Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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hielt plötzlich inne, als ärgere sie sich über die Andeutung, ihr Arbeitsplatz sei ein Hort potenzieller Mörder, die jederzeit ausbrechen und bestialische Verbrechen begehen könnten. In der langen, ehrenhaften Geschichte des Psychiatrischen Krankenhauses von Trøndelag war so etwas sicher noch nie vorgekommen, dachte William. Doch unwillkürlich begann ihn das Thema zu interessieren. Sogar Ivar hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen. Natürlich nicht in der Zeitung. Dort hatte er ausschließlich mitgeteilt, der Nachbar der Toten habe zum vermuteten Tatzeitpunkt einen Mann in Richtung Olav Engelbrektssons allé hasten sehen. Weitere Spekulationen waren Sache der Leser. Der Mann konnte den Weg nach rechts eingeschlagen haben, in Richtung Ringvebukta und Fagerheim. Hatte er sich hingegen nach links gewandt, wäre er entweder zur Ringve-Schule und später zur Lade-Kirche gelangt oder er hätte sich auf Lademoen und die Stadtmitte zu bewegt. Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit: Er hätte vor der Schule in den Østmarkveien abbiegen können, der seinerseits von der Olav Engelbrektssons allé gekreuzt wurde. Die Entfernung vom Victoria Bachkes vei bis zum Krankenhaus betrug nur wenige hundert Meter.

      »Was tun Sie in der Klinik?«, fragte er

      »Ich bin Krankenschwester auf der Abteilung II.«

      »Ist die Polizei schon bei Ihnen gewesen?«

      »Nicht bei uns. Aber die Abteilung VII wurde offenbar befragt, ob an dem betreffenden Nachmittag irgendwelche Patienten außer Haus gewesen seien. Ohne Ergebnis, soviel ich weiß.«

      »Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass ein gefährlicher Patient sich unerlaubt Ausgang verschafft haben könnte?«

      »Äh ... nein ... ich denke nicht.« Gøril zögerte. »Sie wollen meine Aussage doch nicht etwa in der Zeitung wiedergeben?«

      »Klar, du kommst morgen bestimmt auf die Titelseite«, sagte Oddvar grinsend.

      »Nein, keine Sorge«, entgegnete William. »Aber danke für Ihre Einschätzung.«

      Dann stand er auf, verabschiedete sich von den beiden, gab seine leere Kaffeetasse ab und verließ die Hütte. Da der Schneeregen inzwischen in Regen übergegangen war, beschloss er, die kürzeste Loipe nach Storsvingen zu nehmen. Bei solchem Wetter, mit nassem Rücken, zog er sich leicht eine Erkältung zu.

      Während eines sanften Anstiegs kam ihm plötzlich der Gedanke, der Mörder könne so berechnend gewesen sein, dass er absichtlich in Richtung Psychiatrische Klinik gelaufen war, um die Polizei in die Irre zu führen. Was ihm somit auch gelungen wäre.

      In Wirklichkeit war der Mann vielleicht nach links abgebogen, als er den Østmarkveien erreichte, hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und war zum Parkplatz des Einkaufscenters zurückgekehrt. War dort in sein Auto gesprungen und hatte sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht handelte es sich um jemand, der nicht vorbestraft war, einen gerissenen, intelligenten Kerl, der, von Geldnöten getrieben, zufällig sein Opfer erblickt und die günstige Gelegenheit genutzt hatte. Es war keinesfalls sicher, dass er den Mord von Anfang an geplant hatte, doch konnte die Angst, wiedererkannt zu werden, alle Hemmungen verdrängt haben.

      Vielleicht.

      Während der letzten, flachen Abfahrt ging William in die Knie und spürte zufrieden, wie er beschleunigte. Langlauf hatte ihm immer viel Spaß gemacht.

      Was war mit der Mordwaffe, dem Messer – falls es sich um ein Messer handelte?

      Das konnte der Täter aus der Halterung an der Wand genommen haben, die sich neben dem Kühlschrank befand. (Ivar hatte sich durch das Küchenfenster einen raschen Einblick verschafft.) Konnte das Blut unter der Spüle abgewaschen, das Messer abgetrocknet und wieder an seinen Platz gehängt haben. Vibeke Ordal war eine passionierte Köchin gewesen, deren Messerset (erneut Ivar zufolge) ebenso umfangreich wie scharf geschliffen war.

      Dachte William, bevor er kopfüber in den Schnee stürzte. Er hatte die Tour mit einem eleganten Telemarkschwung beenden wollen, bevor er den Schneewall entlang dem Storsvingen erreichte. Begriff, dass er einen Moment lang unkonzentriert gewesen war, weil ihn der Mord in Lade weitaus stärker beschäftigte, als er Oddvar und seiner Freundin gegenüber hatte zugeben wollen.

      Unwillkürlich musste er wieder an seinen nächtlichen Traum denken. Bevor er sich ins Bett gelegt hatte, fürchtete er, im Traum ängstlichen Kindergesichtern zu begegnen, doch das geschah nicht. Stattdessen träumte er von einer Menge Blut, das zunächst aus der verwundeten Schläfe einer Frau lief und anschließend eine riesige braunrote Lache auf einem Küchenfußboden bildete, auf den er nie seinen Fuß gesetzt hatte.

      Er verspürte ein unangenehmes Zittern, während er die Skier auf dem Autodach befestigte.

      Bis vor kurzem

      hatten beide ein eigenes Büro im Pressehaus in Heimdal gehabt. Doch aus praktischen Gründen – es verging selten eine längere Zeit, ohne dass einer von ihnen das Bedürfnis hatte, mit dem anderen zu reden – bekamen sie die Erlaubnis, die Trennwand einzureißen. Obwohl beide dadurch ein paar Regalmeter einbüßten, machte ihr neues Büro einen ziemlich geräumigen und luftigen Eindruck. Außerdem hatten sie es nun nicht mehr nötig, ständig aufzustehen, hinüberzulaufen und sich immerfort im Türrahmen des anderen aufzuhalten. Kurz gesagt, so ihre Argumentation, führe die Neuregelung zu großer Zeitersparnis, woraufhin der Chefredakteur seine Genehmigung erteilt hatte.

      Nun konnten beide ihre Kommunikation an dem Ort aufrechterhalten, der ihnen am besten gefiel, in ihren vertauten Bürostühlen, mit Blick auf die aktuellen Unterlagen. Natürlich sprachen sie nicht bei jeder Gelegenheit miteinander, wie manche hätten befürchten können. Vor allem taten sie es, wenn sie sich in aktuellen Fällen auf dem Laufenden halten wollten, was allerdings ziemlich häufig vorkam. Im Großen und Ganzen teilten sie sich die Aufgaben brüderlich, bildeten jedoch gleichzeitig ein Team, das, wenn es darauf ankam, fest zusammenhielt.

      Ein einzigartiges symbiotisches Phänomen, wie böse Zungen behaupteten. Im Pressehaus waren sie früher mit einer Mischung aus Neid und Arroganz als Starsky und Hutch bezeichnet worden. Es gab sogar Nachrichtenredakteure, die es als minderwertig betrachteten, sich mit alltäglicher Kriminalität beschäftigen zu müssen, und es kam nur selten vor, dass Berufsanfänger sich um einen Platz in der kleinen Krimiredaktion bemühten. Wie auch immer, am Tag, an dem die Trennwand fiel, wurden die beiden Laurel und Hardy getauft, eine Bezeichnung, die zum Glück für ihre Erfinder weder William noch Ivar etwas ausmachte. »Wie kindisch ihr seid«, war Ivars lapidarer Kommentar. Falls die beiden noch andere Ziele verfolgten als das ehrenwerte, möglichst gute Arbeit zu leisten, so sprachen sie jedenfalls nicht davon. Das Wichtigste für sie war ihre enge Kooperation, ihre gemeinsame Wellenlinie sowie ihr Gespür dafür, welche Themen in welcher Form publiziert werden sollten.

      Von Natur aus hatten die beiden wenig Gemeinsamkeiten. Ivar zum Beispiel hatte eine sehr forsche Art – normalerweise ein Vorteil für einen Journalisten –, während William introvertiert veranlagt war. Ivar platzte auf Pressekonferenzen der Polizei manchmal mit der ersten Frage heraus, noch ehe das Startsignal für die Journalisten gegeben worden war. William pflegte zu warten, bis er an der Reihe war. Auch fragte er sehr präzise, während Ivar meist mehrere Antworten gleichzeitig einforderte. Ivar liebte es zu diskutieren, während William sich in der Rolle des Zuhörers am besten gefiel.

      Sie waren ungefähr gleich alt, sahen jedoch grundverschieden aus. Ivar Damgård war mit seinen strohblonden Haaren, den leuchtenden Augen und seinem getrimmten Vollbart eine markante Erscheinung. Manche meinten, er sehe aus wie ein richtiger Macho, obwohl ihm niemand übertriebene Eitelkeit vorwerfen konnte. Er hasste jede Art der Körperbetätigung. William Schrøder war sehr viel besser in Form, aber einen halben Kopf kleiner und kam mit seinen spärlichen, aschblonden Haaren wohl kaum als Model für ein Frisurenmagazin infrage. Im Gegensatz zu seinem Kollegen, dessen wohlgenährter Bauch seit Jahren nicht zu verhehlen war, hatte er eine durch und durch schlanke, beinahe magere Figur. Er trug eine Brille, war stets sorgfältig gekleidet und machte einen ausgeprägt intellektuellen Eindruck, während Ivar sich sportlicher kleidete, immer noch ohne Brille auskam und derjenige von ihnen war, der öfter ins Kino ging und ein Buch nach dem anderen verschlang. Fußball im Fernsehen hingegen konnte er nicht ausstehen, während William nur selten


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