Das dritte Opfer. Fredrik Skagen

Das dritte Opfer - Fredrik Skagen


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Kubben verneinte und wusste den Kriminaldirektor hinter sich, während auch der Polizeipräsident seine ganze Autorität geltend machte, um für eine Geheimhaltung des Briefes zu sorgen. Gerade weil die Mitteilung möglicherweise gar nicht auf das Konto des Täters, sondern irgendeines Trittbrettfahrers ging, weigerte er sich, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Leute würden sich grundlos gegenseitig verdächtigen, sich nicht mehr aus dem Haus trauen, ihre Türen verriegeln und in unnötige Hysterie verfallen.

      Doch wenn der Mörder es ernst meinte?

      Das war und blieb ein Dilemma. Sollte er ein weiteres Mal zuschlagen, würden Polizei und Zeitung einräumen müssen, von der Drohung gewusst zu haben. Doch Kubben und Storm hatten sich geschworen, ihm nicht die Freude zu gönnen, zur öffentlichen Person zu werden.

      Für William war die Frage nach dem Motiv der entscheidende Punkt. Hatte der Täter von Anfang an töten wollen oder sich dazu gezwungen gefühlt, nachdem er das Geld gestohlen hatte? Handelte es sich um einen gewöhnlichen Raubmörder, einen alten Bekannten der Polizei, würde er kaum ein zweites Mal töten. Wann hatte er von Vibeke Ordals Lottogewinn erfahren, falls er überhaupt davon gewusst hatte? Angenommen, es handelte sich um einen Arbeitskollegen, der vom Gewinn erfahren hatte – wie hatte er wissen können, dass sie nach der Arbeit eine beträchtliche Summe von ihrem Konto abheben würde? Hatte er vor ihrem Büro gestanden und ihr Telefongespräch mit dem Sohn belauscht? Nein, da war es schon wahrscheinlicher, dass sich der Täter in der Bank befunden und beschlossen hatte, dem erstbesten Kunden zu folgen, der einen größeren Betrag abheben würde. Natürlich konnte es sich auch um einen Verrückten handeln, der durch die Gegend gestreift war und sich spontan für sein Opfer entschieden hatte.

      William änderte seufzend seine Sitzposition. Der morgendliche Becher Kaffee war längst kalt geworden.

      Falls es sich doch um einen zynischen Wiederholungstäter handelte, räsonierte er weiter – wie sollte man diesen aufspüren, da man nichts anderes über ihn wusste, als dass er offenbar, so wie die Hälfte der gesamten norwegischen Bevölkerung, über einen Computer verfügte? Da die Zeitung eingewilligt hatte, die Drohung zu verschweigen, hatte Kolbjørnsen im Gegenzug versprochen, sie über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, hatte bis jetzt aber kaum etwas mitzuteilen gehabt. Sowohl der Umschlag als auch das rote Papier konnten aus jedem beliebigen Schreibwarengeschäft stammen. Kein einziger Fingerabdruck war gefunden worden. Der Text war möglicherweise mit Hilfe eines Druckers der Marke Cannon ausgedruckt worden. Dies schien den Eindruck zu bestätigen, es handele sich um eine intelligente Person, die behutsam vorging, Handschuhe trug und Schuhsohlen besaß, die anonyme Abdrücke hinterließen. Eine Person, die nichts dem Zufall überließ. Eine Person, die in einer psychiatrischen Klinik nichts zu suchen hatte. Dennoch wollte William dorthin und hatte mit großer Mühe einen Gesprächstermin mit einem der Chefärzte vereinbaren können. Nach einem Blick auf die Uhr stand er auf und zog seine Jacke an.

      »Glaubst du, der Absender ist wütend?«, fragte er Ivar.

      »Warum sollte er das sein?«

      »Weil wir den Brief nicht veröffentlicht haben.«

      Ivar zuckte die Schultern. »Das wird sich zeigen. Vielleicht erhalte ich ja bald eine Mahnung von ihm.«

      Oder eine weitere Frau wird ermordet, dachte William. »Kommst du mit ins Krankenhaus?«

      »Nein danke. Das bringt mich nur durcheinander, weil ich den Unterschied zwischen den autorisierten Seelenklempnern und den Patienten nicht erkenne. Außerdem glaube ich nicht, dass Herr X dort zu Hause ist.«

      Das tat William auch nicht. Dennoch fand er es interessant, einen Einblick in das Leben hinter den Mauern zu bekommen. Auch die Leser hatten ein Recht darauf, solange sich Gerüchte hielten, der Mann sei direkt aufs Krankenhaus zugelaufen. Obwohl die Existenz eines gewissen Briefs vertuscht wurde, konnte die Polizei einen Journalisten nicht daran hindern, einen Fachmann zur psychischen Struktur eines Serienmörders zu befragen.

      »Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, gebe ich eine Vermisstenanzeige auf«, sagte Ivar grinsend, als William das Büro verließ.

      Das Außenthermometer zeigte fünf Grad plus, es herrschte Tauwetter. Typisch, dachte William lakonisch, als er sich ins Auto setzte. Es war der 9. Februar. Wenn er an das merkwürdige Winterwetter der letzten Jahre dachte, fragte er sich oft bekümmert, ob die Klimaforscher nicht Recht hatten, doch in diesem Moment dachte er ausschließlich daran, dass sich an irgendeinem Ort, vielleicht ganz in der Nähe, ein Mörder befand, dem die Polizei nicht auf die Spur kam. Gestern Nachmittag war er in einer Buchhandlung gewesen und hatte sich – beinahe verstohlen – ein Exemplar der New Encyclopedia of Serial Killers gekauft, doch bis jetzt hatte er nur ein wenig darin blättern können. Sollte der berechnende Verrückte einen weiteren Mord begehen, würde vielleicht ein gewisses Muster deutlich, nach dem der Täter vorging – ein abnormes Muster, versteht sich.

      Ihn schauderte, als er auf die E6 abbog. Im nächsten Augenblick fragte er sich, warum er sich aufgrund des anonymen Briefs fortwährend düstere Theorien ausmalte. Weil er wollte, dass es so war? Weil er bereits ahnte, dass weitere Morde geschehen würden? Weil er begonnen hatte, von Blut zu träumen?

      Vor zehn Tagen hatte er sich an seine Kollegin Halldis Nergård gewandt und ihr von seinem Besuch bei der Familie Danielsen in Risvollan berichtet. Er hatte ihr ebenfalls erzählt, dass Solveig die Berichterstattung über alltägliche Gewalt für absolut unzureichend hielt. Sie hatte aufmerksam zugehört, worauf er in der letzten Ausgabe ihrer Wochenzeitung zwei kenntnisreiche und gut geschriebene Artikel von ihr zu diesem Thema entdeckte. Vielleicht waren sie nur eine Reaktion auf den fortdauernden Giftmordprozess, dessen Tat sich ebenso gut auf Hass wie auf Eifersucht zurückführen ließ, doch William war dies einerlei. Hauptsache, den Menschen wurde in puncto familiärer Gewalt die Augen geöffnet, damit sie begriffen, dass dieses Thema jeden betreffen konnte und jeden etwas anging. Er hatte Halldis zu ihren Artikeln gratuliert. Sie selbst glaubte, ein wenig zur Aufklärung beigetragen zu haben, zweifelte aber an einer vorbeugenden Wirkung. Die Frage war, ob sich die psychische Struktur des Menschen überhaupt beeinflussen und verändern ließ, ob die individuelle seelische Veranlagung nicht vielmehr genetisch festlag und es sinnlos war, die eigenen Triebe und Bedürfnisse zu verleugnen. Ebenso sinnlos vermutlich wie der Versuch, einem Drogenabhängigen im Zuge der Therapie den Aggressionstrieb zu nehmen. Zwangsmaßnahmen waren der letzte Ausweg und kamen in der Regel erst zur Anwendung, wenn die Katastrophe bereits geschehen war. Anders ausgedrückt: War es moralisch vertretbar, auf den vagen Verdacht hin, der Nachbar misshandele seine Kinder, die Behörden zu informieren?

      Es ärgerte William, dass er sich immer wieder mit einer Frage beschäftigte, die er nicht lösen konnte, und so versuchte er sich bewusst auf etwas anderes zu konzentrieren. Er war nicht gerade ein Musikliebhaber, summte jedoch eine Melodie, die sich wie Night and Day anhören sollte, als er der ausgeschilderten Umleitung um die Stadtmitte folgte und sich Lade näherte. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er zu früh aufgebrochen und vermutlich auch viel zu schnell gefahren war. Erst in zwanzig Minuten war er mit dem Chefarzt verabredet.

      Deshalb machte er noch Station beim Einkaufszentrum in Lade, das sich am Ende der Sportanlage befand, und bog auf den Parkplatz ein. Stellte den Motor ab und überlegte, ob er eine Schachtel Zigaretten kaufen sollte. Er beobachtete den Eingangsbereich. Ivar war bereits in der Bank gewesen, die sich im selben Gebäude wie das Einkaufszentrum befand, und hatte sich mit der weiblichen Angestellten unterhalten, also hatte es keinen Sinn, wenn er dasselbe tat. Ivar beherrschte sein Metier und wusste als erfahrener Kriminalreporter genau, nach welchen Details er sich erkundigen musste. Neben dem Haupteingang gab es ein kleines Vordach, unter dem die Einkaufswagen standen. Der Täter hätte sich genauso gut hier aufhalten und die Leute im Auge behalten können, die das Gebäude verließen. Er stieg aus dem Auto und schlenderte auf die Einkaufswagen zu. Ein ausgezeichneter Beobachtungsort, vor allem im Dunkeln.

      Ehe er sich’s versah, war William hineingegangen und hatte sich eine Schachtel Barclays gekauft. Danach benutzte er den Anzünder im Auto und fuhr weiter. Folgte langsam dem Østmarkveien und stellte sich vor, wie der Täter sein Opfer verfolgt hatte. Was ging im Kopf eines solchen Kerls vor, wenn überhaupt etwas in ihm vorging?


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