Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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warf. Nahm sich einmal mehr vor, einen Aufkleber an ihrem Briefkasten anzubringen, der das Einwerfen von Reklame untersagte. Dann kehrte sie ins Haus zurück, schloss die Tür hinter sich, ging in die Küche – und sah sich plötzlich einem Mann gegenüber, der sich ins Haus geschlichen haben musste, während sie den Briefkasten geleert hatte.

      In diesem Augenblick begriff Vibeke, dass es derselbe Mann war, der ihr auf dem Heimweg gefolgt war. Vielleicht war er ums Haus geschlichen, hatte sie heimlich durchs Fenster beobachtet.

      Doch blieb ihr kaum Zeit, Angst zu empfinden, schon gar nicht, sich Aussehen und Kleidung des Mannes einzuprägen. Nur einen schwachen Tabakgeruch nahm sie wahr, während er sie packte, herumdrehte und von hinten festhielt. Etwas Blankes und erschreckend Scharfes blitzte vor ihren Augen auf. Sie bekam den linken Arm frei und schlug mit ihm verzweifelt über die Schulter. Doch plötzlich spürte sie zwischen Kinn und Ohr einen schmerzhaften Schnitt in der Haut. Es war nicht der Schmerz, sondern der Schnitt an sich, der es ihr unmöglich machte zu schreien. Das Letzte, was sie hörte, war die Stimme Frank Sinatras, die aus den Lautsprechern des Wohnzimmers drang: »I’ve got you under my skin, I’ve got you deep in the heart of me ...«

      Die Stimme verklang rasch und wich vollkommener Stille – und Finsternis.

      Es schneite noch eine halbe Stunde, bevor eine steife Brise aus südwestlicher Richtung auffrischte. Um fünf vor neun standen ein neugieriger und erwartungsfroher Gorm Ordal sowie seine Freundin Monica Holm vor dem Bungalow am Victoria Bachkes vei. Sie hatten den Bus aus der Stadt genommen, nachdem sie Eyes Wide Shut im Kino gesehen hatten.

      Sie klingelten, doch niemand öffnete.

      »Du musst das falsch verstanden haben. Vielleicht meinte sie morgen«, sagte Monica.

      »Unmöglich. Hier sind verwehte Fußspuren, und das Auto ist auch da.«

      Er hatte einen Reserveschlüssel in der Tasche und zögerte nicht, ihn ins Schloss zu stecken und die Tür zu öffnen.

      »Mama?«

      Als niemand antwortete, hängten sie zunächst ihre Jacken an die Garderobe. Monica ging in das erleuchtete Wohnzimmer, während Gorm sich für die Küche entschied. Er sah sofort, dass die Mutter in einer Lache getrockneten Bluts auf dem Boden lag. Der Anblick kam ihm unwirklich vor, glich er doch zum Verwechseln einer Szene, die sie gerade im Kino gesehen hatten. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch nichts hatte sich verändert. Als Monica eine halbe Minute später im Türrahmen erschien, stand er reglos da, ebenso unbeweglich wie die Tote auf dem Fußboden.

      Weil sich Hauptkommissar Storm im Urlaub befand, war Arne Kolbjørnsen vom Morddezernat der Erste, der die schreckliche Nachricht erhielt. Die Zentrale des Trondheimer Polizeidistrikts hatte um 21 Uhr 04 den telefonischen Bescheid entgegengenommen. Der Wachhabende hatte Gorm Ordals Aussage sorgfältig notiert, ehe ein Streifenwagen nach Lade beordert worden war. Dieser war bereits eingetroffen, als Kommissar Kolbjørnsen mit seinem jungen Kollegen Håkon Balke am Tatort erschien. Sie benötigten nur wenige Augenblicke, um festzustellen, dass der Polizeioberrat, ein Arzt, ein Fotograf sowie die Leute von der Spurensicherung hinzugezogen werden mussten. Balke erledigte dies umgehend und wies die Streifenbeamten an, den Garten abzusperren, falls neugierige Passanten auftauchen sollten, was unweigerlich geschehen würde, wenn erst einmal eine Reihe von Dienstfahrzeugen vor dem Haus parkte. Kolbjørnsen versuchte das wie paralysiert wirkende junge Paar nach den Geschehnissen zu befragen, obwohl er es zunächst als seine wichtigste Aufgabe ansah, ihnen zu helfen und sie aus der Trance zu befreien, in der sie sich offenbar befanden.

      Mit misstrauischem, finsterem Blick, einen Arm um die nicht minder zitternde Monica gelegt, saß Gorm Ordal auf dem Sofa und versuchte stotternd zu erklären, warum sie hier waren – wie sie vor rund acht Stunden ein kurzes Telefongespräch mit der Mutter geführt, selbst die Haustür aufgeschlossen und sie schließlich ermordet vorgefunden hatten.

      »Was für eine Überraschung könnte sie gemeint haben?«

      »Das ... das weiß ich nicht.«

      Kolbjørnsen nickte. Worin diese bestand, hatte ihnen die Mutter natürlich erst während ihres Besuchs erzählen wollen.

      »Aber ihre Stimme hat sich so angehört, als ... als wolle sie mir etwas schenken.«

      Der Kommissar hatte ein beklemmendes Gefühl. Ihm war das, was in der Küche geschehen war, nahezu unbegreiflich. Verbrechen von solcher Brutalität waren in Trondheim nicht an der Tagesordnung. Alle Fenster waren geschlossen, keine Scheiben zertrümmert. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes, nur den einen Schnitt am Hals, der ausgereicht hatte, um das Blut sogleich aus der Halsschlagader strömen zu lassen. Eine zielgerichtete, effektive Handlung, die ein menschliches Ungeheuer vermuten ließ, dem normale Gefühle fremd waren. Vielleicht handelte es sich nicht einmal um einen Einbrecher, sondern um eine Person, die Vibeke Ordal gekannt und selbst hereingelassen hatte.

      »Vielleicht war Eifersucht im Spiel«, warf Polizeioberrat Martin Kubben ein, der kurz darauf auftauchte. Er sagte dies nicht grundlos. Eifersucht war eine der häufigsten Ursachen, die Menschen die Kontrolle über sich verlieren ließen.

      »Soweit ich weiß, hatte meine Mutter keinen Freund.«

      »Was ist mit Ihrem Vater?«

      »Sie wurden vor acht Jahren geschieden. Er lebt in Oslo.« Gorm war nervös und sprach abgehackt, als sei das Verhör ein mündliches Examen, auf das er sich allzu schlecht vorbereitet hatte.

      »Sein Name?«

      »Harald Tranøy. Meine Mutter ... und ich ... haben nach der Scheidung ihren Mädchennamen angenommen.«

      »Er hat Ihre Mutter nie bedroht?«

      »Nicht dass ich wüsste. Warum sollte er?«

      In diesem Moment brach der junge Mann zusammen, worauf sie das Paar eine Weile in Ruhe ließen. Die meisten Morde geschahen im Affekt. Durchdachte Vorbereitungen oder das Legen falscher Fährten, um die Polizei in die Irre zu führen, waren selten. Kubben, der Jurist und für eine eventuelle Anklageerhebung verantwortlich war, hatte mit einer klaren Beweislage gerechnet, die Täter und Motiv rasch ans Licht bringen würde. Ein Mord in den eigenen vier Wänden brachte in der Regel eine Familientragödie zum Vorschein. Doch darauf deutete in diesem Fall nichts hin. Abgesehen vom Blut auf dem Küchenboden gab es keine Indizien, weder innerhalb noch außerhalb des Bungalows, keine Tatwaffe und kein erkennbares Motiv, die auf einen bestimmten Täter hinwiesen. Mögliche Fußspuren hatte der verdammte Neuschnee überdeckt. Auch bestand zunächst kein Grund, den Sohn und seine Freundin, deren Unschuld sich bestimmt bald erweisen würde, zu verdächtigen. Das einzig Gewisse war die Stellungnahme des Arztes, dem zufolge der Mord an der sechsundvierzigjährigen Vibeke Ordal vor mindestens zwei bis drei Stunden geschehen sein musste und der Tod durch Blutverlust infolge der Durchtrennung der rechten arteria carotis eingetreten war, ausgeführt mit einem außerordentlich scharfen Gegenstand.

      Bevor und nachdem die Leiche zur gerichtsmedizinischen Obduktion ins Kreiskrankenhaus gebracht worden war, hatte die Spurensicherung die Küche buchstäblich auf den Kopf gestellt. Wie Kubben wusste auch Kolbjørnsen, wie wichtig es war, formale Fehler zu vermeiden. Vor allem in den letzten Jahren waren Ermittlungsergebnisse immer wieder von tüchtigen Strafverteidigern torpediert worden, die sich offenbar viel von ihren amerikanischen Kollegen abgeschaut hatten. Selbst die klarste Beweisführung war manchmal für die Katz, weil die Polizei allzu oft ihre eigenen Vorschriften missachtete, zum Beispiel, wenn der Eifer, den Hauptverdächtigen möglichst schnell zu überführen, das Gebot der Neutralität überlagerte, oder wenn es zu Formfehlern bei der Erstellung der Indizienkette kam. Dann konnten sie gezwungen sein, die Anklage fallen zu lassen oder gar die Ermittlungen einzustellen.

      Im Laufe des Abends wurden die letzten Handlungen Vibeke Ordals rekonstruiert und folgende Erkenntnisse gewonnen:

      Sie hatte ihren Arbeitsplatz zur üblichen Zeit, also um Punkt 16 Uhr verlassen. Ein Kassenzettel in ihrem Portemonnaie belegte, dass sie auf dem Heimweg noch im Einkaufszentrum von Lade gewesen war und die Lebensmittel eingekauft hatte, die sich jetzt in ihrem Kühlschrank befanden. Der Kassenzettel war von 16 Uhr 21. Die Quittung der


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