Fußball, deine Fans. Martin Thein
der Anhänger begrenzt, Propaganda-Veranstaltungen zum Kippen zu bringen. Erst 1933, als Funktionäre des NS-Regimes das Stadion als Bühne der Selbstdarstellung entdeckten, wurden Fußballfans tatsächlich als politische Störenfriede wahrgenommen.
Der wohl größte Skandal trug sich im Mai 1936 im Frankfurter Stadion zu. Am 16. jenes Monats war mit der ersten Mannschaft des FC Everton ein namhaftes englisches Team zu Gast am Main. Angesetzt war ein Trainingsspiel gegen die von Reichstrainer Otto Nerz betreute deutsche Auswahl für das olympische Turnier in Berlin. Wie bereits zahlreiche Anlässe zuvor, so wollte Frankfurts Oberbürgermeister Krebs auch diese Begegnung dazu nutzen, Frankfurt als die deutsche Sportstadt zu präsentieren: Für die Gästemannschaft wurde ein umfangreiches Besichtigungsprogramm arrangiert, Krebs selbst gab einen Empfang im Römer, schließlich trugen sich die englischen Kicker ins „Deutsche Buch der Stadt Frankfurt“ ein. Das Treffen selbst jedoch geriet zu einer Peinlichkeit sondergleichen. Unzufrieden mit der Aufstellung, die Nerz vorgenommen hatte, wurden nach Anpfiff vehemente Forderungen nach Einwechslung zweier Frankfurter Stars laut, worauf der Reichstrainer den Fans „einen Vogel zeigte“. Die Folge: Nach dem Spiel kam es zu Übergriffen auf Nerz – und damit war der Skandal perfekt. Zwar versuchte Oberbürgermeister Krebs noch das Schlimmste zu verhindern. Besänftigen aber ließ sich das Reichsfachamt Fußball als Ausrichter des Treffens nicht mehr. Erst zwei Jahre später wurde erneut eine große Fußballveranstaltung nach Frankfurt vergeben.
Um Fans in die politische Inszenierung des Fußballs einzubinden, wurde noch zu Beginn des Dritten Reiches versucht, auf deren Verhalten im Stadion einzuwirken. Sprechchöre, in welchen Begeisterung zum Ausdruck kam, waren erwünscht. Nicht hingegen Fangesänge, die die Denunzierung des Gegners – im Parteisprech: des „Volksgenossen“ – zum Inhalt hatten. „Es“ könne „nicht geduldet werden“, so war 1934 im Deutschen Fußballsport zu lesen, „wenn sich in der gleichen Viertelstunde, da der Gruß des Dritten Reiches die Spieler und Zuschauer zur Sammlung gerufen hat, der wüsteste Lärm (…) an der gleichen Stelle jener völkischen Kundgebung erhebt.“ Grundsätzlich galt für das Propagandablatt: Die Fans „haben ein begrenztes Recht, ihre Mannschaft anzufeuern und (…) Missfallen kundzutun.“ Wie sehr die Forderungen der gleichgeschalteten Presse jedoch von Wunschdenken geleitet waren, sollte sich spätestens 1939 anlässlich des Endspiels um den vom „Reichssportführer“ von Tschammer und Osten gestifteten Vereinspokal (Vorgänger des DFB-Pokals) zeigen. Als der FSV Frankfurt kurz vor Ende der Begegnung mit 1:3 gegen Rapid Wien zurücklag, vermuteten die vom Main angereisten Fans Schiebung und skandierten: „Von Tschammer und Osten – dein Pokal soll verrosten“.
Fußballklubs als Vertreter einer Region: die Zeit der Gau- und Oberligen
Mit der Gleichschaltung des Sports 1933 wurde erstmals eine umfassende Reform der Fußballmeisterschaft in Gang gesetzt. Konkurrierten bis zur NS-Machtübernahme mehrere hundert erstklassige Vereine – verteilt auf Zehnerligen, die meist über eine Stadtmeisterschaft in die K.o.-Runden des DFB gelangten – um den nationalen Titel, so wurde mit der Einführung von sechzehn Gauligen die Zahl der Top-Klubs auf 160 reduziert. Faktisch sahen sich 1933 zwei Drittel der bisherigen Erstligavereine mit einem Zwangsabstieg konfrontiert – ein Zwangsabstieg, der sich nicht zuletzt auf die Fanidentitäten auswirken sollte.
Die Verbindung von Fankultur und Klub beruhte auf zwei Voraussetzungen. Damit ein Fußballverein unter den Bewohnern eines Viertels, eines Stadtteils lokale Identität stiften konnte, musste er einerseits seine urbane Heimat repräsentieren. Andererseits musste der Klub aber auch in der Lage sein, die örtliche Gemeinschaft auf möglichst hohem Niveau zu vertreten. Waren beide Grundsätze nicht mehr gegeben – beispielsweise durch einen mehrjährigen Verbleib in der dritten oder vierten Klasse –, so wanderten nach einigen Spielrunden die Anhänger zum räumlich nächstgelegenen Spitzenverein ab.
Das zu Beginn des Dritten Reiches eingeführte Gauligensystem löste exakt eine derartige Regionalisierung der Fanbindungen aus, wobei besonders Vereine aus den Großstädten betroffen waren. Im Regelfall konnten nur zwei bis drei Klubs eines Ballungsraumes ihre Position in einer neugeschaffenen Gauliga behaupten. Der Rest versank im Mittelmaß und war auf Dauer vom Rennen um die Deutsche Meisterschaft ausgeschlossen – mit den entsprechenden Folgen: Schon nachdem die erste Gauliga-Saison 1933/34 ausgetragen war, wurde beispielsweise in Dresden Klage darüber geführt, dass Zuschauer in größerer Zahl nur noch zu den Spielen des DSC und von Guts Muts kämen, zu den beiden einzigen Vereinen aus der sächsischen Hauptstadt also, die noch erstklassig waren. Eine ähnliche Entwicklung war nach gut einem Jahr Gauliga im Leipziger Fußball zu beobachten. Denjenigen Klubs, die bereits ihre zweite Saison in Folge in der zweiten Klasse absolvieren mussten, kamen die Fans abhanden. Dritter Fall: Heilbronn. Dem lokalen Traditionsverein VfR, der sich von den Folgen einer 1934 aufgedeckten Profi-Affäre jahrelang nicht erholen konnte, liefen in der Bezirksklasse die Zuschauer davon. In der Saison 1937/38 etwa verzeichnete der VfR nur noch gut 200 Besucher pro Spiel. Das war weniger als ein Zehntel der Zuschauer, die der Klub während seiner Gauliga-Zugehörigkeit 1933/34 verzeichnen konnte.
Spätestens 1935 waren die Folgen des neuen Meisterschaftssystems offensichtlich. Die in der höchsten Klasse verbliebenen Vereine einer Stadt zogen jetzt auch das Interesse derjenigen Fans auf sich, die in ihrem eigenen Viertel nicht mehr über ein Top-Team verfügten. Letztlich vergrößerten sich dadurch die Einzugsgebiete der Spitzenklubs. Einige Beispiele seien genannt. In Leipzig konnte Mitte der 1930er Jahre der Verein Tura mit seinem Sitz im Stadtteil Leutzsch den gesamten Westen und der VfB den gesamten Süden der Messestadt mobilisieren. In Heilbronn war die auf der anderen Neckar-Seite beheimatete Böckinger Union nach dem Absturz des Lokalrivalen VfR plötzlich in der Lage, neue Besucherrekorde aufzustellen. In Offenbach schließlich wuchsen die Kickers mehr und mehr in die Rolle des einzigen städtischen Vertreters im Fußball hinein, nachdem die Vorort-Vereine aus Bieber und Bürgel ihre Erstklassigkeit auf Dauer eingebüßt hatten.
In Westdeutschland begann die endgültige Regionalisierung der Fanidentitäten mit der Einführung der Oberligen 1945/46. In einer Oberliga waren im Höchstfall noch zwei Vereine aus einer Stadt vertreten. Klubs aus dem Umland hingegen hatten nicht mehr die geringste Chance, in die höchste Klasse vorzudringen. Seit den späten 1940er Jahren konnte deshalb das Einzugsgebiet eines Innenstadtvereins bis weit hinein in ländliche Gebiete reichen. Die Top-Mannschaften wandelten sich nun zu Repräsentanten einer ganzen Region, sie gerieten zu Aushängeschildern Westfalens (Borussia Dortmund), Frankens (1. FC Nürnberg), Schwabens (VfB Stuttgart) oder der Pfalz (1. FC Kaiserslautern). Selbst in manchen Reaktionen auf das – aus deutscher Sicht – wohl größte Fußball-Ereignis der 1950er, das „Wunder von Bern“, spiegelt sich das regionale Fanbewusstsein wieder. „Bezeichnenderweise“, so bemerkt etwa der Zeithistoriker Wolfram Pyta in seiner Analyse des 4. Juli 1954, „wurden Kohlmeyer, Liebrich, Eckel und die Gebrüder Fritz und Ottmar Walter (…) bei ihrer Triumphreise (…) durch die deutschen Lande (…) weniger als nationale Heroen denn als Kulturbotschafter der Pfalz wahrgenommen.“
Der Niedergang des „Vereinsfanatismus“
Keine der zahlreich nachfolgenden Fankulturen war ähnlich renitent gegenüber geschichtlichen Entwicklungen wie der Lokalpatriotismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der „Vereinsfanatismus“ überlebte nicht nur die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik sowie die nationalsozialistische Gleichschaltung, sondern ebenso den Epochenbruch des Jahres 1945. In München beispielsweise datiert die letzte Ausschreitung vor Kriegsende vom April jenes Jahres, während der erste Tumult nach dem Waffenstillstand bereits wenige Monate nach dem Einmarsch der US-Truppen zu verzeichnen war. Im Rhein-Main-Gebiet, dessen Fußball zunehmend vom Gegensatz zwischen den Kickers aus Offenbach und der Eintracht aus Frankfurt dominiert wurde, kam es seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre gar zu regelrechten Schlachten in und vor den Stadien. Und auch in anderen traditionellen Fußballhochburgen – erwähnt seien Nürnberg-Fürth, Mannheim und Karlsruhe – ging es weiterhin munter zur Sache.
Selbst die Einführung der Gau- beziehungsweise der Oberligen führte nicht zu einem Niedergang des Vereinsfanatismus. Sah es unmittelbar nach den beiden Meisterschaftsreformen noch so aus, als seien den lokalen Fußballkulturen jahrzehntelang vertraute Feindbilder abhanden gekommen, so erwies sich in der Realität die Fangewalt