Der neue Sonnenwinkel Box 11 – Familienroman. Michaela Dornberg
ein Augenblick der Stille, der nicht einmal durch das Geschnatter der Enten und Gekreische der Möwen unterbrochen wurde. Die Natur hielt ihren Atem an. Nur Schwäne segelten schön und stolz über das sich in allen Blauschattierungen zeigende Wasser.
Eine ganze Weile gingen Roberta und Nicki nebeneinander her, still, in sich versunken und sich doch so nahe, wie es allerbeste Freundinnen nur sein konnten.
Je näher sie der Stelle kamen, auf der früher das kleine Haus gestanden hatte, in dem sie zunächst kurz mit dem unkonventionellen Kay, später mit ihrer großen Liebe Lars verbracht hatte, umso langsamer wurden ihre Schritte. Und dann hatten sie den Ort erreicht. Das Haus war längst abgerissen worden, nichts erinnerte mehr daran. Es waren Bäume und Sträucher angepflanzt worden, die sich längst mit der Natur ringsum vereint hatten.
Anfangs war es Roberta nicht möglich gewesen, hierher zu kommen, denn es hätte sie zerrissen. Mittlerweile ging es, und der Schmerz war dem gewichen, was sie für sich erkannt hatte, das Schicksal anzunehmen, loszulassen und die Erinnerungen als ein schönes Geschenk zu betrachten. Etwas, was nicht alle Menschen erleben durften.
Roberta und Nicki blieben stehen, schauten an den Ort. Auf einem Ast eines Baumes saß ein Vogel mit einem bunt schillernden Gefieder.
Nicki musste an sich halten, jetzt nicht auszurufen, dass es ein Zeichen war, für sie war es das, Roberta durfte sie damit jetzt nicht kommen, obwohl sie mittlerweile längst nicht mehr alles ablehnte, was mit Vorsehung, mit Zeichen, halt mit allem, für das es keine Erklärung gab, zu tun hatte.
Sie standen still da, jede in ihre Gedanken versunken, als der bunte Vogel mit lautlosem Flügelschlag davonflog, durchbrach Nicki das Schweigen.
»Roberta, kannst du es aushalten, hier zu stehen? Vermisst du das Haus nicht sehr? Vielleicht hätte es doch nicht abgerissen werden dürfen.«
»Doch Nicki, denn Lars hat es so gewollt, Solveig hat nur seinen Wunsch ausgeführt, denn er hatte doch alles unterschrieben. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob es nicht schwerer für mich gewesen wäre, dieses Haus zu sehen, entweder leerstehend oder von fremden Menschen bewohnt. Letztlich war es nicht mehr als ein äußerer Rahmen, eine Hülle. Man kann es ein wenig vergleichen mit einem wunderschönen, kostbaren Bild. Es bleibt das Bild, auch wenn man den Rahmen entfernt. Lars bleibt in meinem Herzen, wird es immer sein, und das unabhängig von diesem Haus, nein, es ist alles gut, wie es ist. Und ich bin auch froh, nicht viele Erinnerungen aus dem Haus mitgenommen zu haben, Solveig hatte es mir angeboten.«
»Wie geht es ihr eigentlich? Stehst du noch mit ihr in Verbindung?«, wollte Nicki wissen, die froh war, mit diesen Fragen diesen magischen Augenblick, oder wie man es immer auch nennen wollte, durchbrochen zu haben. Sie hatte Lars gespürt, und wie musste es dann in Roberta aussehen?
»Ach, weißt du, Solveig ist ein so ruheloser Mensch, wie Lars es war, und jetzt, da ihr Bruder, ihr einziger Verwandter, nicht mehr am Leben ist, ist sie noch mehr unterwegs.«
»Sie ist auf der Flucht«, wandte Nicki ein.
Roberta widersprach nicht.
»Mag sein, jeder geht mit Verlust und Schmerz anders um. Ich habe mich ja auch in meine Arbeit geflüchtet und mich damit zugeschüttet. Und nun zu deiner zweiten Frage. Ja, wir stehen in Verbindung, nicht mehr so oft wie nach …«, sie konnte das Wort Tod noch immer nicht aussprechen, obwohl sie doch wusste, dass dort, wo Lars verschollen war, niemand überleben konnte, auch keiner, der sich dort gut auskannte. »Wir melden uns an Geburts- und Feiertagen, hier und da auch einmal zwischendurch, jetzt weniger als anfangs. Doch das ist normal.«
Sie setzte ihren Weg fort, und Nicki folgte ihr. Lars Magnusson, sein Verschwinden, das war ein wunder Punkt im Leben ihrer Freundin, und auch wenn sich einiges verändert hatte, konnten sie noch immer nicht normal damit umgehen. Das war normal, jeder Mensch hatte etwas in seinem Leben, das er am liebsten unter der Oberfläche hielt, weil er es noch nicht loslassen konnte.
Sie waren eine Weile gegangen, drehten um, um den Rückweg anzutreten, weil es zu lange dauern würde, den ganzen See zu umrunden, Nicki wollte nach Hause, um eine angefangene Arbeit zu beenden.
Viel Zeit blieb Roberta also nicht mehr, Nicki das zu fragen, was ihr auf der Seele brannte. Schließlich fasste sie sich ein Herz.
»Nicki, du bist nicht hergekommen, weil du Pete ausweichen wolltest, nicht wahr? Dazu war eure Affäre, anders kann man es ja nicht nennen, viel zu unverbindlich. Du wolltest ihn nicht sehen, weil du Angst davor hattest, den Schmerz erneut durchleben zu müssen, dein Kind verloren zu haben. Das ist eng mit Pete verbunden, weil er schließlich, auch wenn er davon nichts weiß, der Vater ist. Da bist du ihm lieber ausgewichen. Habe ich damit recht, Nicki?«
Die antwortete nicht sofort, dann stieß sie ein: »Du hättest Psychologin werden sollen«, hervor. Weil gerade eine Bank in der Nähe stand, lief Nicki auf die zu, setzte sich, Roberta folgte ihr.
Nicki malte mit der Fußspitze Kringel in den Sand, ehe sie sich ihrer Freundin zuwandte, die still neben ihr saß.
»Es stimmt, Roberta, davor hatte ich Angst. Wir hätten uns nicht einmal nahe kommen müssen, ich meine, wieder miteinander ins Bett zu steigen. Allein seine Gegenwart hätte gereicht, alles wieder hochkommen zu lassen. Auf jeden Fall hat mir meine Reaktion bewusst gemacht, dass ich längst noch nicht alles verarbeitet, sondern nur verdrängt habe.« Sie blickte Roberta an. »Warum habe ich es nicht behalten dürfen? Ich wollte es doch, oder wurde ich bestraft dafür, dass ich es ganz am Anfang nicht wollte?«
»Nicki, das hatten wir schon, und ich habe dir mehr als nur einmal erklärt, dass dich dieses Schicksal nicht allein getroffen hat, dass es sehr viele Frauen Fehlgeburten erleiden, auch Frauen, die alles versuchen, um ein Baby zu bekommen, die alles auf sich nehmen. Mache dich doch endlich von diesen Gedanken frei.«
Nicki war warmherzig, liebenswert, doch manchmal konnte sie stur sein, störrisch wie ein Esel.
»Ich hatte ja gehofft, in Japan darüber hinwegzukommen, es hat nicht funktioniert«, klagte Nicki, »es holt mich immer wieder ein, auch wenn ich mittlerweile ein wenig anders damit umgehen kann.«
Roberta rückte näher an ihre Freundin heran, legte einen Arm um deren Schulter.
»Nicki, du kannst mehrfach die Welt umrunden, wohin du auch reist, du nimmst deine ungelösten Problem mit im Gepäck. Du musst es loslassen, und wenn du es allein nicht schaffst, dann ist es notwendig, dass du dir professionelle Hilfe holst. Das habe ich dir mehr als nur einmal gesagt. Und wenn dir das nicht behagt, dann melde dich bei einer Selbsthilfegruppe an, da triffst du Gleichgesinnte, die ebenfalls dieses Schicksal erlitten haben. Du musst etwas tun, sonst wirst du ständig auf der Flucht sein, ob vor Pete, ob vor dem glücklichen Lächeln einer Mutter, einem Baby im Kinderwagen. Es gibt vieles, zu dem du eine Verbindung herstellen kannst.«
Nicki lehnte ihren Kopf an Robertas Schulter.
»Ach, Roberta, du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich beneide, du bist stark, du hast die Liebe deines Lebens verloren und hast es wegstecken können.«
Darauf musste Roberta sofort antworten.
»Irrtum, Nicki, ich habe nichts weggesteckt, ich habe mittlerweile gelernt, mit dem Verlust umzugehen. Der Schmerz wird immer in mir bleiben wie ein ständiger Begleiter, doch ich lasse nicht zu, dass er über mein Leben dominiert.«
Nach diesen Worten war es still, zumindest bei ihnen auf der Bank, denn ansonsten hatte sich die Szenerie verändert. Jogger drehten ihre Runden, Spaziergänger, meist welche mit einem Hund an der Leine, gingen vorüber, und Möwen kreisten über dem Wasser, Enten kamen neugierig näher, um abzudrehen, als sie bemerkten, dass für sie nichts zu holen war.
Eigentlich war es an der Zeit für sie, aufzustehen, ihren Weg fortzusetzen. Sie blieben sitzen, hingen ihren Gedanken nach, es war Nicki, die irgendwann das Schweigen durchbrach.
»In deinem Leben ist ja wieder dein alter Studienfreund aufgetaucht, dieser Konstantin. Triffst du ihn noch? Kannst du dir vorstellen, dass es mit … dir und ihm … etwas werden könnte? Ich finde, es ist ein Zeichen, dass er nach so vielen Jahren ausgerechnet hier aufgetaucht