Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
dass du die Erste bist. Heidi wird dir sicher ungeheuer dankbar sein!«
Solveig ließ sich unwillig wieder auf das Sofa plumpsen. Nahm einen Schluck und sagte: »Ich verstehe nicht, wie du so gelassen sein kannst. Gerade du, der genau weiß, was in dieser Gegend für schreckliche Dinge geschehen.«
»Das meiste ist völlig harmlos.« Er strich ihr über den Kopf. Ihr Haar fühlte sich ganz und gar nicht nach getrockneter Lava an. Es war weich, und er wünschte sich, dass seine Tochter in ihrem Zimmer schliefe und Solveig in seinen Armen läge und dass sie diejenige wäre, nach der er sich gesehnt hatte, seit er nach Hause gekommen war. Doch was Sex betraf, gab es keinen schlimmeren Feind als nagende Angst.
»Das meiste, ja. Aber sie ist noch so jung. Und so unerfahren.«
»Unbekümmert ...«
»Genau. Es geschehen nun mal so furchtbare Dinge, William!«
»Darüber bin ich mir im Klaren. Aber es gibt doch auch ganz normale Verspätungen. Man trifft irgendwelche Bekannte und vergisst die Zeit. Vor allem, wenn man jung ist.« Er zog sie an sich und senkte die Stimme. »Bist du Musterkind etwa nie zu spät nach Hause gekommen?«
Sie nickte verhalten, und als er spürte, wie sie sich ein wenig beruhigte, versuchte er den alten Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, indem er sie daran erinnerte, dass schließlich sie es gewesen war, die ihn überredet hatte, die Streifenpolizisten zu begleiten. Doch obwohl seine Taktik Erfolg hatte, irritierte es ihn, dass die Angst um ihre Tochter jetzt auf ihn übergegangen war. Außerdem ärgerte er sich, dass er etwas getrunken hatte und seine Tochter nicht mehr mit dem Auto abholen konnte.
Um ein Uhr hielt er es nicht mehr länger aus, sprang auf und sagte forsch: »Jetzt ruf ich an und verderbe ihnen den Abend! Hast du die Nummer?«
Die hatte Solveig, doch genau in dem Moment, als er vor dem schmalen Schreibtisch stand, die Nummer eintippte und sich davor fürchtete, wie die Antwort ausfallen würde – falls überhaupt jemand ans Telefon ging –, hörten sie das altbekannte, wohltuende Geräusch der Haustür, die ins Schloss fiel. Er schaffte es gerade noch, den Hörer aufzulegen, bevor Heidi, den Schlüssel in der Hand, mit roten Wangen ins Zimmer stürzte und rief, sie hätten solch einen Spaß gehabt.
Zur geplanten Standpauke kam es nicht. Williams Magenschmerzen waren wie weggeblasen, und als Heidi die Verspätung damit erklärte, der Sohn von Herrn Jensen habe sie nicht wie verabredet mit dem Auto abgeholt und es sei schwierig gewesen, ein Taxi zu bekommen, kehrte in der Wohnung der Familie Schrøder wieder Ruhe und Frieden ein.
Ein weiteres Mal konnten sie feststellen, dass die großen Unglücke immer nur anderen zustießen.
Am Sonntagmorgen
hatte er Schwierigkeiten, einen unangenehmen Traum loszuwerden, der ihn in der Nacht gequält hatte. Er brauchte frische Luft, fuhr mit dem Auto bis an den Stadtrand und machte sich mit seinen Langlaufskiern auf den Weg. Solveig besuchte lieber eine Vernissage, während Heidi sich aus beidem nichts machte.
Das Wetter ließ allerdings zu wünschen übrig. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, es schneite stetig, und auch der Untergrund hätte besser sein können. Darum schnallte er schon bei Grønlia seine Skier ab, ging in die Hütte, reinigte seine beschlagenen Brillengläser und entdeckte, als er wieder freie Sicht hatte, ein loderndes Kaminfeuer – sowie einen guten Freund.
»Mistwetter«, stellte Oddvar fest, der mit einer etwa gleichaltrigen Frau an einem der Tische saß und Kaffee trank.
Oddvar Skaug war der einzige seiner alten Freunde, mit dem William immer noch Umgang pflegte. Er vertrat durchdachte Meinungen und hielt mit ihnen nicht hinterm Berg, vor allem wenn es um Frauen und Fußball ging. Sie gingen fast immer zusammen ins Lerkendalstadion, doch im Gegensatz zu William war Oddvar unverheiratet und kinderlos. Er besaß eine kleine Computerfirma namens Omega, die sich auf Firmenberatung spezialisiert hatte. Obwohl er für verschiedenste Unternehmen arbeitete, war er offenbar nicht clever genug, so viel zu verdienen wie manche seiner Konkurrenten, worüber er sich nur selten beklagte. Im Gegensatz zu den meisten von Williams Bekannten schien Geld für ihn keine dominierende Rolle zu spielen.
»Darf ich dir Gøril vorstellen?«
Ihr Nachname schien ihm im Moment entfallen zu sein, aber was machte das schon. Oddvars Damenbekanntschaften waren ebenso flüchtig wie Eintagsfliegen.
»William arbeitet für den Trondheimer Anzeiger, als Experte für Kriminalfälle.«
»Wie aufregend.«
Er setzte sich wieder die Brille auf und war sich nicht sicher, ob die Antwort ironisch gemeint war oder nicht. Doch der nordländisch gefärbte Klang ihrer Stimme sowie ihre neugierigen Augen unter den Locken schienen auf Letzteres hinzudeuten.
»Er kennt den Bodensatz der Gesellschaft und weiß genau, was in einem kranken Verbrecherhirn vor sich geht.«
»Jetzt hör schon auf, Oddvar. Ich bin ein ganz normaler Journalist.«
»Was du nicht sagst. Über den Mord, der vorletzte Woche in Lade passiert ist, bist du aber sicher gut informiert.«
»Auch die Polizei scheint bis jetzt ziemlich im Dunkeln zu tappen. Es sei denn, sie hält ihr Wissen zurück.«
»Sprecht ihr von der Frau, die ausgeraubt und erstochen wurde?«
»Die rechte Halsschlagader war durchtrennt«, präzisierte William.
»Mit einem Messer?«
»Möglicherweise. Aber im Grunde genommen habe ich keine Ahnung, was für eine Waffe benutzt wurde. Außerdem ist ein Kollege von mir für die Sache zuständig.« Normalerweise diskutierte er mit Außenstehenden nicht über aktuelle Fälle, schon gar nicht, wenn sie nichts Erhellendes beizutragen hatten. Was selten der Fall war.
»Die arme Frau«, fuhr sie fort. »Dabei hatte sie gerade im Lotto gewonnen.«
Als ob das einen Unterschied machte, dachte William. Er unterließ den Hinweis, dass der Lottogewinn die Tragödie vermutlich erst verursacht hatte. Musste sich eingestehen, dass er sich als Artikelschreiber wohl dieselben Gedanken gemacht hätte wie Ivar: Warum hatte die Frau die Dummheit begangen, so viel Bargeld abzuheben? Von Vorfreude zu tiefster Trauer hatte Ivar in Anspielung auf die psychische Verfassung des Sohnes getitelt. Kein Zweifel, dass die Art der journalistischen Aufbereitung die Meinung der Leser beeinflusste.
»So ist das Leben«, sagte Oddvar lapidar, »besser gesagt, der Tod.«
Genau, dachte William. Das war in diesem Fall der alles entscheidende Punkt. Die Familie Danielsen von gestern Abend hatte zwar kein Geld gewonnen. Daran hätte sich auch nichts geändert, wenn Frau Danielsen den Totoschein rechtzeitig abgegeben hätte. Doch dafür hatte der Familienstreit nicht mit einer tödlichen Katastrophe geendet.
»Bei uns vergeht keine Kaffeepause, in der wir nicht über die arme Frau sprechen«, sagte Gøril. »Es geschah ja schließlich ganz in der Nähe.«
»Sie wohnen in Lade?«
»Nein, aber ich arbeite in der Psychiatrischen Klinik. Nicht auszudenken, wenn es einer unserer Patienten getan haben sollte. Die meisten von ihnen sind nicht gezwungen, sich die ganze Zeit auf dem Krankenhausgelände aufzuhalten. Selbst aus dem am strengsten bewachten Gebäude, dort, wo sich die gewalttätigen Patienten aufhalten, könnte ohne weiteres mal jemand entwischen. Die Kontrollmaßnahmen sind nicht lückenlos.«
»Also ich kann mir das nicht vorstellen«, wandte Oddvar ein. »Dass eine Person mit massiven psychischen Problemen oder einer geistigen Störung in der Lage sein soll, jemanden auszurauben, zu ermorden und sich unbemerkt wieder in die Klinik zu schleichen. Und wie sollte sie überhaupt an ein scharfes Messer herankommen?«
»Das Gros der Patienten ist vollkommen harmlos. Trotzdem kann man natürlich nichts ausschließen. Die Fälle sind so verschieden und reichen von vorübergehenden Depressionen bis zu unheilbarer Schizophrenie. Manche sind in ihrem Verhalten absolut unberechenbar, und so viel Verstand gehört doch wohl nicht dazu, um