Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
zusammenkniff. Ihre Mienen ließen keinerlei Neugier erkennen, nur Trotz, Furcht und Resignation. Die Situation schien ihnen nicht neu zu sein.
Mama Danielsen saß im Bademantel auf dem Sofa und rauchte eine Zigarette. Die Polizeibeamtin legte ihr einen Kopfverband an, weil das Blut immer noch aus der Schläfenwunde sickerte. Papa Danielsen stand mit dem Rücken zum Fenster und war offenbar betrunken. Dumpf starrte er den Fernseher an, dessen Ton abgestellt war. Nur der Videorekorder surrte und spielte das für die aktuelle Totorunde entscheidende Fußballmatch ab, das William bereits gesehen hatte. Das Spiel war momentan unterbrochen worden. Ein Spieler lag verletzt auf dem Rasen, während der Schiedsrichter die Sanitäter mit der Bahre heranwinkte. William flüsterte: »Sollten wir nicht auch einen Krankenwagen rufen?«
Der Polizist namens Rikard schüttelte den Kopf. »Das muss Maria entscheiden. Die Frage ist, ob wir die Frau in Sicherheit bringen sollten.«
»Zusammen mit den Kindern?«
»Die schlägt er nie. Nur seine Frau.«
William atmete tief durch und war sich keinesfalls sicher, dass die Kinder nichts zu befürchten hatten. Auch wenn dem Mann die Reue ins Gesicht geschrieben stand und er sich alle Mühe gab, einen halbwegs nüchternen Eindruck zu machen, lag etwas in den dunklen Augen, das William erschreckte. Solche Schläger, dachte er, sollten von ihren Familien vollkommen ferngehalten werden.
Diese Episode aus Risvollan, die vierte des Samstagabends, würde in wenigen Zeilen des Polizeijournals, das jeden Montag im Trondheimer Anzeiger erschien, Erwähnung finden. Die Redaktion dieser Rubrik teilte er sich mit Ivar Damgård. Normalerweise handelte es sich um eine fast wortgetreue Abschrift des Polizeiberichts. Um einen genaueren Einblick zu gewinnen, was sich hinter der Bezeichnung Familiäre Gewalt verbarg, hatte er darum gebeten, die Streifenbeamten einmal auf ihrem Einsatz begleiten zu dürfen. Solveig hatte die Vermutung geäußert, dass hinter dieser Bezeichnung viele Familientragödien zum Vorschein kamen, die für die Gesellschaft womöglich ein größeres Problem darstellten als Drogenkriminalität, ärztlicher Honorarbetrug oder Bankraub. Ihrer Meinung nach lag die Wurzel allen Übels in den Familien selbst. Als Sonderschullehrerin wusste sie, wovon sie sprach. Die Schulen konnten nicht viel ausrichten, solange die Basis versagte. Trugen die Zeitungen dazu bei, die Bedeutung dessen herunterzuspielen, was sich hinter Hausmauern und heruntergezogenen Jalousien abspielte? Wollte die Presse wirklich das Privatleben der Menschen schützen? Oder neigte sie zur Ignorierung häuslicher Gewalt, weil sich die Fälle zu sehr ähnelten und sowohl Journalisten als auch Leserschaft bereits unempfindlich für die Katastrophen waren, die sich hinter den Überschriften verbargen? Nur Morde, Vergewaltigungen und Spionagefälle bekamen fette Schlagzeilen.
Hin und wieder verspürte William Schrøder das Bedürfnis, sich intensiver mit dieser Materie zu befassen, obwohl er nicht richtig wusste, wie er es anfangen sollte. Vielleicht sollte er einmal mit einem Soziologen sprechen. Wie brachte man Vätern – oder seinetwegen auch Müttern – richtiges Verhalten in der Familie bei? Indem man sie moralisch unterstützte? Ihnen einen aufmunternden Brief der Wertekommission zukommen ließ? Durch Kurse für Eltern in spe? Er wusste es nicht.
Obwohl Ivar und er zurzeit täglich auf der Pressetribüne saßen und eine Gerichtsverhandlung weitaus größerer Tragweite verfolgten – dem Angeklagten wurde vorgeworfen, seine Mitbewohnerin vergiftet zu haben –, ahnte er, dass sich die beiden Kindergesichter in sein Gedächtnis einprägen und dass er ihren Anblick so schnell nicht vergessen würde. Vielleicht lag dies auch daran, dass ihm sein eigenes Glück bewusst wurde. Während ihrer gut zwanzigjährigen Ehe waren Solveig und er niemals physisch und nur selten verbal aneinander geraten. Ihre Kinder waren stets von gewalttätigen Szenen verschont geblieben. Mögliche Ursachen für ihr harmonisches Familienleben gab es viele: solide Ausbildung, gute Erziehung, humanistisches Weltbild, friedfertige Veranlagung, ökonomische Sicherheit, aufrichtige gegenseitige Liebe, anerzogene Hemmung gegenüber Gewalt oder ganz einfach eine gute Portion Glück. Denn Gewalt in der Familie fand sich in allen gesellschaftlichen Schichten.
Doch nur selten führte diese zu strafrechtlicher Verfolgung. Immer wieder unterließen es die Opfer, solche Vorfälle anzuzeigen, weil die Täter ein ums andere Mal weinend auf die Knie fielen, Besserung gelobten und um Vergebung baten. Warum also sollte die Polizei einen alltäglichen Vorgang vor ein unwilliges Gericht zerren, das ohnehin mehr als genug zu tun hatte. War es überhaupt sinnvoll, einen Mann zu bestrafen, der seiner Frau unter Alkoholeinfluss regelmäßig Gesichtsverletzungen zufügte, solange sie sich damit abfand und ihm verzieh?
Auch in diesem Fall nutzte es nichts, der Frau nahe zu legen, ihren Mann zu verklagen. Als sie der Polizeibeamtin Maria mit matter Stimme erklärte, sie benötige keinen Arzt und könne sich den »Zwischenfall« – der so lautstark gewesen war, dass ein Nachbar die Polizei verständigt hatte – selbst zuschreiben, entspannte sich ihr Mann sichtlich und stellte den Videorekorder ab.
»Wie hat das angefangen?«, wollte Rikard wissen.
Papa Danielsen zuckte die Schultern.
»Das lag am Totoschein«, sagte die Frau leise.
»Wie das?«
»Ich habe den Schein nicht rechtzeitig abgeliefert.«
Sie blickte verstohlen zum Fenster, während der Mann bedächtig nickte. Als die Polizei erschien und die Scherben einer grünen Vase auf dem Fußboden bemerkte, hatte er seine Frau als »verdammte Schlampe« bezeichnet, sich dann jedoch mehr und mehr beruhigt.
»Ihnen ist also ein Riesengewinn durch die Lappen gegangen?«
Sie antwortete nicht. Papa Danielsen stand der Mund offen. »Äh ... nein.« Er starrte auf den Boden. »Aber das konnte ich ja nicht wissen.«
»Ihre Frau hat sie also vor einer unnötigen Geldausgabe bewahrt.«
»Wir hätten gewinnen können«, sagte er tonlos.
»Sie sollten Ihrer Frau danken.«
»Tja ... vielleicht.«
Zu Williams Erstaunen wankte der Mann zu der Frau, die er soeben misshandelt hatte, setzte sich vorsichtig neben sie und legte seinen Arm schützend um ihre Schultern. Und damit nicht genug: Anstatt ihn wegzuschieben, lehnte sie ihren bandagierten Kopf an seinen und murmelte: »Ist schon gut.«
Der Rest des Alkohols wurde konfisziert, ohne dass der Mann protestierte, während Maria die Geschwister ins Kinderzimmer begleitete. Dort blieb sie eine Viertelstunde und las ihnen eine Gutenachtgeschichte vor, während ein aufrichtig empörter Rikard Papa Danielsen die Leviten las und ihm seine Verantwortung als Erziehungsberechtigter ins Gedächtnis rief. Am Ende der Gardinenpredigt ließen die beiden auf dem Sofa ihren Tränen freien Lauf, während sie sich aneinander klammerten und der Mann Besserung gelobte.
»Wenn sich so etwas noch ein einziges Mal wiederholt«, schloss Rikard, »dann kommen wir und buchten Sie ein, Danielsen!«
»Ja, ja«, schluchzte der Paterfamilias.
»Sie erledigen gewissenhaft Ihre Arbeit, habe ich gehört. Warum gehen Sie nicht genauso verantwortungsbewusst mit Ihrer Frau um?«
Nach langem Schweigen kam eine Antwort – von ihr: »Das tut er doch. Normalerweise. Nur manchmal verliert er eben die Beherrschung, nur ab und zu. Und natürlich hätte ich den Totoschein rechtzeitig abgeben sollen!«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte William. Als er langsam auf den Flur hinausging, hörte er Marias Stimme, der nun jede polizeiliche Autorität fehlte. Sie klang freundlich und warm, als wäre ein Engel herabgeschwebt und hätte sich der Kinder erbarmt:
»Peter Hase ließ sich vorsichtig von der Schubkarre gleiten und lief im Schutz der Johannisbeersträucher so schnell er konnte den Gartenweg entlang. Doch als er um die Ecke bog, entdeckte ihn Gregersen.«
Er kannte diesen Text. Es handelte sich um eine der Erzählungen von Beatrix Potter, die er seinen eigenen Kindern oft vorgelesen hatte, bevor sie für solche Geschichten zu alt geworden und zu einer Literatur übergegangen waren, in denen Menschen anstelle von Tieren sprachen. Durch den Türspalt warf er einen Blick auf die Polizistin, die mit dem