Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
Banken, Tankstellen. Und sicher kennen Sie auch den Grund dafür, Sherlock.«
Das tat William. Eine Veröffentlichung der Nummern konnte den Täter davon abhalten, die Scheine in Umlauf zu bringen. »Für heute habe ich keine weiteren Fragen mehr, vielen Dank.«
»Lassen Sie bald wieder von sich hören, damit wir im Präsidium über den Stand Ihrer Ermittlungen unterrichtet sind.«
»Versprochen. Auf Wiederhören.«
Er schluckte die spitze Bemerkung und brachte lächelnd ein paar Notizen zu Papier, trank seinen Kaffee und fragte sich, ob er im Moment noch irgendetwas Sinnvolles bezüglich des Mordes am Victoria Bachkes vei unternehmen konnte.
Einige Stunden später ging er zum Mittagessen in die Kantine. Als er Henriksen, den Setzer, erblickte, der einen schwarzen Anzug trug und ein Stück Käsekuchen aß, ging er mit seinem Lunchpaket zu ihm hinüber.
»Siehst ja aus wie aus dem Ei gepellt, Preben. Hast du heute noch was vor?«
»Das solltest du eigentlich wissen. Nachher ist die Beerdigung.«
»Oh, entschuldige. Kanntest du Vibeke Ordal gut?«
»Zumindest besser als die meisten anderen Nachbarn. Meine Frau war mit ihr befreundet. Außerdem hatten wir früher Kontakt zu Harald Tranøy, solange er noch mit ihr zusammenwohnte.«
»Wurden sie nicht vor sieben, acht Jahren geschieden?«
»So in etwa. Eigentlich war mir der Kerl ziemlich unsympathisch, weil er sich ständig irgendwelche Gartengeräte von uns ausgeliehen hat. Dafür war er uns allerdings auch behilflich, wenn wir mal einen juristischen Rat brauchten.«
»Ein Anwalt, jetzt wohnhaft in Oslo?«
»Richtig. Mit seiner neuen Freundin. Ich hoffe, er behandelt sie besser als Vibeke.«
»Hat sie unter ihm gelitten?«
»Vor allem psychisch, glaube ich. Außerdem ist er ein verdammter Geizkragen.«
»Aber er hatte wohl keinen Grund ... sie zu ermorden?«
Henriksen, der sich gerade ein großes Stück Kuchen in den Mund schob, erstarrte und schaute ihn erschrocken an. »Nie im Leben. Und schon gar nicht aufgrund des Geldes, denn er ist zwar Anwalt, aber Gorm ist Alleinerbe.«
»Den Sohn kennst du auch?«
»Ja, natürlich. Ein netter Junge.« Der Setzer kaute weiter. »Er spielte eine Weile in der Jugendmannschaft von Trygg, während ich dort Trainer war. Im Moment hat er wohl hauptsächlich das Studium und seine Freundin im Kopf. Zurzeit wohnen sie im Studentenwohnheim in Moholt, aber vielleicht werden sie in das Haus seiner Mutter ziehen. Falls Gorm dazu in der Lage ist.«
William nickte, dachte an all das Blut, das er im Traum gesehen hatte, und daran, wir schrecklich es für den Sohn gewesen sein musste, die Leiche seiner Mutter zu finden. »Der Unbekannte, der an dir vorbeigelaufen ist, kannst du dich noch an Einzelheiten erinnern?«
»Nur an die, von denen ich Ivar schon erzählt habe. Hätte ich gewusst, was gerade geschehen war, hätte ich natürlich besser aufgepasst ... mir den Kerl geschnappt und ihn mit bloßen Händen erwürgt!«
»Sie stand am Briefkasten, als du an ihr vorbeifuhrst?«
»Ja, wir haben uns zugewinkt.«
»Aber da hast du nichts von einem Mann gesehen, der sich dem Haus näherte?«
Henriksen schluckte und ließ den Rest des Kuchens stehen, als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er seiner Nachbarin an diesem Nachmittag zum letzten Mal zugewinkt hatte. »Ich bedaure fast, dass ich Ivar den Tipp gegeben habe. Auch die Polizei stellt mir ständig dieselben Fragen. Wie zum Teufel hätte ich denn ahnen können, was im nächsten Moment passieren würde?«
»Natürlich konntest du das nicht.«
»Wenn dich die Sache so brennend interessiert, dann komm doch mit zur Beerdigung. Ich fahre in einer halben Stunde los.«
William nickte erneut. Er konnte sich dezent im Hintergrund halten und in die Lage der Hinterbliebenen hineinversetzen. Er wusste, dass die Neugier seine eigentliche Triebfeder war, sowie die klammheimliche Hoffnung, der Mörder könne sich unter den Trauergästen befinden, wie dies manchmal in Romanen und Filmen vorkam.
»Was mich wundert«, bemerkte Henriksen nach einer Weile, »ist, dass die Polizei eine so rasche Beerdigung zulässt. Ich meine, Vibeke Ordal wurde doch erst vor elf Tagen ermordet. Ich dachte, die Experten würden für die Untersuchung der Leiche mehrere Wochen benötigen.«
»Sie wurde einen Tag nach ihrer Ermordung obduziert. Nach meinen Kenntnissen gab es keinen Grund, die Beerdigung aufzuschieben. Schließlich wurde sie nicht vergiftet, wie in dem Fall, der gerade verhandelt wird.«
»Ich kann nur hoffen, dass sie den Kerl möglichst bald schnappen. Meine Frau sagt, sie findet keine Ruhe, bevor sie nicht eine große Mauer ums Krankenhaus gebaut haben.«
Das Begräbnis begann um halb zwei. Die Trauerfeier fand in der Lademoen Kapelle in Voldsminde statt. William folgte Henriksen in seinem eigenen Wagen und blieb, nachdem er Henriksens Frau begrüßt hatte und diese mit ihrem Mann hineingegangen war, noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen, um die Leute zu beobachten, die der Reihe nach auf den Parkplatz einbogen und aus ihren Autos stiegen. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, und obwohl die feuchten, weißen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, für eine verspätete Weihnachtsstimmung sorgten, konnten sie auch als Versuch eines gnädigen Gottes betrachtet werden, die Schwere des Abschieds ein wenig zu mildern. Bei zwei Autos handelte es sich um neue Toyotas mit dem Logo der Firma, für die Vibeke Ordal gearbeitet hatte. Er erkannte einen der Mitarbeiter, der ihm vor ein paar Jahren einen gebrauchten Corolla verkauft hatte.
Unter den Gästen bemerkte er auch einige Gesichter aus dem Sportmilieu, allen voran einen groß gewachsenen Mann seines Alters mit kupferroten Haaren und einem traurigen, dunklen Anzug. Hatte Kolbjørnsen Gleiches im Sinn wie er selbst, oder war es üblich, dass die Polizei den Ermordeten die letzte Ehre erwies?
Um fünf vor halb zwei, als der Strom der Besucher nachließ, verließ William widerwillig seinen Wagen und betrat die hell erleuchtete Kapelle. Ein Mann in dunklem Anzug, der sich am Eingang postiert hatte, reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt mit den Liedtexten, und die Töne der einsetzenden Orgel bedrückten ihn so stark, wie er befürchtet hatte. Der Anblick des Sargs sowie der süßliche Duft der Blumen verstärkten sein Gefühl, an einer Trauer teilzuhaben, zu der er eigentlich keinen Anlass hatte. Hier war er ein ebenso unbeteiligter Zuschauer wie in der ärmlichen Wohnung in Risvollan. Joakim, sein Vater, hatte es ihm damals gesagt, nachdem er ihm erzählt hatte, er würde beim Trondheimer Anzeiger anfangen: »Du wirst vieles zu sehen bekommen, mein Junge, darunter auch Dinge, auf die du lieber verzichten würdest. Aber das gehört wohl zum Alltag eines Journalisten.« Der Vater hatte Recht behalten, doch im Gegensatz zu ihm war Solveig der Meinung, er müsse sich auch persönlich für die wichtigen Fälle interessieren, über die er schrieb. Aber das war ihm nicht möglich, denn je mehr er vom Privatleben anderer Menschen erfuhr, desto stärker musste er darauf achten, einen gewissen Abstand zu wahren. Ließ er das Leid fremder Personen zu nahe an sich herankommen, dann war der Griff zur Flasche oder anderen Drogen vorprogrammiert. Geistliche zum Beispiel, die oftmals mehrere Begräbnisse am Tag durchzuführen hatten, konnten unmöglich so tief mit den Trauernden mitfühlen, wie ihre salbungsvollen Stimmen vorgaben. Kein Wunder, dass man vielen von ihnen die Routine anmerkte. Als Berufsanfänger, der von zahlreichen Beerdigungen berichten musste, hatte er versucht, sich in die Situation eines Pfarrers hineinzuversetzen, und es dauerte nicht lange, bis er seine eigenen Formulierungen auswendig kannte:
Die Kirche war feierlich mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf dem Sarg lag ein Bouquet der engsten Familienangehörigen, das aus dunkelroten Rosen bestand ...
Er nahm in der hintersten Reihe Platz, ein Stück von Kolbjørnsen entfernt, dessen hellwacher Blick die Anwesenheit des Trondheimer Anzeigers mit unmerklichem Lächeln quittierte. Falls sich der Täter wider alle Wahrscheinlichkeit unter der