Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


Скачать книгу
der Pinzette trug er den Umschlag und das Blatt Papier zum Kopierer. »Außerdem ...«

      »Ja?«

      »Außerdem hat mir Kolbjørnsen gesagt, dass ein identischer Brief auf seinem Schreibtisch lag, als er von der Beerdigung kam.«

      Während Ivar sich auf das Kopieren konzentrierte, stand William auf, streckte den Arm aus und angelte sich den Block, warf einen Blick darauf und stellte fest, dass sie wieder einmal dieselben Überlegungen anstellten. Falls sie beide richtig vermuteten, standen sie – und nicht zuletzt die Polizei – dem schlimmsten Verbrechertypus von allen gegenüber, einer personifizierten Bedrohung, die zum Albtraum für die Allgemeinheit werden konnte. Ivar hatte ein einziges Wort notiert.

      Serienmörder?

      Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Das einzige Geräusch war das Summen des Kopierers.

      Wenn sie allein

      zu Hause war, blieb sie manchmal am Fenster stehen und blickte hinaus, in Richtung Fjord. Lange und unverwandt, als ob die Lichter, die sich zwischen ihr und dem Wasser befanden, ihre Fragen hätten beantworten oder besser gesagt: sie von ihrer nagenden Unsicherheit hätten befreien können.

      Sie wusste, sie würde diese nie loswerden, solange er sich nicht aus seiner Schale befreite und ihr in die Augen blickte, wenn sie sich dem Thema näherten. Aber das tat er nie. Jedes Mal, wenn er darüber zu sprechen begann, was in seinem Kopf vor sich ging, und wenn sie hoffte, dass nun, nun die Wahrheit ans Licht kommen würde, wich sein Blick zurück. Wurde fern und diffus, worauf er sich entweder einigelte oder von etwas anderem zu sprechen begann. Den Fernseher anstellte und in den Keller ging. Wenn er wieder heraufkam, den Arm voller Birkenholz, das nach sommerlichem Wald duftete, pfiff er meist irgendein altes Stück – Jimi Hendrix? – vor sich hin und war so zärtlich gestimmt, dass er beim geringsten Hüftschwung von ihr dahinschmolz und sie zu liebkosen begann. Seine Augen wurden dann sanft und warm, und sie ließ es zu, dass seine Hände ihren gesamten Körper ertasteten. Vergaß die bohrende Angst und gab sich ganz dem Genuss hin. Niemand, glaubte sie, war imstande, ihr solch eine Lust zu bereiten wie er. Sie wurde schon feucht, wenn er sie nur ansah. Dabei waren sie beide nicht mehr die Jüngsten!

      Dennoch wunderte es sie, dass er immer wieder von sich aus auf ein Leben zu sprechen kam, das er offenbar verabscheute und das mehr als dreißig Jahre zurücklag. Warum drang er nie zum Wesentlichen vor, zum Kerngehäuse des verbotenen Apfels?

      Warum ließ er sie abends, wenn es dunkel war, manchmal allein? Früher hatte sie ihn oft nach dem Grund gefragt, doch seine Antworten waren stets vage gewesen.

      »Wo willst du hin?«

      »Ich muss raus.«

      »Wohin?«

      »Weiß nicht. Muss den Kopf freibekommen.«

      Er konnte fünfzehn Minuten oder stundenlang fortbleiben, zu Fuß gehen, die Skier oder das Auto benutzen. Einmal hatte sie darauf bestanden mitzukommen, und widerstrebend hatte er eingewilligt. Sie waren bergauf gegangen, dem Wald entgegen. Mit sicherem Schritt hatte er sie durch das nahezu undurchdringliche Terrain geführt, während er kaum ein Wort sprach und sich vermutlich über eine Vergangenheit den Kopf zerbrach, die sie so gern mit ihm geteilt hätte. Doch inzwischen behelligte sie ihn nicht mehr mit ihren Fragen; ihr Arzt hatte ihr dringend davon abgeraten und gesagt, es sei vollkommen sinnlos, noch mehr Druck auf ihn auszuüben. Solange er das Thema von sich aus nicht anschnitt, konnten ihre fordernden Fragen seinen totalen Zusammenbruch auslösen.

      Jetzt war sie allein. Stand zehn Minuten am Fenster, bevor sie sich losriss. Ging langsam ins Schlafzimmer, zog einen Hocker an den geöffneten Kleiderschrank, stieg auf ihn und angelte sich eine Pappschachtel vom obersten Regal. Setzte sich aufs Bett und entfernte den Deckel. Er hatte ihr nie verboten hineinzuschauen. Kurz vor ihrer Hochzeit hatte er ihr sogar den Inhalt gezeigt, jeden einzelnen Gegenstand hervorgeholt, ihr anvertraut, was er alles mitgemacht hatte, jedenfalls das meiste. Er fand, sie sollte das wissen, bevor sie ihm ihr Jawort gab.

      Sein innerstes Geheimnis, das er nicht mit ihr zu teilen vermochte, musste sich in dieser Schachtel befinden. Doch falls es so war, falls die kleinen Gegenstände ihn an das Allerschlimmste erinnerten, warum behielt er sie dann? Warum grub er nicht ein Loch und ließ die Reliquien für immer darin verschwinden? Sie nahm die Dinge heraus und hielt sie eine Weile in der Hand, bevor sie sie auf die geblümte Bettdecke legte: die Dokumente, das Kästchen mit den Medaillen, die Zeitungsausschnitte, die metallenen Identifikationszeichen und zuletzt – das Armeemesser mit dem grünen Griff. Sie zog es langsam aus der Scheide, worauf die scharfe Klinge im Licht aufblitzte, das durch den Erker fiel.

      Das Messer.

      So hatten sie ihn genannt. Falls er die ganze Geschichte und seine psychischen Leiden nicht erfunden hatte, um die Demütigung verkraften zu können, beim Militär aussortiert worden zu sein.

      Dennoch begannen ihre Finger zu zittern. Dann hörte sie das Geräusch seines Wagens und legte alles rasch an seinen Platz zurück. Als er den Flur betrat, hatte sie die Schachtel wieder auf das oberste Regal geschoben und ging ihm lächelnd entgegen.

      Die Polizei

      musste öffentlich einräumen, auf der Stelle zu treten. Das fürchterliche Verbrechen, das ganz Lade aufgeschreckt hatte, schien unaufgeklärt zu bleiben. Beinahe vier Wochen waren vergangen, seit der Student Gorm Ordal seine Mutter tot aufgefunden hatte, und obwohl die Polizei jeden Stein umdrehte und die wenigen gesicherten Erkenntnisse von allen Seiten betrachtete, sogar mehrmals mit denselben Personen sprach, gab es einfach nichts Neues, das die Nachforschungen in die richtige Richtung hätte lenken können. Alle Wege mündeten in eine Sackgasse.

      Die einzige konkrete »Spur« waren die kurzen, deformierten Zigarettenstummel, die vielleicht nicht einmal vom Täter stammten. Hauptkommissar Storm zufolge war es unmöglich, so etwas wie Fingerabdrücke auf ihnen zu erkennen. Da half es auch nicht, dass die Spurensicherung feststellte, beim Tabak handele es sich um Petterøes Blau Nummer drei. Die Lösung des Falls schien in immer weitere Ferne zu rücken.

      Die Leute fanden es regelrecht peinlich, dass weder die Experten von KRIPOS noch die Mitarbeiter der Trondheimer Polizeibehörde etwas in der Hand hatten. Natürlich gab es eine große Dunkelziffer, Todesfälle, bei denen niemand Verdacht schöpfte, es könne ihnen ein Verbrechen zugrunde liegen, doch meistens fand die Polizei früher oder später den Schuldigen. Und selbst in den relativ wenigen unaufgeklärten Fällen gab es in der Regel ein paar Indizien: einzelne Haare, Fußabdrücke, zurückgelassene Waffen, ein auffälliges Fahrzeug, winzige Blutspuren oder anderes mikroskopisches Material, das Verdächtige mit dem Tatort verknüpfte. Doch in diesem Fall hatte niemand beobachtet, wie eine Person, die es sehr eilig gehabt hatte, in einen Wagen gestiegen und davongebraust war.

      Alles deutete auf einen Raubmord hin, für den es nur zwei mögliche Zeugen gab – mögliche, weil keinesfalls sicher war, dass es sich bei der »männlichen Person«, die die Bankangestellte sowie der Setzer gesehen hatten, um den Mörder handelte. Vielleicht hatten sie nicht einmal dieselbe Person beobachtet, und die Polizei konnte weiterhin nicht ausschließen, dass der Täter eine Frau war. Entweder war der Mörder mit allen Wassern gewaschen oder er hatte einfach eine Riesenportion Glück gehabt.

      Glück, dachte William Schrøder, hatte auch Vibeke Ordal gehabt, wenn auch nur am Anfang. Er und Ivar verwendeten viel Zeit darauf, über den Fall zu diskutieren, nicht zuletzt, weil sie in diesen stärker involviert schienen als üblich. Zum einen war der Tipp von einem ihrer Kollegen gekommen, zum anderen war einer der beiden identischen Briefe an Ivar adressiert gewesen, vermutlich weil der Absender seine Veröffentlichung in der Zeitung anstrebte.

      Nach starkem Druck seitens der Polizei sowie mehreren internen Konferenzen hatte sich Chefredakteur Gunnar Flikke schweren Herzens dazu entschieden, von einer Veröffentlichung der kurzen Nachricht Abstand zu nehmen – fürs Erste. Polizeioberrat Martin Kubben hatte mit allem Nachdruck gefordert, die Zeitung solle es bei ihrer Internetumfrage: Was meinen Sie? Welche Strafe verdient der Angeklagte im Giftmordprozess? bewenden lassen. (Die peinliche Umfrage wurde nach einer Stunde gestoppt, war zu diesem


Скачать книгу