Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
lächerlich machen. Kreuzte langsam die Olav Engelbrektssons allé und bog in die Parkanlage ein, die im Sommer sehr hübsch, zu dieser Jahreszeit jedoch deprimierend war. Stellte das Auto auf dem großen Parkplatz zwischen den hohen Bäumen und den frei stehenden Gebäuden ab. Spazierte zum lachsfarbenen Backsteinhaus hinüber, in dem sich die Station B3 befand. Eigentlich war er mehr an der »gefährlichen« Abteilung interessiert, die weiter in den Park hineinreichte und auf der Rückseite einen umzäunten Hof, jedoch keinerlei Arztbüros aufwies. Er hatte gerade seine Zigarette gelöscht, als eine weiß gekleidete Frau in der Tür erschien.
Er wunderte sich, wie sauber und ordentlich das Gebäude von innen wirkte. Warme Farben und Topfpflanzen, niedrige Tische und bequeme Stühle. William stellte sich vor und sagte, er sei mit Jomar Bengtsen verabredet. Er glaubte, er würde sicher eine Weile warten müssen, doch sie lächelte ihn sofort mit einem Folgen-Sie-mir-Blick an und führte ihn an einer Sitzgruppe vorbei, wo einige Männer saßen und Kaffee tranken. Er ging davon aus, dass es sich um Patienten handelte, doch weder Aussehen noch Kleidung ließen auf ihren Geisteszustand schließen; auch sah er keine dumpfen Blicke, die verrieten, dass sie sich in einer anderen Welt befanden.
Dr. Bengtsen hingegen, ein stattlicher Mann in den Fünfzigern mit ungebändigten, abstehenden Haaren, machte auf den voreingenommenen William einen dubiosen Eindruck. Mit den tief liegenden Augen und seiner bunten Jacke hätte er durchaus zu den Patienten gehören können. Vielleicht verhielt es sich wirklich so, wie viele – Ivar inklusive – behaupteten: dass Leute sich gern zu Psychologen oder Psychiatern ausbilden ließen, um den eigenen psychischen Problemen auf den Grund zu kommen.
Die Stimme passte allerdings zu einem professionellen Mediziner. Der Händedruck war warm und fest, und sobald er seinen Gast in einem bequemen Stuhl seines gelb gestrichenen Büros im Dachgeschoss hatte Platz nehmen lassen, setzte er sich ihm gegenüber und verkündete, er habe nur dreißig Minuten Zeit.
»Ich möchte nicht unhöflich sein, Herr Schrøder, aber ich habe schrecklich viel zu tun.«
»Das verstehe ich gut.«
»Ein generelles Interview, sagten Sie, oder geht es um die irrige Annahme, wir hätten einen Mörder in unserem Haus?«
»Weder noch ...« William legte seinen Notizblock auf den niedrigen Tisch und zückte seinen Kugelschreiber.
»Die Polizei war schon hier, zusammen mit einer Bankangestellten und einem Setzer von Ihrer Zeitung. Sie bekamen die Erlaubnis, sich auf Station VII umzusehen und mit allen männlichen Patienten zu sprechen. Vermutlich glaubten sie, dort den Tatverdächtigen wiederzuerkennen.«
»Das war nicht der Fall?«
»Gott bewahre, nein. Und jetzt hoffe ich sehr, dass uns der lange Arm des Gesetzes in Frieden lässt.«
»Sie halten es also für völlig ausgeschlossen, dass einer Ihrer Patienten einen Mord begehen könnte?«
Der Psychiater rollte so wild mit den Augen, dass William am liebsten seinen Blick abgewandt und die nackten Baumkronen vor dem Fenster betrachtet hätte, doch er konnte sich beherrschen.
»Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, Herr Schrøder. Bei psychisch Kranken ist nichts auszuschließen. Aber ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, die Umstände in Betracht gezogen.«
»Es gibt auch Patienten, die zu Gewalt neigen, verstehe ich Sie da richtig?«
»Aber ja. Falls gewisse Voraussetzungen gegeben sind und sich eine Gelegenheit bietet. Aber das ist bei uns nicht der Fall!«
»Ich verstehe.«
»Tun Sie das?«
»Natürlich. Im Grunde bin ich auch mehr an Ihrer Meinung hinsichtlich der Handlungsmuster eines Mörders interessiert, seines ... wie soll ich mich ausdrücken ... seines Modus operandi.«
Hatte er sich eingebildet, mit dem Arzt auf gleicher Augenhöhe diskutieren zu können, indem er sich eines lateinischen Ausdrucks bediente, unterlag er einem peinlichen Irrtum. Das Einzige, was beiden gemeinsam war, waren ihre Brillen. Der Arzt breitete abrupt die Arme aus, während seine Augen hinter den Gläsern fast aus ihren Höhlen kullerten: »Du lieber Himmel, woher soll ich denn das wissen? Es wimmelt doch nur so von Handlungsmustern, und keines gleicht dem anderen.«
»Nun, einige gemeinsame Merkmale, zum Beispiel bei Serienmördern, wird es doch sicherlich geben.«
»Aha, Sie wollen also andeuten, dass der Mann, den die Polizei sucht, weitere Morde begehen könnte?«
William ruderte zurück. »Nein, nein, das war eine generelle Frage.«
»Die von einem Mann mit so geringer Erfahrung, wie ich sie habe, nicht zu beantworten ist. Zwar habe ich schon Menschen kennen gelernt, die getötet haben, aber nicht von der Sorte, an die Sie denken.«
Es folgte ein längerer Vortrag, und William schrieb eifrig mit. Er fühlte sich wie ein Student in einem Hörsaal, wie ein Laie, der versuchte, eine Theorie zu verstehen, ohne die nötigen Vorkenntnisse zu besitzen. Doch einiges begriff er.
Bei einzelnen psychisch gestörten Menschen, dozierte Bengtsen, seien die üblichen Barrieren und Tabus nicht vorhanden. Ethische Normen im Umgang mit anderen Menschen könnten dann außer Kraft gesetzt sein, und das Empfinden von Gut und Böse variiere je nach der augenblicklichen Situation, sofern der Betreffende überhaupt ein bewusstes Verhältnis zu seiner Umwelt habe. Der Journalist sollte wissen, dass solch asoziales Verhalten auch bei so genannten gesunden Menschen vorkomme. Ein Psychopath sei nicht unbedingt geisteskrank in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, aber dennoch zu den perversesten Handlungen imstande. Im Gegensatz zu psychisch Kranken seien sich dissoziale Menschen über ihr Verhalten im Klaren, nur nicht imstande, sich über ihre ererbten, egoistischen Instinkte hinwegzusetzen.
Bengtsen erging sich in langen Exkursen. Und versuchte William das Dilemma seines Berufsstands zu verdeutlichen. In den USA sei es beispielsweise verboten, bei psychisch Kranken das Todesurteil zu vollstrecken, unabhängig davon, wie ungeheuerlich ihre Verbrechen seien. Einer, der wegen Mordes auf seine Hinrichtung warte, heiße Claude Maturana. Warte in Anführungszeichen, denn er sei geistig so verwirrt, dass er kaum das Urteil zur Kenntnis genommen habe. Sei es moralisch vertretbar, den Mann zu behandeln, nur damit er eines Tages auf dem elektrischen Stuhl lande?
»Ich schenke genetischen Erklärungsansätzen einfach keinen Glauben«, sagte Bengtsen abschließend, »wenn es um Mörder geht. Sie kennen doch sicher den Sozialpsychologen Stanley Milgram.«
»Ein wenig.«
»Seiner Meinung nach kann jeder, absolut jeder unter gewissen Bedingungen zum Mörder werden. Denken Sie nur an Hitler-Deutschland. Ich halte Milgrams Theorien für stichhaltiger als die von Adrian Raine, einem anderen Amerikaner, der behauptet, mörderische Hirne hätten eine besondere Struktur. Solche Gehirne zeigen angeblich eine geringere Aktivität in dem Teil, der negative Impulse verarbeitet. Daher könnten die betreffenden Personen ihre Aggressionen nur unzureichend kontrollieren. Nun ja, ich will diese Möglichkeit nicht völlig ausschließen, aber ...«
»Ist eine Heilung gewisser Patienten unmöglich?«
»Manchmal ja, auch wenn es sich nicht um eine Geisteskrankheit handelt. Wachsen Kinder unter furchtbaren Umständen auf, werden aus ihnen mitunter die schlimmsten Verbrecher. Kindliche Traumata können zu asozialem Verhalten führen. Doch auch gesunde, erwachsene Menschen können sich zu Mördern entwickeln, wenn sie zum Beispiel verinnerlicht haben, dass Konflikte am besten durch Gewalt zu lösen sind.« Er warf einen Blick aus dem Fenster, während sich seine Stirn in Falten legte. »Vor Jahren habe ich einen interessanten Fall erlebt: Ein zuvor gesunder Mann bekam unheilbare psychische Probleme, weil er gemordet hatte. Doch Sie werden verstehen, Herr Schrøder, dass ich Ihnen unmöglich eine allgemeine Charakteristik geben kann, schon gar nicht in Bezug auf einen Mörder, der mir völlig unbekannt ist.«
Vielleicht hatte er das schon getan, dachte William hinterher. Selbst ein kompetenter und ein wenig exzentrischer Arzt wie Jomar Bengtsen konnte nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass einer seiner Patienten ein Mörder war.
Das