Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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man einfach nicht sein. Er war der größte Hanswurst der gesamten Schule. Die Mädchen aus der Parallelklasse wussten dies und zogen ihn auf. Sogar die Lehrer tuschelten über ihn. Er hörte es und sah es ihnen an.

      Aber es war doch schließlich nicht seine Schuld, dass er so geboren war!

      Die Demütigung trieb ihm Tränen in die Augen. Er drehte sich um und schlich in die Umkleidekabine. Doch in der Hitze des Gefechts bemerkten die anderen nicht einmal das. Er war einfach Luft für sie, ein vollkommen überflüssiges Wesen, dessen Existenz kaum zu rechtfertigen war. Das Allerschlimmste jedoch war die Verachtung der Mädchen.

      Erst später begriff er, worum es eigentlich ging, welche Kniffe er anwenden musste, um sich zu behaupten, obwohl sich der Erfolg anfangs in Grenzen hielt. Entscheidende Stichwörter waren Selbstdisziplin, Abgeklärtheit, Geduld. Einige Tricks hatte er sogar in der Schule, im Biologieunterricht gelernt. Gewisse Auswahlkriterien spielten in der Natur eine entscheidende Rolle. Natürliche Selektion. Alles war eine Frage der Anpassung, der optimalen Ausnutzung angeborener Vorteile, wie Darwin erklärt hatte.

      Denn niemand konnte in Abrede stellen, dass er gut aussah und zudem einen Verstand besaß, der den meisten anderen überlegen war. Mit der Zeit überspielte er die körperlichen Defizite, begann heimlich die blitzschnellen Bewegungen eines Kampfsports zu trainieren. Er schloss sich einer Laienspielgruppe an und belegte einen Kurs in Imitation und Parodie. Doch vor allem nutzte er seine hohe Intelligenz, las Romane, ging ins Kino und vergegenwärtigte sich, wie wichtig es war, seinen angeborenen Charme richtig einzusetzen. Schlagfertigkeit und Einfallsreichtum kamen immer gut an. Selbst aus der eigenen Ungeschicklichkeit beim Ballsport ließ sich Kapital schlagen, wenn man sowohl sich selbst als auch das Spiel nicht so ernst nahm. Bei den Mädchen hatte diese Taktik durchschlagenden Erfolg, und mit der Zeit wurde es das reinste Spiel für ihn, sie ins Bett zu kriegen. Als er sich nach Beendigung der Schule anderen Kreisen anschloss, gab es niemand mehr, der ihn Stoffel nannte.

      Sein Ziel war die absolute Perfektion, der er sich immer mehr annäherte. Bei der Arbeit betrachtete er dies ohnehin als Selbstverständlichkeit. Im zwischenmenschlichen Bereich hingegen erforderte es ein besonderes Maß an Konzentration. Wollte man im Leben Erfolg haben, mussten die Basisfertigkeiten nicht nur gepflegt, sondern kontinuierlich weiterentwickelt werden, und erste Voraussetzung für ein Gelingen war die Entwicklung des ästhetischen Gespürs. Der Sinn für das Schöne, Harmonische und Vollkommene musste bewusst gefördert werden, ebenso das Interesse für bildende Kunst, Literatur und Musik. Wollte man beliebt sein – eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufstieg an die Spitze –, durfte man sein Äußeres nicht vernachlässigen. Ein attraktives, makelloses Aussehen, einhergehend mit untadeligem Benehmen, war von entscheidender Bedeutung. Ein perfekt sitzender Anzug zu jeder Zeit ein Muss. Es verlangte viel Selbstdisziplin, im Privat- und Berufsleben stets auf natürliche Weise im Mittelpunkt zu stehen. Details wie Krawatte, blank geputzte Schuhe und penible Körperhygiene waren Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck komplettierten und eine Lebensart verrieten, die Bewunderern beiderlei Geschlechts als vorbildlich erscheinen musste. Seine gelassene Unangreifbarkeit trug zweifellos zu seinem Erfolg bei. Die Entfernung feiner Härchen in den Ohren sowie die Pflege der Nagelbetten waren letzte Finessen. Eitelkeit? Pedanterie? Nein. Vollkommenheit.

      Dann die kleinen Aufmerksamkeiten, vor allem zu Beginn. Für nichts waren Frauen empfänglicher, als für wohl überlegte, scheinbar spontane Komplimente, das erfuhr er tagtäglich. Er war es gewohnt zu gewinnen, und zwar am laufenden Band. Die Kunst bestand darin, seine Vorteile richtig einzusetzen und sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. Was er viele Jahre hindurch getan hatte. The survival of the fittest.

      Und jetzt das!

      Die unangenehme Erinnerung an die Geschehnisse vor elf Monaten, an seine einzige schmerzliche Niederlage als Erwachsener, die er so chevaleresk hingenommen hatte, obwohl seine Wangen vor Hass und Scham brannten. Er war sich seines Sieges so sicher gewesen, dass er Beate beinahe den Laufpass gegeben hätte. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Die neue Frau zu erobern, hatte sich als ebenso unmöglich erwiesen, wie einst ein As beim Sportunterricht zu sein. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass auch kein anderer ihr das Wasser reichen konnte, und schließlich gab er es auf. Er hatte sie fast aus seinem Bewusstsein verdrängt. Bis zu diesem Moment.

      Das neue Jahrtausend, die verheißungsvolle Zukunft, die gerade erst begonnen hatte, war im Augenblick des Wiedersehens zunichte geworden. Das schönste und unnahbarste Geschöpf auf Erden hatte die Frechheit besessen, in den besitzergreifenden Armen eines fremden Mannes an seinem Haus vorüberzugehen!

      Aus seinem Gesicht wich alle Farbe, weil er die Zähne so hart zusammenbiss, dass sein Kiefer schmerzte. Natürlich wollte er ihr eine faire Chance geben, sie um eine Erklärung bitten, sie anrufen, damit sie ihm sagen konnte, dass alles nur ein Missverständnis sei und sie es eigentlich verabscheue, von solch einem Kerl belästigt zu werden. Er würde ihr großherzig verzeihen, sich vielleicht sogar selbst ins Spiel bringen, ihr signalisieren, dass er immer noch bereit war, Beate wegen ihr zu verlassen. Oder sollte er mit beiden gleichzeitig ein Verhältnis haben?

      Doch andernfalls, wenn sich wider Erwarten zeigen sollte, dass sie sich – zum ersten Mal – einen Liebhaber genommen hatte, dann gab es nur eins: Rache! Welcher Art diese sein sollte, war ihm noch nicht klar, doch zweifelte er nicht einen Augenblick, dass es einem Mann mit seinen geistigen Fähigkeiten gelingen sollte, einen perfekten Plan zu ersinnen. Alles andere wäre eine schmähliche Niederlage, die er nicht würde ertragen können.

      Wenn Beate nur nicht merkte, wie viel Kraft ihn das kostete!

      Als Vibeke Ordal entdeckte,

      dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Lotto gewonnen hatte, stieß sie keinen Triumphschrei aus, sondern schlug relativ beherrscht mit der Faust auf den Tisch. Aber ihr Herzschlag beschleunigte sich vor Freude. So geschehen am Donnerstag, dem 13. Januar 2000, während der Mittagspause. Sie glaubte zwar nicht an Horoskope, erinnerte sich aber, dass sie erst kürzlich in einer Zeitung unter der Rubrik Waage gelesen hatte: Es ist nicht auszuschließen, dass Ihnen in dieser Woche ein materieller Gewinn ins Haus steht. Man konnte aus geringerem Anlass abergläubisch werden.

      Sie hatte ihre Kaffeetasse stehen lassen und saß nahezu allein in der Kantine des Autohauses, während sie wie üblich ihren fünf Wochen gültigen Lottoschein mit dem Ergebnis der Ziehung verglich, das in der Zeitung abgedruckt war. In einer der Spalten hatte sie fünf Richtige und eine Zusatzzahl. Ihre Prämie belief sich auf sage und schreibe 153270 Kronen. Sie kontrollierte die Zahlen zwei weitere Male, bevor sie sich sicher fühlte, und wählte, nachdem sie in ihr kleines Büro zurückgekehrt war, die Handynummer ihres einzigen Sohnes, der die Universität besuchte. Er war sofort am Apparat.

      »Gorm Ordal.«

      »Hier ist Mama. Hast du heute Abend schon was vor?«

      »Monica und ich wollten in Kino gehen. Ist was Besonderes?«

      »Ich habe eine große Überraschung für dich.«

      »Hast du dir etwa einen neuen Kerl geangelt?«

      »Nein ... äh ... ich sagte doch ... für dich

      Einen neuen Kerl? Vibeke musste lächeln. Es fehlte ihr nicht an männlichen Bekanntschaften, doch bevor sie wieder mit einem Mann zusammenzog, wollte sie sichergehen, dass die Beziehung auch hielt, und zwar ein Leben lang. Zurzeit hatte sie ein Auge auf einen der Autoverkäufer geworfen, doch zweifelte sie, dass er der Richtige war. Der charmante Knut Petter wusste, wie man mit Frauen umging, doch gleichzeitig befürchtete sie, dass er auch im Privatleben zu sehr Händler war und eine Freundin kurzerhand abservierte, wenn er ein jüngeres Modell haben konnte.

      »Na, sag schon!«

      »Nicht vor heute Abend. Nimm Monica mit. Ich mach uns was Schönes zu essen.«

      »Klingt gut! Um neun sind wir da.«

      Vibeke beschloss, ihren Kollegen erst einmal nichts von ihrem Spielglück zu verraten, obwohl es einer der Mechaniker aus der Karosserieabteilung gewesen war, der sie zum Lottospielen animierte, nachdem er selbst im Herbst einen bescheidenen Gewinn eingestrichen


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