Fußball, deine Fans. Martin Thein

Fußball, deine Fans - Martin Thein


Скачать книгу
rivalisierenden Anhängern dient, hätten in den 1970ern, so die gängige Meinung, erstmals eine Kultur unter den Fans in (West)Deutschland begründet. Aufgrund ihrer Fokussierung auf das äußere Erscheinungsbild unterschlägt diese Deutung jedoch, dass im mitteleuropäischen Fußball bereits Jahrzehnte zuvor Fangruppen existierten.

      Mithilfe von drei Hauptmerkmalen lässt sich diese frühe Fankultur, von den Zeitgenossen meist als „Vereinsfanatismus“ bezeichnet, beschreiben und von späteren Gruppen unterscheiden:

      Erstens: Die Bindung an einen bestimmten Klub kam ausschließlich über den Wohnort zustande. Ein Fußballinteressierter erkor ein Team deshalb zu dem „seinen“, weil es das im eigenen Viertel oder Stadtteil ansässige war. Für das Selbstverständnis eines Anhängers reichte deshalb die geografische Herkunft des Vereins vollkommen aus.

      Zweitens: Die Klubführungen, meist der lokalen Mittel- und Oberschicht entstammend, begriffen sich als Teil der Anhängerschaft. Eine Opposition zwischen Funktionären und Fanbasis gab es nicht.

      Drittens schließlich: Die Unterstützung für den Verein – darin den „Ultras“ nicht unähnlich – war bedingungslos. Im Gegensatz zu den „Ultras“ jedoch waren die „Vereinsfanatiker“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem gewalttätig. Ausschreitungen am und auf dem Spielfeld waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

       Fußball in der Kaiserzeit

      Die Anfänge des Fußballsports in Deutschland reichen bis in die Anfangsjahre des wilhelminischen Kaiserreiches zurück. Zu Beginn der 1870er Jahre organisierte der Braunschweiger Turnlehrer August Herrmann zusammen mit dem Pädagogen Konrad Koch eines der ersten Fußballspiele in Deutschland und gründeten britische Staatsbürger einen der frühesten nachweisbaren Klubs, den Dresden English Football Club; gegen Ende jener Dekade erschien ein deutschsprachiges Regelwerk zum Rasensport und fanden erstmals regionale Vergleichswettkämpfe statt. Die weiteren Stationen in der Entwicklung des Spiels in Mitteleuropa sind bekannt: 1893 wurde der älteste heute noch existierende Fußballverein des Landes, der 1. Hanauer FC 1893 ins Leben gerufen, 1900 fand in Leipzig die konstituierende Sitzung des Deutschen Fußballbundes statt, und 1903 schließlich wurde mit dem VfB Leipzig der erste reichsweite Meister ermittelt.

      In dieser Frühzeit des Rasenspiels in Deutschland, die mit den Schüssen von Sarajewo im Juni 1914 abrupt endete, kann im Grunde noch nicht von einer Fußball- oder einer Fankultur gesprochen werden. Dies hatte vor allem zwei Ursachen. Zum einen war die Vereinslandschaft – gerade im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – sehr zersplittert. Ein einzelner Klub war kaum in der Lage, über den Kreis seiner Spieler und passiven Mitglieder hinaus eine feste Anhängerschaft zu binden. Fantum und Engagement im Verein waren damals identisch. Erst in den letzten Jahren vor 1914, als durch Auflösungen und Fusionen die Zahl der eingetragenen Klubs etwa um die Hälfte zurückging, konnten Fußballvereine die Zahl ihrer Anhänger wesentlich erhöhen. In der Tat waren jetzt bei den sonntäglich stattfindenden Fußballspielen bereits Zuschauerzahlen im vierstelligen Bereich zu verzeichnen, wobei diese Entwicklung freilich auf frühe Rasensport-Hochburgen wie Nürnberg-Fürth, Frankfurt-Offenbach oder Mannheim beschränkt blieb.

      Eine zweite Ursache betrifft die soziale Struktur derjenigen, die sich Woche für Woche am Spielfeldrand einfanden. Fußball war bis in die Kriegsjahre hinein eine bürgerliche Angelegenheit. Die Sportart selbst war von Kaufmannssöhnen und von Absolventen höherer Schulen (oftmals Realgymnasien) in Deutschland verbreitet worden – und lange Zeit blieb diese Gesellschaftsschicht auf den provisorisch aufgeschütteten Rängen unter sich. Fotozeugnisse aus der Frühzeit des Fußballs belegen, wie geschlossen die „Fußballgesellschaft“ des Kaiserreiches war: In der Regel dominiert der bürgerliche Hut. Mützen, die auf die Anwesenheit etwa von Fabrikarbeitern schließen ließen, sind nicht zu sehen. Sind auf den frühen Aufnahmen weibliche Zuschauer zu erkennen, so fallen deren hochherrschaftlich anmutende Gewänder auf.

      Die Abwesenheit von Arbeitern unter den am Fußball Interessierten hatte zur Folge, dass sich keine Fankultur im eigentlichen Sinne entwickeln konnte. Bürgerliche Zuschauer bezogen ihr Selbstbewusstsein aus ihrem gesellschaftlichen Status, aus ihrer humanistischen Schulbildung oder aus ihrem beruflichen Erfolg. Die Frage der Identitätsstiftung, die sich aus der Anbindung an einen Stadtteilverein ergeben konnte und die seit den 1920ern wichtig werden würde, spielte in diesen Kreisen nicht die geringste Rolle. Erst als ortsansässige Arbeiter begannen, sich für den Fußballverein im Viertel zu begeistern, begriff sich auch das bürgerliche Publikum – darunter die alten Klubvorstände und -mäzene – als Teil einer „Fangemeinschaft“.

      Vor 1914 war Fußball Zeitvertreib pur, er besaß keine Bedeutung über den Sport hinaus. All jene Aspekte, die für die Fankultur späterer Jahrzehnte charakteristisch werden sollten – sie fehlten schlichtweg im Rasenspiel der Kaiserzeit: Es gab keine gemeinsamen Kennzeichen, an welchen die Anhänger eines Vereins zu erkennen gewesen wären, es gab keine Debatten über die Bedeutung eines Matches – vor allem aber gab es keine Aggression und keine Gewalt.

       Gewalt im Fußball der 1920er Jahre

      In den 1920er Jahren wurde der Fußball in Deutschland erstmals von Gewaltexzessen erschüttert, wofür das Aufbrechen der sozialen Struktur der Fußballanhänger ursächlich war. Ausgestattet mit mehr Freizeit infolge sozialpolitischer Reformen, wandten sich nach Ende des Ersten Weltkrieges viele Arbeiter dem englischen association football zu, einer Sportart, die bis dahin nur in der bürgerlichen Jugend Anklang gefunden hatte. Die „Proletarier“ wiederum, die jetzt in Massen an die Fußballfelder strömten, übertrugen alte Konflikte aus den Arbeitervierteln in die Stadien. Gegensätze zwischen City und Vorort oder zwischen benachbarten Stadtteilen wurden nun Woche für Woche auf den Rängen und Tribünen ausgetragen. Die Folge: Schlägereien unter verfeindeten Fangruppen, verprügelte Schiedsrichter sowie krankenhausreif geschlagene Spieler waren bald so selbstverständlich wie das Spiel selbst.

      Ein besonders abschreckendes Beispiel unter all den Krawallhochburgen lieferte Mannheim. An der Neckar-Mündung war im Herbst 1922, nachdem Sepp Herberger (der spätere Bundestrainer) vom Vorort-Klub Waldhof in die Innenstadt zum verhassten „Geldverein“ VfR gewechselt war, die Situation derart eskaliert, dass berittene Polizei binnen weniger Wochen mehrmals die Stadien räumen musste. Und dies war nur der Anfang: Zwischen Herbst 1922 und Frühjahr 1933 dürfte der Mannheimer Fußball von etwa fünfzig schweren Ausschreitungen heimgesucht worden sein. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

ereyhrte

      Platzsturm bei einem Spiel in Nürnberg im Jahr 1920. Foto: Archiv Hagen Leopold

      Die Anhänger der Frankfurter, Offenbacher und Hanauer Klubs konnten durchaus mit den nordbadischen Fans konkurrieren. Im Zuge einer Meisterschaftsreform zu Beginn der 1920er war die gesamte Region am Untermain zu einer einzigen Liga zusammengefasst worden. Aufgrund der Nachbarschaft der Messe-, der Leder- und der Goldschmiedestadt konnte nun jede Feindschaft, die sich zwischen den drei Zentren im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatte, über den Fußball ausgelebt werden. Und auch am Untermain waren die Ausschreitungen heftig: Im Herbst 1922 verprügelten Fans von Hanau 94 einen Schiedsrichter. Ähnliches widerfuhr dem Unparteiischen zwei Jahre später bei den Kickers am Bieberer Berg – dort waren die Anhänger mit Messern und Pflastersteinen bewaffnet. Und im Oktober 1930 schließlich vergriffen sich Fans des FSV Frankfurt an Spielern sowie an Ordnungskräften des Lokalrivalen Eintracht. Allein diese drei Fälle dürften genügen, um zu verstehen, weshalb der „Mainkreis“ des Süddeutschen Fußballverbandes in den 1920ern gemeinhin als „Mordkreis“ bezeichnet wurde.

ereyhrte

      Das Stadion am Betzenberg in Kaiserslautern im Jahr 1927. Foto: Archiv Hagen Leopold

      Freilich ging es auch in anderen Fußballhochburgen heiß her: In Nürnberg-Fürth beispielsweise sorgten die Derbys zwischen dem „Club“ und der SpVgg. stets für erregte Gemüter, in München traf dasselbe auf die häufigen Begegnungen zwischen 1860 und Bayern zu; in Leipzig lieferten sich Anhänger der Stadtteil-Vereine


Скачать книгу