor und möchte Sie daher bitten, doch das Mittagessen für die Herrschaften von Zimmer drei, vier und fünf zu servieren und nachmittags Tee und Mokka zu brühen. Sie können sich dann ja auch eine Tasse nehmen. Ich kann mich doch wohl auf Sie verlassen, wenn ich Sie um diese kleine Gefälligkeit bitte, nicht wahr?“

      Gequält lächelnd sagte Marlene ihre Bereitwilligkeit zu, die Stütze zu vertreten. Müde schlich sie ihrem kärglichen kleinen Hinterzimmer zu, seelisch und körperlich gleichermassen erledigt. Ein eigentümlicher Schwindel liess sie taumeln, aber sie hatte keine Zeit, um sich auszuruhen. Sie musste ja für heute abend noch etwas richten, wenn sie servieren sollte.

      Sie besass ein einfaches schwarzes Kleidchen mit einem weissen Krägelchen. Es verlangte nach einer Reinigung, und so trennte sie den Kragen ab, griff nach einer Flasche Benzin und suchte das Badezimmer auf. Achtsam setzte sie ihre Last auf den kleinen Tisch neben den brennenden Gasbadeofen. Sie wollte schnell noch ein heisses Bad nehmen, um sich zu erfrischen. Nun entkorkte sie die Flasche, tränkte das Krägelchen gründlich mit Benzin, schloss die Flasche wieder und begann den feinen Stoff vorsichtig zu reiben.

      Plötzlich fuhr sie schreiend zurück — eine mächtige Stichflamme loderte vor ihr auf, schlug ihr ins Gesicht und frass sich durch ihre Kleider. Gleichzeitig ertönte das Geräusch einer schweren Explosion, Fensterscheiben barsten, und Kalk und Mauersteine stürzten zu Boden. Wahnsinnig vor Schmerzen raste Marlene den Korridor entlang in die Küche, wo sie besinnungslos zusammenbrach, während Frau Reschke schleunigst nasse Tücher über die Unglückliche warf, die sofort die Flammen erstickten ...

      II.

      Eine halbe Stunde, nachdem Hanna das Redaktionsgebäude verlassen, hielt ihr Wagen vor einem grossen, weissen Gebäudekomplex draussen in einer Villenvorstadt. Dieses Haus schien den ganzen Zauber des Frühlings hier gleichsam eingefangen zu haben. Eine grüne Birke beugte sich über die Eingangspforte. Auf dem Rasen blühte es gelb und lila von Krokus. Weiterhin nach dem Garten zu sah man Blumenbeete blau, weiss und rötlich aufleuchten, überall war Werden und Blühen.

      Geheimrat


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