Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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lagen neben einer halb geleerten Kaffeetasse und einem Teller mit Brotkrümeln eine aufgeschlagene Tageszeitung sowie ein ausgefüllter Lottoschein. Falls die abgedruckten Gewinnzahlen richtig waren – was sich kurze Zeit später bestätigte –, hatte sie soeben 153270 Kronen gewonnen.

      Erste Schlussfolgerung:

      Vieles deutete darauf hin, dass Vibeke Ordal zu einem früheren Zeitpunkt des Tages von ihrem Lottogewinn erfahren hatte. Darum rief sie um halb eins ihren Sohn an und lud ihn samt seiner Freundin zum Abendessen ein, vermutlich um ihm oder ihnen beiden einen Teil der Gewinnsumme zu schenken. (Dem Sohn war nach eigener Aussage nicht bekannt, dass seine Mutter Lotto spielte.) Später war ihr eine bisher unbekannte Person – vermutlich im Wissen, dass sie soeben das Geld von der Bank abgehoben hatte – auf dem Heimweg zum Victoria Bachkes vei gefolgt. Die betreffende Person verschaffte sich auf noch nicht geklärte Weise Zugang zum Haus. Möglicherweise kam es in der Küche zu einem Handgemenge, doch vermutlich wurde die Hausbesitzerin ermordet, ehe sie sich zur Wehr setzen konnte. Danach nahm der Täter oder die Täterin das Geld an sich und verließ das Haus.

      Sollten diese Vermutungen sowie die Annahme, dass es sich beim Täter nicht um einen Bekannten des Opfers handelte, den Tatsachen entsprechen, stand die Polizei vor einer weitaus schwierigeren Aufgabe, als Polizeioberrat Kubben anfangs gedacht hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er getan, was er konnte, und das war nicht viel. Kolbjørnsen wusste, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter Nils Storm ihm die Verantwortung für den komplizierten praktischen Teil der Ermittlungen übertragen würde, die im schlimmsten Fall ergebnislos blieben.

      Außerdem konnte man sich keinesfalls darauf verlassen, dass die Spurensicherung ihnen konkrete Anhaltspunkte liefern konnte. Balke war bereits beauftragt worden, Befragungen in der Nachbarschaft durchzuführen. Wenn sie Glück hatten, befand sich der Mörder immer noch in der Nähe. War es gar denkbar, dass er das Geld nicht an sich genommen hatte und dieses als Tatmotiv keine Rolle spielte?

      Gorm Ordal, der sich unter den gegebenen Umständen erstaunlich schnell wieder gefasst hatte, half der Polizei beim Auswählen von Schränken und Schubladen, in denen seine Mutter die Scheine möglicherweise hätte verstecken können, doch es wurde kein Geld gefunden. Eine Flasche Rotwein der beliebten Sorte Cappella stand auf dem Esstisch im Wohnzimmer, und der junge Mann zweifelte nicht, dass sie die drei Steaks sowie das frische Gemüse, das im Kühlschrank lag, hätte begleiten sollen. Außerdem ließen die angeschaltete Stereoanlage sowie die eingelegte Frank Sinatra-CD vermuten – wie er Kolbjørnsen unter Tränen versicherte –, dass sie einen glücklichen Nachmittag verlebt hatte, bevor das Furchtbare geschehen war. Auch hatte sie Kaffee getrunken und in der Küche die Zeitung gelesen. Was bedeutete, dass seine Mutter unmittelbar nach ihrer Heimkehr ermordet worden war. Wie hätte sich der Täter Zugang verschaffen sollen, wenn sie ihn nicht gekannt hatte? Vielleicht hatte er sich als Vertreter oder Ähnliches ausgegeben.

      Die wahrscheinliche Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Balke kehrte aus der Nachbarschaft zurück und konnte berichten, dass ein Mann namens Preben Henriksen auf dem Heimweg um ziemlich exakt zehn Minuten vor halb sechs in gemächlichem Tempo am Bungalow vorbeigefahren war und Frau Ordal zugewinkt hatte, während diese – ohne Mantel! – gerade den Briefkasten geleert hatte. Sie hatte zurückgewinkt. Nur eine knappe Minute später, nachdem Henriksen seinen Wagen zwei Häuser weiter in die Garage gestellt, das Tor geschlossen und seinen Briefkasten geleert hatte, war ein Mann an ihm vorübergehastet, wenn nicht gelaufen, und in Richtung Olav Engelbrektssons allé verschwunden. Henriksen hatte den Mann nicht beschreiben können, wusste auch nicht zu sagen, ob er jung oder alt gewesen war, erinnerte sich bloß an dessen dunkle Kleidung. Nein, er hatte nicht gesehen, ob er aus dem Vorgarten von Vibeke Ordal gekommen war, doch mit Sicherheit aus dieser Richtung. Vor allem war ihm der Mann aufgefallen, weil er es so eilig gehabt hatte.

      Kolbjørnsen hielt es durchaus für möglich, dass der Täter Vibeke Ordal auf der Bank beobachtet hatte und ihr dann nach Hause gefolgt war. Ebenso wahrscheinlich war es, dass er sich ins Haus geschlichen hatte, während sie den Briefkasten leerte. Vermutlich war sie überwältigt und ermordet worden, nachdem sie in die Küche zurückgekehrt war, in der sich der Eindringling gerade die Beute sicherte. Falls es sich beim Mörder um die Person handelte, die Henriksen beobachtet hatte, konnten sie zumindest den Tatzeitpunkt sehr genau bestimmen.

      Zumindest.

      Alles andere – das Wichtigste – war nach wie vor ein Rätsel. Der unbekannte Täter, sofern es sich um einen Mann handelte, war vermutlich über alle Berge.

      Kolbjørnsens Laune wurde auch nicht besser, als gegen 23 Uhr ein altbekanntes Gesicht vor dem Haus auftauchte. Er begegnete ihm auf der Treppe zur Haustür. Mit Rücksicht auf die Schwere des Falls hatte er seine Mitarbeiter angewiesen, anstelle des Polizeifunks, der von nahezu jedem abgehört werden konnte, ihre Handys zu benutzen. Jemand musste Ivar Damgård, einem von zwei Journalisten, die für den Trondheimer Anzeiger die Kriminalfälle recherchierten, einen Tipp gegeben haben. Der Kommissar betrachtete ihn im Grunde als netten Kerl, der nur seinen Job erledigte, doch heute Abend legte er auf seine Gegenwart absolut keinen Wert.

      »Wer hat Sie informiert, Damgård?«

      »Das werde ich Ihnen schon sagen, vorausgesetzt, Sie erzählen mir, was geschehen ist.«

      Kolbjørnsen warf einen Blick auf die Straße. Gott sei Dank hatten sich vor dem Zaun noch nicht allzu viele Schaulustige versammelt. »Das muss Kubben entscheiden.«

      Der Polizeioberrat wurde hinzugezogen. Auch er verlangte den Namen des Informanten, bevor er seinerseits Informationen herausgab.

      Ivar Damgård lächelte. Es war ihm anzusehen, dass er bereits eine ganze Menge wusste. »Mein Informant heißt Preben Henriksen und wohnt gleich dort drüben. Er arbeitet als Setzer bei uns. Ein Polizist wollte von ihm wissen, ob er in den letzten Stunden etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte, und als Henriksen sagte, er habe einen unbekannten Mann die Straße entlanghasten sehen, klärte ihn der Beamte darüber auf, dass es sich vermutlich um einen brutalen Gewaltverbrecher handelte.«

      »Was haben Sie doch für ein Glück mit Ihren gesprächigen Kollegen«, sagte Kubben, der froh gewesen wäre, wenn der junge Balke sein Mundwerk im Zaum gehalten hätte.

      »Das können Sie laut sagen. Die Bewohnerin dieses Hauses wurde ausgeraubt und ermordet, nicht wahr?«

      »Wenn Sie ihren Namen bis auf weiteres geheim halten, gebe ich Ihnen eine Kurzversion der Geschehnisse. Sie kennen die Spielregeln.«

      Der Journalist nickte und zückte seinen Notizblock.

      Danach blickte er verstohlen zum Küchenfenster hinüber und äußerte den Wunsch, das Haus betreten zu dürfen, was ihm jedoch verwehrt wurde. Man gestand ihm allenfalls zu, eine Außenaufnahme des Bungalows zu machen. Damgård warf einen Blick auf seine Armbanduhr und war mit dem Erreichten zufrieden. Wenn die Nachricht morgen in der Zeitung stehen sollte, musste er sich sputen. Nur eines wollte er noch wissen: »Der Täter lief also vermutlich in Richtung Olav Engelbrektssons allé davon?«

      Kolbjørnsen und Kubben nickten bestätigend.

      »Womit nicht auszuschließen ist, dass er nach Østmarkneset wollte«, fügte Damgård listig hinzu.

      »Das ist einzig und allein Ihre Schlussfolgerung.«

      Kolbjørnsen wusste, worauf der Journalist anspielte, denn auch ihm war diese Möglichkeit schon in den Sinn gekommen. Nur einen knappen Kilometer entfernt befand sich Trøndelags Psychiatrisches Krankenhaus, dessen teils gewalttätige Patienten unter Verschluss gehalten wurden. Konnte sich einer von ihnen unerlaubt Ausgang verschafft haben?

      Er seufzte. Keine sechs Stunden nach dem Tod Vibeke Ordals hatten die Spekulationen begonnen – auch in seinem Kopf.

      Die beiden kleinen Kinder

      im Türrahmen konnten auf den ersten Blick an Hänsel und Gretel erinnern. Hand in Hand standen sie unbeweglich da und drückten sich eng aneinander, als hätten sie auf der Welt nur einander.

      Vielleicht empfanden sie wirklich so, dachte William Schrøder, doch ihre weißen Gesichter ließen nicht


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