Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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Gewalt, zu befinden.

      Als William wenige Minuten später neben den beiden Beamten die Treppen des Wohnblocks hinunterging, erlaubte er sich ein hymnisches Lob über ihre Arbeit.

      »Das Jugendamt sollte euch zu Ehrenmitgliedern machen.«

      »Wir sind das Jugendamt«, stellte Maria fest. Ernst fügte sie hinzu: »Manchmal würde ich solche Kinder am liebsten in Wolldecken einwickeln, mitnehmen und nach Strich und Faden verwöhnen.«

      Sie hatten gerade im Auto Platz genommen, als ihnen eine Messerstecherei in einem Nachtclub in der Fjordgata gemeldet wurde. Während sie sich auf dem Weg befanden, schaute William auf die Armbanduhr und bat darum, in Nardo abgesetzt zu werden.

      »Schon genug?«, fragte Rikard lächelnd.

      William wollte das nicht zugeben und schob vor, es sei bereits spät geworden. Am Ende des Thors veg stieg er aus dem Wagen, winkte ihnen noch einmal zu und dachte, dass ihm die letzten Stunden wirklich gereicht hatten. Er selbst hatte nichts tun können und hasste die Rolle als unbeteiligter Zuschauer. Während er durch die frische Nachtluft spazierte, sah er immer noch die Gesichter der Kinder vor sich. Wenn sie als Erwachsene später Konflikte erlebten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch sie versuchten, diese mit Gewalt zu lösen.

      Auf dem Keramikschild neben ihrer Wohnungstür des Etagenhauses stand: Hier wohnen Solveig, William, Anders und Heidi Schrøder.

      Eigentlich war das Schild überholt, doch hatte er keine Lust, es gegen ein anderes auszutauschen. Anders war erwachsen und wohnte nicht mehr bei ihnen. Der Zwanzigjährige hatte gerade ein Medizinstudium in Bergen begonnen. Und Heidi sollte im Frühjahr konfirmiert werden, die kleine Heidi, die sie bei der Geburt fast verloren hätten und die nur dank der neuen Brutkastenbehandlung im Kreiskrankenhaus überlebt hatte. Heidi hatte jubiliert, als ihr Bruder ausgezogen war, weil sie seitdem viel mehr Platz hatte. Wie hatten sie es in all den Jahren nur zu viert in der Wohnung ausgehalten? Sie hatten die Wohnung kurz vor der Hochzeit gekauft, und Nardo war ein ruhiges und günstig gelegenes Viertel. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Streifenwagen in ihrer Gegend gesehen hatte. Außerdem hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn. Dennoch verriet die Statistik, dass es selbst in dieser etablierten, bürgerlichen Gegend hinter verschlossenen Türen manchmal zu Gewalttaten kam. Die Dunkelziffer war ungewiss, doch gab es auch hier Drogenmissbrauch, Alkoholismus und psychisch bedingte Konflikte, denen selbst das aufmerksamste Sozialwesen nicht Herr werden konnte.

      Doch im Großen und Ganzen empfand er Trondheim als eine Stadt, in der es sich gut leben und arbeiten ließ. Sie verfügte über eine international renommierte Fußballmannschaft, deren Spiele er mit großem Interesse verfolgte, und die Kriminalitätsrate bewegte sich in einem Bereich, der weder Ivar und ihn noch die Polizei vor unlösbare Probleme stellte. Außerdem musste man der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und durfte sich von deren Schattenseite nicht lähmen lassen. Als würde es irgendjemand helfen, wenn die Auslandskorrespondenten ihrer Zeitung kein Auge mehr zubekamen, weil sie unentwegt über das Böse in der Welt nachgrübelten!

      Als er leise die Tür aufschloss, kam ihm ein Lied von Margrethe Munthe in den Sinn. Er legte seine Kappe auf die Garderobenablage, zog Jacke und Schuhe aus und schlich ins Wohnzimmer.

      Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Solveig saß im Fernsehsessel. Das tat sie gern, wenn er Spätdienst hatte, sofern sie sich nicht in ein Buch vertiefte. Da ihre braunen Augen sich völlig auf den Bildschirm konzentrierten, nahm sie keine Notiz von ihm. Er blieb stehen und betrachtete sie einen Augenblick. Solveig war nie im klassischen Sinne schön, doch immer unglaublich süß gewesen. Vielleicht lag es an ihrem unbefangenen, munteren Wesen, dass sie so leicht mit anderen Leuten in Kontakt kam. Auch kam ihr dies im Umgang mit ihren schwierigen Schülern, denen sie zu helfen versuchte, zugute. In diesem Moment fiel das Licht der Leselampe schräg auf ihr dunkles Haar und ließ es wie sonnenbeschienene Lava erglühen.

      Sie war vierundvierzig, drei Jahre jünger als er, sah jedoch nicht älter aus als dreißig. Zumindest in Williams Augen.

      »Spannend?«

      Sie zuckte zusammen, lächelte und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus. »Typisch amerikanischer Streifen.«

      »Warum liest du nicht lieber?«

      »Musst du gerade fragen, als Fernsehjunkie des Hauses.«

      »Meinetwegen brauchst du nicht auszuschalten. Es ist erst halb eins, und morgen ist Sonntag.«

      »Lass uns lieber noch ein Glas zusammen trinken. Wie wär’s mit einem Drambuie?«

      »Gerne. Ich hol die Gläser.«

      Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Solveig zündete sich eine Zigarette an. William, der ständig versuchte mit dem Rauchen aufzuhören, ließ sich vom Duft verführen und bediente sich ebenfalls. Als sie miteinander anstießen, sagte er nachdenklich: »Das Ehepaar, dem wir vor zwanzig Minuten einen Besuch abgestattet haben, saß genauso da wie wir. Der Mann hatte einen über den Durst getrunken.«

      »Mit schlimmen Folgen?«

      »Alles relativ. Beim nächsten Einsatz wäre es um eine Messerstecherei gegangen. Aber ich wollte nicht schon wieder an das erinnert werden, was letzte Woche in Lade passiert ist. Stattdessen habe ich mich nach Ruhe und Harmonie gesehnt.«

      »Dacht ich mir’s doch.«

      »Ich weiß, worauf du anspielst. Aber was zum Teufel können Ivar und ich denn schon ausrichten?«

      »Das müsst ihr schon selber wissen. Jedenfalls finde ich, dass eure kommentarlosen Berichte die Realität banalisieren und verschleiern. Den Sinn eines solchen Journalismus verstehe ich einfach nicht.«

      »Bei den Lesern kommt das sehr gut an. Die Leute werden auf dem Laufenden gehalten, was in ihrer Gegend passiert, ohne dass wir reißerische Artikel draus machen müssen. Glaub mir, die Leute haben Fantasie genug, um sich den Rest auszumalen.«

      »Trotzdem solltet ihr mal über eine andere Form nachdenken. So wie die Rubrik im Moment aussieht, hat sie überhaupt keinen Sinn ... sag mal, hast du eben gesagt, es wäre halb eins?«

      »Fünf nach halb.« William verstand mit einem Mal, warum sie nachfragte. Er hatte schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass sie etwas beunruhigte, obwohl sie ganz von dem zweitklassigen Film gefesselt zu sein schien.

      »Heidi hat fest versprochen, spätestens um zwölf zu Hause zu sein. Darum hatte ich auch begonnen, den Film zu gucken. Ich schaffe es einfach nicht, mich auf ein Buch zu konzentrieren, wenn sie unterwegs ist.«

      »Ist sie nicht auf einem Fest mit einer Reihe anderer Konfirmanden?«

      »Doch, einige wollten sich bei Jensens treffen, aber ohne den Pfarrer.« Sie stand auf und ging zum Fenster.

      »Jetzt machst du dir wirklich unnötig Sorgen.«

      »Ich kann doch nichts dafür!« Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe und versuchte auf die Straße zu schauen.

      »Früher hast du dir eben Sorgen um Anders gemacht. Und im Großen und Ganzen ist doch immer alles gut gegangen, auch wenn er manchmal zu spät kam. Keine Schlägereien, kein Haschisch ...«

      »Ja, stimmt schon. Aber Heidi ist doch erst vierzehn ... und ein Mädchen.«

      »Jetzt entspann dich und setz dich wieder hin, Solveig. Wenn wir ihr nicht vertrauen, dann kann sie uns auch nicht trauen.«

      »Ihr vertrauen? Sie hatte versprochen, vor über einer halben Stunde zu Hause zu sein!«

      William spürte, wie er sich wieder einmal von ihrer Besorgnis anstecken ließ. Er hasste dieses beklemmende Gefühl in der Magengrube, die Unsicherheit, die sich in ihm ausbreitete. Gleichzeitig fühlte er sich verpflichtet, sie zu beruhigen, so zu tun, als gäbe es nicht den geringsten Anlass zur Nervosität.

      »Dabei hatten wir’s doch gerade so gemütlich. Aber okay, wenn sie bis eins nicht da sein sollte, verständigen wir die Polizei.« Er zwang sich zu einem lauten Lachen.

      »Lass


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