Das dritte Opfer. Fredrik Skagen
Trio spielte »So nimm denn meine Hände«, und nach der Beerdigung wurde »Schön ist die Erde« angestimmt.
Er bemerkte, dass er die Deckenbalken zählte, während der Pfarrer sprach. Erschrocken zuckte er zusammen, wie ein kleiner Junge, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Dann versuchte er, sich das Gesicht der Toten im Sarg vorzustellen, den tiefen Schnitt in ihrem weißen Hals, von dem man das Blut sorgfältig entfernt hatte, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht weil er sie niemals lebend gesehen hatte, vielleicht weil er sich im Dienst befand und die äußeren Umstände ohnehin nicht beeinflussen konnte.
Danach erhoben sich alle und blieben eine Weile unbeweglich stehen, bevor ein junger Mann, Gorm Ordal, gebeugten Kopfes und seine Freundin im Arm haltend, langsam durch den Mittelgang schritt. Ein Stück dahinter folgte ihm ein Mann mittleren Alters mit grau melierten Haaren und geröteten Augen. Die Ähnlichkeit mit Gorm war so auffällig, dass William sofort begriff, dass es sich um den Vater handelte. Harald Tranøy war aus Oslo gekommen, um am Begräbnis seiner ehemaligen Frau teilzunehmen. Anständige Menschen taten so etwas offenbar.
Er empfand Erleichterung, als er wieder den Schneematsch unter seinen Füßen spürte. Während er die Tür seines Autos öffnete, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Hallo.« Es war der Toyota-Verkäufer namens Knut Petter. Man sah ihm an, dass er geweint hatte.
»Eine furchtbare Geschichte«, sagte William.
»Völlig unbegreiflich.«
»War sie beliebt bei ihren Kollegen?«
»Sehr beliebt. Fast die gesamte Belegschaft ist hier.«
Der Mann hatte sich eine Zigarette angezündet, und William bekam Lust, es ihm gleichzutun. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit zu einer weiteren Frage: »Niemand von Ihnen wusste, dass sie an diesem Tag im Lotto gewonnen hatte?«
»Nein, ich denke nicht. Vibeke wollte es anscheinend lieber für sich behalten. Aber die Polizei hat uns natürlich auch schon gelöchert.« Er machte eine mürrische Kopfbewegung in Richtung Kolbjørnsen, der sich wenige Meter entfernt mit Harald Tranøy unterhielt. »Als hätte irgendjemand von uns Vibeke auch nur ein Haar krümmen können. Kommen Sie noch mit zum gemeinsamen Essen?«
»Nein, ich kannte sie nicht persönlich.«
»Verstehe. Sie sind hier, um über das Begräbnis zu berichten.«
»Nein, nein.«
»Vielleicht war der Mörder sogar unter uns. So was soll ja vorkommen. Wenn er auch nicht an den Tatort zurückkehrt, sucht er vielleicht immer noch die Nähe zu seinem Opfer.«
William schüttelte den Kopf, begriff jedoch, dass er nicht der Einzige war, der eine lebhafte Fantasie besaß. Hingegen würde er nie so handeln wie seine Kollegen von der Boulevardpresse – von denen er allerdings niemand in der Kapelle erblickt hatte –, sich an die engsten Angehörigen wenden, sie fotografieren und nach ihren Gefühlen befragen. Den schamlosen Reportagen, die daraus entstanden, fehlte jede Spur echter Mitmenschlichkeit; sie befriedigten einzig und allein den unbändigen Drang der Leserschaft, Einblick in das Privatleben anderer Leute zu bekommen. Sowohl Dagbladet als auch VG hatten bereits Kurzinterviews mit Gorm Ordal veröffentlicht, die weder besonders sensibel noch erhellend waren. Auch in Norwegen war man auf dem Weg, individuelle Tragödien öffentlich auszuschlachten, was er nicht ausstehen konnte. Dort, wenn auch nicht auf allen Gebieten, verlief für ihn die Grenze, die moralisch verantwortlichen Journalismus von unverantwortlichem trennte. Unter anderem, weil es seine Pflicht war, Menschen, die zur Redseligkeit neigten, vor sich selbst zu schützen.
Kurz darauf befand er sich wieder auf dem Weg nach Heimdal, verfluchte einen Raser, der mit mindestens 110 km/h an ihm vorbeipreschte, hatte sich jedoch längst wieder beruhigt, als er mit einer Kaffeetasse in der Hand sein Büro betrat. In der Zwischenzeit war die Post für Laurel und Hardy eingetroffen. Einen der Briefe, die an Ivar persönlich adressiert waren, legte er auf dessen Schreibtisch. Danach putzte er seine Brillengläser, vertiefte sich eine Weile in kleinere Delikte und überlegte, ob es richtig gewesen war, das Sozialamt einzuschalten. Schließlich fiel ihm ein, dass eine Kollegin kurz vor Weihnachten einen langen Artikel geschrieben und festgestellt hatte, dass weitaus größere Mittel für den Kampf gegen familiäre Gewalt bereitgestellt werden müssten. Er zweifelte daran, dass der Artikel sein Ziel erreichen würde.
Dann eilte ein geschäftiger Ivar ins Zimmer und ließ sich sogleich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Ein Typ, der seine Freundin vergiftet, damit sie ihn nicht verlässt, ist ein ausgemachter Psychopath«, war seine brummende Kurzversion des heutigen Gerichtstages.
»Trotz so genannter verminderter Zurechnungsfähigkeit?«
»Ja, es scheint paradox, aber der Kerl ist hochintelligent.«
»Ich war auf der Beerdigung von Vibeke Ordal«, versuchte es William mit einem Themenwechsel.
»Wie nett von dir. Gibt’s was Neues?«
»Nein, eigentlich nicht. Da liegt übrigens ein Brief für dich.«
»Hm.« Ivar streckte die Hand aus, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Bestimmt wieder irgendein ungebetener Kommentar.«
Bei großen Fällen fehlte es nie an Kritik und Protesten von verschiedensten Seiten. Obwohl beide stets versuchten, den Gang der Verhandlung möglichst objektiv darzustellen, beschwerten sich die Angehörigen oft über die Art und Weise, in der die Aussagen von Angeklagten und Zeugen wiedergegeben wurden. Erneut versuchte William sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wurde jedoch von Ivars Lieblingsformulierung aus seinen Gedanken gerissen: »Ich glaub’, ich spinne!«
Er hob den Blick. Ivar hatte den Umschlag geöffnet und starrte mit offenem Mund auf das rote Blatt Papier, das er auseinander gefaltet hatte.
»Was ist das?«
»Sieh selbst.«
William nahm das Blatt. In der Mitte der DIN-A4-Seite standen nur vier Wörter, geschrieben mit großen Buchstaben:
Sie war die erste
Verwirrt drehte er das Blatt, doch die Rückseite war leer. Ivar untersuchte den Umschlag.
»Poststempel ist von Samstag, Trondheim. Natürlich kein Absender.«
Das konnte alles und nichts bedeuten, wusste William. In der Regel bedeutete es nichts. Doch in diesem Fall hatte er das unheimliche Gefühl, dass der Brief – der knappe schwarze Text auf blutrotem Grund – sehr viel mehr war als das Werk eines Verrückten. Beziehungsweise genau das. Die melodramatische Nachricht eines kranken Menschen, der nicht nur bedenkenlos und willkürlich mordete, sondern implizit damit drohte, die Tat zu wiederholen. Adressiert an Ivar Damgård, vermutlich, weil dieser den ersten Artikel über den Mord verfasst hatte.
Dann sah William, dass Ivar bereits zum Telefonhörer gegriffen hatte.
»Guten Tag, Herr Kolbjørnsen! Hier Damgård. Jetzt halten Sie sich fest, ich habe gerade einen anonymen Brief bekommen ...«
William betrachtete den Kollegen und versuchte aus dessen Mienenspiel auf den Gesprächsverlauf zu schließen. Durch einen Knopfdruck hätte er einen kleinen Lautsprecher aktivieren können, widerstand jedoch der Versuchung.
»Fingerabdrücke? Keine Angst, ich werde den Umschlag nur noch mit Samthandschuhen anfassen. Sieht so aus, als fühlte sich der Kerl von uns vernachlässigt ... Sie glauben, da erlaubt sich jemand einen Spaß ... wir sollten das nicht veröffentlichen? Bitte?« Ivar schwieg eine Weile und machte sich dann ein paar Notizen. »Das mit der Plastiktüte geht in Ordnung. Sie schicken einen Kurier? Alles klar ...«
Noch während er telefonierte, hatte Ivar eine Schreibtischschublade aufgezogen und eine Pinzette herausgeholt.
»Wir müssen auf jeden Fall ein paar Kopien machen, bevor wir das Schreiben aus der Hand geben«, knurrte er.
»Kolbjørnsen nimmt den Brief ernst?«
»Anfangs schien es gar nicht so. Doch die Ermittlungen treten anscheinend so auf der