Herzen im Kampf. Liane Sanden
Körper seiner Patienten. Er kannte ebensogut ihre Seelen. Er wusste, wie gerade leidende Menschen von ihrem eigenen Elend abgelenkt und zur Schönheit der Natur hingeführt werden müssen, um wenigstens zeitweise zu vergessen. Er hatte überhaupt so seine eigene Art der Menschenbehandlung. Er beschränkte sich nicht auf die täglichen, offiziellen Chefvisiten, bei denen er, gefolgt von einem Schwarm von Assistenten und Schwestern, durch tadellos vorbereitete Räume zu tadellos zurechtgemachten Patienten ging. Er erschien zu den unerwartetsten Zeiten in den Klinikzimmern, im Laboratorium, in allen Räumen genau so, wie im Park der Anstalt. Er wusste genau, dass er auf diese Weise vieles zu sehen bekam, was ihm sonst vielleicht verborgen geblieben wäre. Ein witziger Patient hatte dem vergötterten Professor den Namen: „Harun Al Raschid“ gegeben. Schrombeck hatte herzlich darüber gelacht und bezeichnet sich selbst gelegentlich gleichfalls so. Auch heute mittag ging der Geheimrat, nachdem er mit der Visite durch war, noch einmal in den Park.
Hier und dort tauchte seine elastische, hohe Gestalt in dem weissen Arztkittel auf, einmal bei einem Liegestuhl stehenbleibend, um ein paar freundliche Worte mit einem Patienten zu sprechen, dann einer der Schwestern zunickend, die mit beladenem Tablett, Geräten oder Zeitungen durch den Park eilten. Und wo Schrombeck erschien, mit seinem scharfgeschnittenen, leicht angegrauten Gelehrtenkopf und den jugendlichen, hellen Augen, da ging es wie eine Welle von Mut und Gesundung durch den kranken Menschen.
„Na, also, Herr Schröder —“, er blieb einen Augenblick stehen, nickte einem älteren Manne zu, der mühsam an zwei Stöcken den Weg entlanghumpelte, „das geht ja schon wieder mit dem Laufen. Und wer hat mir noch vor acht Tagen erzählt, dass er überhaupt nicht mehr in die schöne Welt hinaus könnte? Sehen Sie, was man ernstlich will, das erreicht man auch!“
„Das hab’ ich mir auch gedacht, Herr Geheimrat!“ sagte eine energische Stimme hinter Schrombeck. „Der Arzt vom Dienst hat Stein und Bein geschworen, dass Sie schon längst über alle Berge wären. Aber ich hab’ geschworen, dass ich Sie noch erwischen müsste. Und ich hab’ Sie erwischt!“ Hanna Sturm stand vor dem erstaunten Schrombeck.
„Der Kollege vom Dienst ist ein Esel“, erklärte Schrombeck überzeugt, „aber verraten Sie’s ihm nicht, Stürmchen. Allmählich könnte er schon kapiert haben, dass Sie trotz unserer ewigen Kabbelei die einzige Frau sind, von der ich mich gern erwischen lasse!“
Unwillkürlich musste sie lachen.
„Was möchten Sie also von mir wissen?“
„Das Neueste, Herr Geheimrat, immer das Neueste. Also in diesem Falle Ihre neueste Behandlungsmethode der schmerz- und narbenlosen Transplantation.“
„Ach so, das wollen Sie? Ich glaubte schon, Sie wollten etwas über mein neues Drüsenpräparat wissen. Aber das kann ich sogar Ihrem Reporterspürsinn nicht ausliefern. Das ist nämlich das Neueste!“
„Und auch mir werden Sie es nicht sagen?“
„Nein, auch Ihnen nicht.“ In aller Liebenswürdigkeit lag etwas Bestimmtes. „Sie wissen, ich gehöre nicht zu den Medizinern, die von einigen erfolgreichen Versuchen auf ein endgültiges Resultat schliessen. Ich bin nicht eitel genug, um mich dauernd in der Presse wiederfinden zu wollen.“
„Oder zu eitel“, stellte Hanna Sturm fest.
„Ein guter Menschenkenner sind Sie. Muss man Ihnen lassen. Ihnen kann man nichts vormachen. Gnade dem Mann, der Ihnen einmal in die Hände fällt.“ Es sollte scherzhaft klingen, aber ein bitterer Unterton war deutlich herauszuhören.
Hanna Sturm schwieg. Eine plötzliche Stille lag zwischen den beiden Menschen. Gerade wollte Schrombeck etwas sagen, da wandte er sein Gesicht gespannt dem Laboratoriumseingang zu. Von dort aus kam ein Assistenzarzt sehr eilig über den grünen Rasen ihnen entgegen. Von weitem hob er schon die Hand. Nun hörte man auch, wie er „Herr Geheimrat, Herr Geheimrat!“ rief.
„Aha, da brennt’s schon wieder einmal“, seufzte Schrombeck. „Na sehen Sie, Stürmchen, mit meinem Privatkolleg Ihnen gegenüber ist’s schon wieder aus. Ja, was gibt’s denn, Kollege?“ fragte er, als Dr. Winkler heran war.
„Herr Geheimrat, eben ist eine Patientin eingeliefert worden, schwere Brandwunden nach einer Explosion. Man wird operieren müssen. Oberarzt Schmidts ist bereits fort.“
„Ich komme schon. Also auf Wiedersehen, Fräulein Sturm.“
„Kann ich nicht mit?“ fragte Hanna Sturm. „Vielleicht, dass da etwas für mich ist.“
„Immer wissensdurstig? Na also, kommen Sie mit! Vielleicht ist es wirklich etwas, was Sie interessieren könnte.“
Hanna Sturm ging neben den beiden dem Hauseingang zu. Der Assistent erläuterte schon den Fall. Der Polizeibericht, den man mit der Patientin zusammen erhalten hatte, lautete wie folgt:
„Ein junges Mädchen hat durch Reinigen von Handschuhen mit Benzin in der Nähe einer Flamme eine Explosion durch Benzingase hervorgerufen und dadurch schwere Verbrennungen im Gesicht, an den Händen und Oberarm davongetragen.“
Der Assistent gab die ungefähre Grösse der Verbrennungsfläche an.
„Sechs Zoll?“ fragte Schrombeck. „Da werden wir wohl ohne Transplantation schwer auskommen. Sehen Sie, Fräulein Sturm, da hätten Sie gleich den Fall in praxi. Wollen Sie Näheres hören? Sie sind ja eine halbe Kollegin — haben wohl Ihre medizinischen Studien noch nicht vergessen.“
„Gern“, sagte Hanna Sturm heiss. Wenn sie in die ärztliche Atmosphäre kam, war es ihr immer noch eine vertraute Luft. Sie hatte damals das Studium aufgegeben, weil die Journalistik sie unrettbar anzog. Sicher war sie da auch besser am Platze. Aber ihre alte Liebe zur Medizin lebte doch noch in ihr. Sie sah Schrombeck von der Seite an, sah sein angespanntes, klares Arztgesicht — die gesammelte Energie in den klaren Augen — so musste ein Arzt aussehen, zu dem man Vertrauen haben konnte.
„In welchem Zustande ist die Patientin?“ erkundigte sich Schrombeck.
„In denkbar schlechtestem Ernährungszustande, Herr Geheimrat, sieht aus, als ob sie seit Monaten kaum gegessen hätte. Selbstverständlich habe ich ihr sofort eine tüchtige Spritze gegeben, sie fühlt im Augenblick nichts.“
„Sechs Zoll Verbrennungsfläche“, dachte Hanna Sturm. Sie stellte sich das vor. Schon als Kind hatte sie vor nichts eine so rasende Furcht empfunden, wie vor Verbrennen.
Vielleicht hing das mit einem Bild aus einem Kinderbuch zusammen, auf dem sie ein brennendes Mädchen gesehen, vielleicht auch damit, dass sie selbst einmal mit Kleid und Händen an den Weihnachtsbaum geraten war. Es blieb ihre einzige Erinnerung aus ihrer frühesten Jugendzeit. Sie konnte damals zwei Jahre alt gewesen sein. Aber immer wieder tauchte bei dem Wort „Feuer“, bei dem Anblick eines Brandes, ja bei jeder Gedankenverbindung diese furchtbare Erinnerung in ihr auf — der wahnwitzige Schmerz, das helle Lohen, die Schreie der Eltern, bis alles in einem wimmernden Dunkel der Bewusstlosigkeit unterging.
Sie war sehr blass, als sie jetzt Geheimrat Schrombeck durch die Korridore folgte. Vor der Tür eines Krankenzimmers hielten die Ärzte an und Schrombeck meinte:
„Wenn Sie hier warten wollen, Fräulein Sturm? Ich kann Sie natürlich nicht mit hineinnehmen. Wenn es zur Transplantation kommen sollte, werde ich Ihnen Nachricht geben.“
Er nickte ihr kurz zu. Eilig ging er mit dem Assistenten in das Krankenzimmer: durch den Türspalt konnte Hanna Sturm gerade noch das Bild eines grünlich blassen, leblosen Gesichts in sich aufnehmen, das aus dicken Bandagen und dem Weiss der Bahre geisterhaft hervorschaute.
Woher kannte sie dies Gesicht? Sie musste es schon einmal gesehen haben. Aber wann?
Der grosse, langgestreckte Operationssaal lag nach dem Park zu. Zahlreiche hohe Fenster mit matten Glasscheiben liessen Helligkeit bis in den letzten Winkel fallen, unterstützt von starkkerzigen elektrischen Birnen und Scheinwerfern. Der ganze Raum blitzte und funkelte von Glas, Porzellan und Nickel. Alles strahlte in Weiss. Die Wände waren abwaschbar, die Operationsgeräte lagen zu Dutzenden hinter Glas oder wurden in den grossen Nickelkesseln, die man durch Elektrizität erhitzte, im kochenden