Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
doch möglich, das Glück auf seine Seite zu ziehen, dachte sie. Nichts kam ihr im Moment mehr gelegen als die Möglichkeit, das Darlehen für ihr Haus weiter tilgen zu können.
Ihr Arbeitstag war um vier Uhr beendet, und es dämmerte bereits, als sie sich zu Fuß auf den Heimweg machte. Den Starlet benutzte sie nur in Ausnahmefällen, wenn das Wetter schlecht war und sie im Zentrum etwas zu erledigen hatte. Die Arbeit am Schreibtisch verschaffte ihr so wenig Bewegung, dass sie ein Bedürfnis nach den beiden täglichen Spaziergängen empfand. Sie ging rasch die Lade allé entlang, so wie immer, passierte das Musikhistorische Museum sowie die schneebedeckten Tennisfelder auf der gegenüberliegenden Seite. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, und dieses eine Mal hatte die Gemeinde sogar dafür gesorgt, die Bürgersteige streuen zu lassen. Sie ging in den Supermarkt, musterte die Metzgertheke und brauchte nicht lange zu überlegen, ehe sie sich für Entrecote entschied. Heute sollte es weder Pizza noch Pasta geben, denn heute traf sie die Entscheidung. Von Weihnachten war noch eine Flasche Rotwein übrig geblieben, und sie war sicher, dass ihre Gäste gegen eine solche Bewirtung nichts einzuwenden hatten.
Im Grunde wäre es besonders schön, ging ihr durch den Kopf, wenn sie Gorm gleich einen Scheck in die Hand drückte, anstatt ihm nur zu erzählen, dass sie ihn ein wenig am Gewinn beteiligen würde, sobald die Überweisung auf ihr Konto eingegangen war. Nach dem Einkauf wollte sie deshalb noch auf die Bank, die sich im selben Gebäude wie der Supermarkt befand. Sie hatte Glück. Die Bank schloss am Donnerstag erst um halb fünf, also in wenigen Minuten.
Im Schalterraum befanden sich zwei Kunden. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr an einer Theke, auf der Broschüren und Formulare auslagen. Sie ging zu der freien Bankangestellten, die sie von früher her kannte, und nickte ihr freundlich zu. Gab ihr die Scheckkarte und bat sie, den Stand des Girokontos zu überprüfen. Der Betrag stimmte, etwas über vierzigtausend, und Vibeke erwartete in nächster Zeit keine Rechnungen. Dreißigtausend schienen ihr eine angemessene Summe zum Verschenken zu sein. Das Geld würde Gorm gut tun. Kannte sie ihn richtig, würde er es nicht in die Haushaltskasse fließen lassen. Studenten hatten ständig so viele Wünsche. Schienen einfach nie genug zu bekommen und stellten an ihren Lebensstandard ganz andere Forderungen als Vibekes Generation es getan hatte. Doch Gorm verdiente es. Im Alltag wäre sie gern großzügiger zu ihm gewesen, doch ihr Sekretärinnenjob hatte sie nicht gerade wohlhabend gemacht.
Die Bankangestellte schob ihr ein Formular entgegen. Sie füllte es aus, unterschrieb und schob es zurück.
»Möchten Sie einen Scheck oder Bargeld?« Vielleicht würde es Gorm besonders freuen, einen dicken Umschlag entgegenzunehmen und die vielen Scheine selbst zählen zu können. Sie sah bereits sein erstauntes Gesicht vor sich.
»Bargeld bitte. Möglichst glatte Scheine. Es soll ein Geschenk sein.«
Die freundliche Frau ließ ihren Blick über die Bestände wandern. »Diese sind ganz neu.«
Sie zeigte ihr einen Fünfhundertkronenschein. Der Silberfaden zur Rechten von Sigrid Undset glitzerte. Wie passend, denn zum einen studierte Gorm nordische Literatur, zum anderen sah Monica der hübschen Schriftstellerin nicht unähnlich. Wenn man noch mal jung wäre ... sich einen lieben Freund besorgen, von vorn anfangen und die öden Jahre mit Harald vergessen könnte. Zwei Dinge hatte er ihr hinterlassen, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war – einen Sohn sowie das hypothekenbelastete Haus.
Sie zählte rasch die Scheine, die sie, um sie nicht zu knicken, vorsichtig in ein freies Fach ihrer Handtasche gleiten ließ. Dann steckte sie die Quittung ein, lächelte zum Dank und passierte auf dem Weg zum Ausgang den Mann, der in einer Broschüre blätterte.
In Wirklichkeit hatte dieser Vibeke Ordal unablässig beobachtet. Sein Blick war aufmerksam und scharf genug gewesen, um zu registrieren, was sich nur wenige Meter von ihm abgespielt hatte. Er wartete zehn Sekunden. Dann steckte er die Broschüre in die Tasche und verließ eine halbe Minute vor Schalterschluss Bank.
Der Østmarkveien nahm beim Einkaufszentrum seinen Anfang. Es handelte sich um eine relativ schmale Allee ohne Bürgersteig, deren Bäume das Licht der Straßenlaternen dämpften. Aus irgendeinem Grund drehte sie sich um, nachdem sie die Treibhäuser passierte hatte, und erblickte einen dunkel gekleideten Mann, der in dieselbe Richtung ging wie sie. Er befand sich zwanzig bis dreißig Meter hinter ihr und schien sein Tempo in diesem Moment zu verlangsamen.
Erst jetzt begriff Vibeke, wie leichtfertig sie gehandelt hatte, sich eine so große Summe in bar auszahlen zu lassen. Selbst hier, an einem friedlichen Winternachmittag in Trondheim, konnten es Junkies auf sie abgesehen haben, um sich Geld für neuen Stoff zu besorgen. Du bist naiv, hätte Harald zu ihr gesagt, wenn du dir einbildest, vor so etwas gefeit zu sein. Dass er selbst fast nie Bargeld im Portemonnaie hatte, lag ihrer Meinung nach weniger an der Furcht, überfallen zu werden, als an seinem allgegenwärtigen Geiz, unter dem sie stets gelitten hatte. Allerdings schien es ihr mehr als unwahrscheinlich, dass ein Fremder wusste, wie viel Geld sie in ihrer Handtasche bei sich trug.
Dennoch pochte ihr Herz heftig, während sie instinktiv das Tempo erhöhte und in den Victoria Bachkes vei einbog, eine abgeschiedene Straße mit vereinzelten Villen. Sie ging um eine weitere Ecke und passierte die wohlbekannten Grundstücke und Hecken, die sich zu beiden Seiten der Straße befanden. Dann eilte sie in ihren sicheren, unter einer dichten Schneedecke begrabenen Vorgarten, hastete am Briefkasten sowie dem Auto vorbei, das vor dem Eingang stand. Als sie die Haustür erreichte, hatte sie bereits den Schlüssel in der Hand. Wenn der Mann sie verfolgt hatte, gab es niemanden, der ihn noch hätte aufhalten können. Ein kurzer Blick über die Schulter, ehe sie den Schlüssel herumdrehte. Auch hier ließ die Straßenbeleuchtung zu wünschen übrig, doch hätte sie den Mann zweifellos erkannt, wäre er in der Nähe gewesen.
Dann ging sie rasch ins Haus, knallte die Tür ins Schloss und atmete tief durch. In die Erleichterung mischte sich Verärgerung über sich selbst, weil sie sich eingeredet hatte, der Fremde habe es womöglich auf ihre Handtasche abgesehen. Sie zog die Jacke aus, stellte sich vor den Spiegel im Flur, zog einige Male den Kamm durch ihre blonden Haare und ging in die Küche. Sie stellte die Lebensmittel in den Kühlschrank und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Sie hatte noch gut vier Stunden. Genug Zeit, eine Kleinigkeit zu essen, Kaffee zu trinken, die Zeitung zu lesen, aufzuräumen und sich ein wenig zurechtzumachen, bevor sie mit der Zubereitung des Abendessens begann.
Sie machte Licht im Wohnzimmer und legte die Frank Sinatra-CD ein, die sie von Gorm zu Weihnachten bekommen hatte. Es waren dieselben eleganten Nelson Riddle-Arrangements wie auf ihrer alten Schallplatte, die sie stets gehört hatte, bis ihr Plattenspieler vor Jahren den Geist aufgab. Sie summte die Melodie mit und begann unwillkürlich zu tänzeln.
»A summer wind came blowing in, from across the sea ...«
Ihr Sohn hatte wirklich das richtige Gespür gehabt. Er wusste, wie gut es ihr tat, sich hin und wieder aus der Realität zu stehlen und eine Zeit in Erinnerung zu rufen, in der es noch keinen Harald gegeben und die Welt vor ihr gelegen hatte wie ein offenes blaues Meer. Alles schien damals möglich. Konnte Knut Petter die Erwartungen erfüllen, wenn sie auf ihn zuging?
»It lingers there to touch your hair, and walk with me ...«
Unglaublich, wie sehr ein unverhoffter Geldsegen die Stimmung heben und sogar alte Träume wieder beleben konnte! Sie setzte Kaffeewasser auf, schmierte sich eine Brotscheibe und nahm am Küchentisch Platz. Die sechzig unbenutzten Scheine steckte sie in einen großen Umschlag und begann im Dagblad zu blättern. Las darüber, wie klug es sei, sein Geld in Aktienfonds anzulegen, glaubte aber, dass es eine noch bessere Idee war, zunächst die eigenen Schulden abzutragen. Erneut schlug sie die Seite auf, auf der die Lottoergebnisse des vorigen Tages standen, und verglich diese mit ihrem Wettschein. Alles in Ordnung! Als sie einen verstohlenen Blick auf die Straße warf, fiel ihr ein, dass sie aus Furcht vor einem eventuellen Überfall vergessen hatte, in den Briefkasten zu schauen. Sie stand auf und legte den Umschlag auf den Kühlschrank.
Als sie den Briefkasten öffnete, der sich neben dem Gartentor befand, rollte ein Mercedes gemächlich an ihr vorbei. Der Mann hinter dem Steuer winkte, und sie winkte zurück. Henriksen, dachte sie. Er wohnte in derselben Straße und war von Beruf Setzer; ein sympathischer Kerl mit einer netten Frau