Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
Fehler begehe?« Seine Hände zitterten. Benommen schloss er die Augen. Ich brauche wirklich dringend Ruhe, dachte er. Oh, Gott, das muss aufhören. Etwas Schlaf! Schlaf des Vergessens! Du weißt so gut, wie ich, dass ich einen klaren Kopf bekommen muss, wenn wir aus diesem Schlamassel mit heiler Haut davon kommen wollen. Ich darf, nein, ich will nicht zulassen, dass meine Vergangenheit erneut mein Leben beherrscht. Dieses Kapitel ist ein für alle Mal abgeschlossen. »Großer Gott, hilf mir! Mögen ihre Seelen in Frieden ruhen und meine hier ihren Frieden finden!« Ruben hoffte inständig, sein Flehen möge erhört werden. Doch, anstatt des erhofften Schlafes, kehrten noch mehr Bilder aus vergangenen Tagen zurück.
Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Ruben mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Brüdern auf dem Landgut der Familie, das, umgeben von den gewaltigen Gebirgskämmen des Arrasgebirges, abgeschieden inmitten eines Tales unweit der Grenze zu Aranadia lag. Sein Vater, Armand de Arosella, war bereits zu diesem Zeitpunkt Kriegsminister und oberster Befehlshaber der Armeen seines Schwagers Samuel und deshalb oft Monate lang, von seiner Familie getrennt, im Auftrag des Königs unterwegs. Meist ließ er nur eine Handvoll Soldaten zurück, denn das Tal mit seinen Ländereien lag verdeckt zwischen den Bergen und war nur durch eine schmale Schlucht erreichbar, sodass die zurückgelassenen Männer, es ohne große Schwierigkeiten von der Anhöhe oberhalb der Schlucht verteidigen konnten. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich noch herausstellen sollte.
Rubens Erinnerungen formten Bilder des Jahres, in dem sich seine Geburt zum achten Mal jährte. Sein Vater war wieder einmal den gesamten Herbst und Winter im Auftrag Samuels auf Reisen. Der Frühling war gerade eingezogen. Die Sonne tauchte die noch immer schneebedeckten Gipfel der umliegenden Berge in rotes Licht und brachte sie wahrhaftig zum Glühen. Diesen Eindruck hatte jedenfalls der Junge, der, wie gebannt, aus dem Fenster der kleinen Kammer starrte und durch dessen Augen Ruben nun ein weiteres Mal mit den Geschehnissen von damals konfrontiert wurde. Geschlagenen drei Stunden saß er jetzt schon auf demselben Fleck und musste, ob er wollte oder nicht, den Worten seines Hauslehrers lauschen, die der kleine, etwas rundliche Mönch, den seine Mutter zu diesem Zweck eingestellt hatte, wie einen monotonen Singsang ständig herunterbetete.
»Man dekliniert Nomen und konjugiert Verben, du nichtsnutziger Tropf …!«, die Stimme von Vater Barnabas schien sich immer weiter zu entfernen. Ruben starrte in sein fettes, vom ständigen Alkoholgenuss aufgedunsenes, rotes Gesicht, das eher dem eines Mastschweins, denn dem eines Menschen glich. Starrte dann auf die wulstigen Lippen seines Lehrers, die sich zwar bewegten, deren Worten aber nicht bis zu ihm vordrangen, und ließ schließlich seinen Blick erneut zum Fenster wandern. Auf dem Hof, unterhalb des Fensters, waren Elias und Daniel, seine fast schon erwachsenen Brüder mit ihren Waffenübungen beschäftigt. Geschmeidig, wie zwei Panther fixierten sie sich und ließen ihre Schwerter aufeinanderprallen. Das polierte Metall glänzte in der Sonne, dabei warf es gleißende Lichtreflexe zu ihm herauf, sodass er die Augen zukneifen musste, um ihren Bewegungen weiter zu folgen. Wie gerne wäre er jetzt bei ihnen gewesen, doch seine Mutter hatte andere Pläne mit ihm. Sie war strikt dagegen, dass er auch nur in die Nähe der Waffen kam. Ruben liebte das Klirren, das sie verursachten, wenn sie aufeinandertrafen. Gespannt lauschte er, während er im Geiste, jede Bewegung seiner Brüder nachahmte. Anstatt in dem stickigen Zimmer zu sitzen, hätte er viel lieber selbst an den Übungen teilgenommen. Sein Vater hätte bestimmt nichts dagegen. Doch sein Vater war nicht hier und seine Mutter ließ in diesem Punkt nicht mit sich reden, denn sie stand unter dem nicht gerade positiven Einfluss seines Hauslehrers. Er gähnte laut und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Junger Mann, langweile ich dich?« Vater Barnabas schlug mit seinem Rohrstock, mit dem er zuvor gedankenverloren herumgespielt hatte, auf das Pult, direkt vor Rubens Nase. Der Junge wurde unsanft aus seinen Tagträumen gerissen und stierte ängstlich auf den dicken Mönch, dessen Gesicht vor Wut die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte. »Wiederhole meinen letzten Satz!« Seine Stimme war quäkend und er lallte leicht. Ruben machte keinerlei Anstalten zu antworten, sondern starrte weiter in das Gesicht, dessen Schweinsaugen sich nun zu engen Schlitzen verengt hatten. »Mir scheint, du hast es immer noch nicht begriffen, du kleiner Bauerntölpel! Dann werden wir eben die gesamte Lektion noch einmal wiederholen. Die Konjugation von fremdsprachlichen Verben dient in erster Linie …!«, nicht schon wieder! Ruben verdrehte die Augen, während sein Blick erneut auf den Hof zu seinen Brüdern wanderte. Ihre Bewegungen waren jetzt langsamer. Kleine Schweißtröpfchen funkelten auf ihren Oberkörpern in der Sonne, wie die Perlen, die seine Mutter immer in ihren Haaren trug. »Ich habe das Gefühl, du folgst dem heutigen Unterricht nicht mit dem gebührlichen Respekt. Wenn ich mir schon die Mühe mache, einem solchen Kretin, wie dir, die Sprache des Buches der Bücher beizubringen, damit du sein Wort lesen und verstehen kannst, dann verlange ich auch deine volle Aufmerksamkeit!« Barnabas holte zum wiederholten Male mit seinem Rohrstock aus und traf Ruben an der Schulter. Der Junge zuckte zusammen und rieb sich die schmerzende Stelle. »Ich bin ein Lamm, verglichen mit Vater Augustinus. Wenn ich dich lehren muss, meinen Worten zu folgen, dann schmerzt mich das mehr, als dich, mein Sohn. Ich befürchte nur, Vater Augustinus wird nicht so nachsichtig mit dir sein. Er hat andere Mittel und Wege, sich Gehör zu verschaffen und er weiß auch, wie er sie einsetzen muss.« Es folgte eine Strafpredigt, der Ruben nur noch mit einem Ohr zuhörte. Ihm schossen Tränen in die Augen. Da war es wieder, dieses Gespenst, das sich ihm unaufhaltsam näherte. Nur noch ein Sommer. Diesen einen Sommer noch. Sein letzter Sommer hier bei seiner Mutter und seinen Brüdern. Warum wollte seine Mutter nur, dass er jetzt schon fortging? Konnte sie nicht noch ein paar Jahre warten, oder wollte sie ihn einfach nur aus dem Weg haben? Aber warum? Warum gerade er?
»Ade, du schöne Welt!«, murmelte er vor sich hin. Willkommen ihr düsteren Mauern, fügte er in Gedanken hinzu. Dann sackte er auf dem Stuhl zusammen und verfiel in herzzerreißendes Schluchzen. Vater Barnabas, der dies für sein Werk hielt, grinste. Seine Augen funkelten spöttisch, während er sich am Anblick des Jungen weidete. Triumphierend setzte er seine Rede fort.
»Anscheinend habe ich nun endlich deine volle Aufmerksamkeit. Lass uns gemeinsam noch einmal von vorne beginnen! Die Konjugation fremdsprachlicher Verben dient in erster Linie …!«, heute Abend! In Ruben keimte plötzlich ein letzter Funken Hoffnung auf. Heute Abend, das war seine letzte Chance, dem scheinbar Unausweichlichem zu entgehen. Sein Vater hatte für den heutigen Tag seine Rückkehr angekündigt und er fasste den Entschluss, noch heute mit ihm zu reden. Er war der Einzige, der genug Einfluss auf seine Mutter hatte, um sie zur Vernunft zubringen und von diesem Wahnsinn abzuhalten.
Das Knarren der Schiffsplanken holte Ruben zurück in die Wirklichkeit. Er öffnete seine Augen. Ich kann sowieso nicht einschlafen, dachte er. Er stand auf und lief in der Kajüte hin und her. Einundzwanzig Jahre lag die Geschichte nun schon hinter ihm, doch jetzt, da er sich langsam an alle Einzelheiten erinnerte, schlugen seine Gefühle Purzelbäume. Als er damals vom Entschluss seiner Mutter hörte, ihn in die Obhut des Ordens zu geben, hielt er das Ganze zunächst für einen Scherz, allerdings einen der der übelsten Sorte. Doch, als sie, kurz darauf, diesen fettleibigen Mönch mit seiner Erziehung beauftragte, begriff er, dass es ihr bitterer Ernst war. All seine Träume verpufften, wie der Rauch des Kaminfeuers. Man wollte ihn, fern von zu Hause, hinter dunkle Klostermauern zwängen, damit er dort, über staubigen Büchern, inmitten einer Gesellschaft von langweiligen, alten Männern, deren Lebensaufgabe nur im Dienst des einen Gottes lag, sein Leben fristete und beendete. Ein Leben, das noch gar nicht richtig angefangen hatte. Kein Mensch hielt es für nötig, ihn nach seiner Meinung zu fragen, geschweige denn, danach, wie er sich dabei fühlte. Man hatte beschlossen und er musste sich fügen.
Kapitel 8
Als Rilana ihre Augen öffnete, fiel gedämpftes Tageslicht in die Nische. Irgendjemand hatte, zum Schutz vor der Kälte, den Eingang mit Decken verhangen, durch die nur spärliche Sonnenstrahlen ihren Weg ins Innere fanden. Vorsichtig streckte sie ihre Glieder und rieb sich über ihre wunden Pobacken, die sich vom langen Ritt des Vortages, wie rohes Fleisch anfühlten. Dann richtete sie sich langsam auf und sah sich um. Auf dem Feuer, das noch immer in der Mitte des Raumes prasselte, stand ein Kessel, der einen köstlichen Geruch verbreitete. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, während ihr Magen sich lautstark meldete. Sie schob ihre Decken beiseite und sprang auf. Wie lange