Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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interessiert. Eine Angeltour bei schönem Wetter, warum nicht, aber das hier? Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, bei dieser Dunkelheit ein Rentier zu erwischen.

      Eine Ewigkeit schien vergangen – kaum länger als zehn Minuten, wie er später begriff –, dann hörten sie den kanonenschussähnlichen Knall eines Jagdgewehrs. Er hatte gerade die Stellung gewechselt, und in der sonderbaren Stille, die folgte, konnte selbst er das Rascheln rascher Schritte hören, als ein ganzes Rudel von Tieren plötzlich aufschreckte und verschwand. Jetzt bestand kein Zweifel mehr – sie mussten von allen Seiten von Wild umgeben sein, während Jon einen ganz bestimmten Bock im Auge hatte, und zwar den ältesten, denn seiner Meinung nach war es an der Zeit, dass jüngere Tiere die Führung der Herde übernahmen. Oddvar stand auf und zog William mit sich fort, bis sie die Überbleibsel einer Skihütte erreichten. Gleichzeitig stieß Jørgen zu ihnen.

      »Glaubst du, er hat getroffen?«, fragte William, der froh war, sich endlich wieder bewegen zu können. Das Versteckspiel hatte ein Ende.

      »Klar, sonst hätte er doch nicht abgedrückt«, entgegnete Jørgen grinsend.

      Im Schein des Mondlichts bahnten sie sich ihren Weg, als sie Jon plötzlich fluchen hörten: »Verdammter Mist!«

      Sie liefen zu ihm, während er mit gesenkter Waffe und angeschalteter Taschenlampe das Tier zu suchen schien, auf das er geschossen hatte. Gemeinsam machten sich alle entlang einem Graben auf die Suche. Nach fünf Minuten gaben sie auf.

      »Genau hier stand das Mistvieh!«, sagte Jon verbittert. »Mit erhobenem Kopf und einem schier unglaublichen Geweih. Fucking beautiful!«

      Jetzt nahm auch William den strengen Geruch wahr, den das brunftige Tier abgesondert hatte. Wider alle Wahrscheinlichkeit schien es dem Projektil entgangen zu sein. Oddvar und Jørgen verstanden die Welt nicht mehr. Der Chef hatte daneben geschossen, und das aus nächster Distanz! Das war so ungewöhnlich, dass es ihnen die Sprache verschlug und sogar die Frotzelei ein Ende hatte. Jon suchte gar nicht erst nach Ausreden, sondern drehte sich eine Zigarette, während er mit tonloser Stimme sagte: »Werde wohl langsam zu alt dafür.«

      Zu alt?, dachte William. Vierzig war doch kein Alter für einen Jäger.

      Danach waren sie zum Pick-up getrottet und zur Ortschaft am Fjord zurückgefahren. Jørgen bat sie herein. Seine Frau sowie Anna, Jons schlanke, blonde Begleiterin, hatten bereits Kaffee gekocht und das Essen zubereitet. Wärme und Bewirtung waren die reinste Wohltat, während Anna Jon zu trösten versuchte. Doch William hatte das unangenehme Gefühl, den Fehlschuss womöglich verantwortet zu haben. Vielleicht hatte er Geräusche gemacht, die das Rentier in der Zehntelsekunde, die dem Schuss vorausging, aufgeschreckt hatten. Jons verstohlene Blicke schienen dies anzudeuten, doch machte er niemand einen Vorwurf. Nur eines brachte er mit Entschiedenheit, beinahe hasserfüllt hervor: »Morgen bringe ich das Mistvieh zur Strecke!«

      Seine beiden Kameraden zweifelten nicht daran. Während Jon und Anna zu ihrem an einem Hang gelegenen Haus fuhren, kehrten Oddvar und William in die Stadt zurück.

      »Eigentlich wollte ich ein paar Fotos machen«, sagte William. »Eine kleine Reportage für die Zeitung schreiben, aber viel gibt es ja nicht zu berichten.«

      »Das war auch nicht der Grund, warum ich dich gefragt habe, ob du mitkommen willst.«

      »Ich weiß, du wolltest mir nur seine unnachahmlichen Fähigkeiten demonstrieren.«

      »Und, ist mir das nicht gelungen?«

      »Schon, abgesehen davon, dass er nicht getroffen hat.«

      »Tja, ziemlich peinliche Angelegenheit. Kann mich gar nicht erinnern, wann ihm das zuletzt passiert ist. Aber die Rentierkühe haben wir schließlich beide nicht erkannt, obwohl sie direkt an uns vorbeigelaufen sind! Nur durch solche Eigenschaften konnte er im Dschungel überleben. Du solltest mal ein längeres Gespräch mit ihm führen. Ein Buch über Jon könnte ein Riesenerfolg werden.«

      »Mir wäre es lieber, er hätte getroffen.«

      »Reines Pech«, meine Oddvar. »Oder Lampenfieber.«

      »Wie meinst du denn das?«

      »Ihr solltet euch vielleicht erst mal näher kennen lernen. Dann würdest du zum Beispiel erfahren, dass er das Ausweiden der Tiere nicht mehr mit ansehen kann. Wenn wir eines erlegt haben, erledigen das immer Jørgen und ich. Jon wendet uns dann den Rücken zu oder geht ein Stück weg. Das ist eines seiner Probleme. Unter anderen Bedingungen, vor mehr als fünfzehn Jahren, hat er vermutlich zu viel Blut sehen müssen, das Blut toter und verwundeter Soldaten, das Blut verstümmelter Kin...«

      »Und wenn schon«, schnitt ihm William das Wort ab. Er hatte keine Lust, sich den Horror schildern zu lassen, den Jon angeblich erlebt hatte.

      »Lange hat er geglaubt, die Schrecken vergessen zu haben. Hatte sie vollkommen verdrängt und versucht, ein normales Leben zu führen. Doch in den letzten drei, vier Jahren sind die Gespenster der Vergangenheit wieder aufgetaucht. Anna sagt, dass er manchmal mitten in der Nacht schreiend aufwacht, sich schweißgebadet auf den Boden wirft und englische Satzfetzen ruft, während er ein imaginäres Gewehr in der Hand hält. Posttraumatische Leiden nennt man das wohl. Nachwirkungen des Krieges.«

      »Das hast du mir schon einmal erzählt. Aber ich fürchte, ich bin der Falsche, wenn es darum geht, solche Erlebnisse zu protokollieren.«

      Oddvar überhörte das. »Man muss ihn zum Erzählen ermuntern, seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Sein Psychiater meint, eine Veröffentlichung seiner Erinnerungen würde Jon helfen, sie zu verarbeiten.«

      William nickte, immer noch skeptisch. »Ich bin Journalist, kein Historiker.«

      »Komm morgen wieder mit. Dann ist der Rentierbock fällig, ganz bestimmt.«

      »Tut mir Leid. Morgen feiere ich Geburtstag mit meiner Familie.«

      Das tat er. William, seit kurzem fester Mitarbeiter beim Trondheimer Anzeiger, wurde 33 Jahre alt und verbrachte den nächsten Abend im Kreis seiner Lieben – seiner Frau Solveig, dem fünfjährigen Sohn Anders sowie seinen Eltern und Schwiegereltern – in einer Etagenwohnung in Trondheim. In einem Monat erwartete Solveig ihr zweites Kind.

      Oddvar rief gegen neun an und gratulierte. Nutzte die Gelegenheit, um zu erzählen, dass sich Jon vor gut zwei Stunden, nach nur zwanzig Minuten auf der Pirsch, seine Trophäe gesichert habe. Ein präziser Schuss aus vierzig Metern habe direkt ins Herz getroffen, während er und Jørgen sicher gewesen waren, dass sich keine Tiere in der Nähe befanden. »Wirklich schade, dass du nicht dabei warst, William!«

      Es war Dienstag, der 22. Oktober 1985.

      Die Wut

      hatte sein Gesicht kreideweiß werden lassen. Er war sich darüber im Klaren, doch dies war einer der äußerst seltenen Augenblicke, in denen er die Beherrschung verlor.

      Ob Beate etwas von seiner Erregung gespürt hatte? Wohl kaum. Gott sei Dank ahnte sie nicht, wie vielen Schönheiten er schon den Laufpass gegeben hatte. Ihr gegenüber war es leicht, die Fassung zu bewahren, denn Beate brachte ihn dazu, sich zu entspannen und von seiner besten Seite zu zeigen. Mit keiner Frau hatte er es länger ausgehalten als mit ihr, und so sollte es weitergehen, zumindest solange er keine fand, die ihm noch besser gefiel.

      Seine Kindheit hatte ihn gelehrt, Niederlagen einzustecken und mit der Zeit in seinen eigenen Vorteil umzumünzen. Das war eine harte Lektion gewesen. Im Sportunterricht beispielsweise, wenn die Angeber, die das Sagen hatten, abwechselnd ihre Mitspieler auswählten, konnte er im Voraus sagen, wer als Letzter übrig bleiben würde – der ausgemachte Versager, den niemand haben wollte. Ständig stand er im Weg; in einzelnen Sportarten gelang es ihm, das Spiel seiner gesamten Mannschaft zu zerstören. Und das Wissen darum war beinahe das Schlimmste.

      Es stimmte schon, er war ein Tollpatsch gewesen, obwohl er einen durchaus athletischen Eindruck machte. Hatte jedes Mal den Ball verloren, wenn er zufällig bei ihm gelandet war, und war rot angelaufen, wenn er ihn verspielte und dem Gegner damit eine neue Chance eröffnete. Stoffel hatten sie ihn genannt,


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