Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
einen Auge fixierte er sie. War es Mitleid, was aus ihren Augen sprach oder etwas anderes. Noch war er sich nicht sicher, aber ihre Reise würde ihm schon Gewissheit verschaffen.
»Ich kann, selbst, wenn ich es wollte, Eurer Bitte nicht nachkommen! Unser Bote wird bald Eure Mutter erreichen, wenn er es nicht schon längst getan hat. Sie weiß dann, dass wir mit Euch und dem Gefangenen auf dem Weg nach Andrass sind. Was soll ich ihr, Eurer Meinung nach erzählen, wenn wir ohne ihn dort ankommen?«
»Sagt Ihr einfach, dass er Eure Behandlung nicht verkraftet hat und unterwegs gestorben ist!«
»Dann will sie sicher seine Leiche sehen!«
»Die haben die Wölfe und Geier gefressen!«
»Seid doch nicht albern! Für wie dämlich haltet Ihr Eure Mutter?«
»Es muss aber eine Möglichkeit geben!«, Rilana brach in Tränen aus. Archibald erhob sich und ging langsam auf sie zu.
»Ich verstehe Euch! Ich weiß, was in Euch vorgeht! Aber glaubt mir, wir müssen ihn mitnehmen. Es gibt keine andere Möglichkeit!« Ihr tränenüberströmtes Gesicht versetzt Archibald einen Stich in seiner Brust. Tröstend wollte er sie in den Arm nehmen, doch Rilana wehrte ihn ab.
»Ihr hab mir doch vorhin eine Frage gestellt«, bemerkte er daraufhin sanft. »Und ich habe Euch noch nicht geantwortet! Seht Ihr, für mich ist es auch nicht immer einfach, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn wir die Aufträge Eurer Mutter erledigen, dann befinden wir uns in einer Art Krieg. Wir alle hier sind Krieger, die für eine bestimmte Sache kämpfen. In meinem Land zählen wir zu den ehrenwerten Menschen. Bei uns wird nicht einfach wild drauf losgemetzelt und gemordet. Wir haben eine Art Kodex. Gefangene werden bei uns nicht nur einfach getötet, sondern, wenn sie sich als würdig erweisen, auch mit dem nötigen Respekt behandelt. Egal für welche Seite man seinen Hals riskiert, man tut es aus einem bestimmten Grund! Dieser Grund kann richtig oder falsch sein, aber genau genommen kann das keiner beurteilen. Kann ich sagen, ob das, was ich tue, immer richtig ist? Nein! Ich muss mich auf mein Gefühl verlassen. Die andere Seite verlässt sich auch auf ihr Gefühl. Ist sie deshalb schlechter als ich? Was, wenn unser junger Freund auf der richtigen Seite steht und ich im Unrecht bin? Nur, er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, mir zu sagen, was ihn zu seinen Taten trieb! Kann ich ihn dann, einfach sterben lassen? Er macht mich neugierig! Ich möchte erfahren, was in ihm vorgeht, was er denkt und warum er es getan hat. Euch gegenüber hat er keinerlei Andeutungen gemacht, warum er Euch entführt hat, aber dennoch hatte er einen Grund! Dann seine Reaktion auf unseren Angriff! Warum setzt er sein Leben aufs Spiel, nur um Euch zu retten? Er konnte ja nicht ahnen, dass wir keine Strauchdiebe, sondern die Garde Eurer Mutter waren! Wenn er Euch nur entführt hat, um Reichtümer aus Eurer Mutter zu pressen, dann wäre ihm Eurer Leben völlig gleichgültig gewesen. Er hätte das Eure ohne zu zögern für sein Eigenes geopfert. Das hat er aber nicht getan! Also hat Eure Entführung einen anderen Grund! Aber welchen? Warum schweigt er so beharrlich auf alle meine Fragen? Warum lässt er sich auspeitschen, wo es ihm doch ein Leichtes gewesen wäre, auf meine Frage zu antworten? Was hat er zu verbergen?« Archibald schwieg. »Irgendetwas ist merkwürdig an dieser Sache und ich werde auf jeden Fall versuchen, herauszufinden, was es ist!« Seine Stimme war so leise geworden, dass selbst Rilana, die unmittelbar vor ihm stand, sie kaum noch vernehmen konnte. Eigenartig, dachte sie, er scheint meine Gedanken zu kennen, oder dieselben zu haben. Dieser Mann wurde ihr immer unheimlicher. Sie hatte das Gefühl, dass er sie wirklich verstehen konnte. In gewisser Weise wollte er ihr vielleicht sogar helfen. Sie war erstaunt, wie sehr er ihr doch ähnelte. Wenn sie nur hartnäckig genug war, könnte sie ihn möglicherweise doch noch dazu bringen, Raoul einfach gehen zu lassen. Sie musste nur abwarten. Alles Weitere würde sich schon zeigen.
Nachdem sie sich eine Weile schweigend angesehen hatten, nickte Rilana schließlich, bückte sich, griff nach ihrem Unterkleid und begann es in Stücke zu reißen. Einen Teil der Streifen warf sie in den brodelnden Kessel, die anderen gab sie Archibald, der inzwischen wieder neben dem Gefangenen kniete.
»Kommt zu mir! Ich möchte Euch etwas zeigen!« Rilana ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. »Hier schaut, der Pfeil steckt sehr tief in seinem Körper. Er ist oberhalb seiner rechten Niere in die Bauchdecke eingedrungen. Die Flüssigkeit, die dort austritt, riecht aber nicht nach Urin. Das ist ein gutes Zeichen. Seine Niere ist anscheinend nicht verletzt worden. Wir können den Pfeil demnach, ohne großen Schaden anzurichten, einfach herausziehen. Danach wird zwar wieder Blut austreten, aber das reinigt die Wunde nur. Anschließend brenne ich die Wundränder mit dem glühenden Dolch aus, um die Blutung zu stoppen.« Der Dolch! Rilana zuckte zusammen. Also doch! Sie hatte recht behalten. Allein schon der Gedanke an das glühende Eisen in der frischen Wunde, ließ sie erneut würgen. Ihre Hände zitterten und ihr brach kalter Schweiß aus. Trotzdem blieb sie neben Archibald hocken. »Ich kann Euch nicht versprechen, dass wir dadurch sein Leben retten«, fuhr dieser mit seinen Erklärungen fort, »denn die Wunde ist schon sehr stark entzündet. Aber einen Versuch ist es trotz allem wert! Haben wir keinen Erfolg, dann erledigt sich Euer Problem von ganz allein. Sind wir aber, wieder Erwarten erfolgreich, dann wird sich früher oder später schon eine zufriedenstellende Lösung finden! Was ist, seid Ihr damit einverstanden, dass ich es versuche?« Rilana nickte. »Gut! Wärt Ihr so freundlich und würdet mir ein wenig zur Hand gehen? Hier!« Er reichte ihr einen kleinen Lederbeutel, in dem sich zahlreiche, stark duftende Kräuter befanden. »In diesem Säckchen befinden sich Kräuter. Bereitet schon einmal einen Brei aus den Kräutern. Ihr müsst ihn auf die Wunde streichen. Später könnt Ihr sie dann mit den trockenen Streifen verbinden.« Er sah hinüber zu den anderen Männern. »Werfried, Friedward, hierher! Haltet ihn fest.« Widerwillig erhoben sich die beiden Männer von ihren Plätzen, während Rilana eifrig den Kräutersud zubereitet.
»Warum helft Ihr ihm?« Wilbur versperrte ihr den Weg und griff nach ihrer Schulter. Rilana schnaufte. »Den ganzen Tag schon gilt Eure Sorge ausschließlich diesem verdammten Kerl. Pah, man könnte annehmen, es gehe um mehr, als um sein Leben.« Rilana zeigte keinerlei Regung.
»Seid Ihr vielleicht eifersüchtig? Ich wüsste nicht, was Euch meine Befürchtungen sonst angingen!« Er musterte Rilana von Kopf bis Fuß.
»Ich weiß, dass Ihr mich nicht ernst nehmt, aber eins kann ich Euch mit Bestimmtheit sagen: Egal, was Ihr jetzt auch für ihn tut, er wird seine gerechte Strafe bekommen, ohne Wenn und Aber. Darauf könnt Ihr Euch verlassen. Dann werdet Ihr ihm nicht mehr zur Hilfe eilen können. Darauf gebe ich Euch Brief und Siegel. Ich freue mich jetzt schon darauf.« Ein höllisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, dabei zog er seine Hand an seiner Kehle entlang, verdrehte seine Augen und ließ seine Zunge mit einem gurgelnden Geräusch aus seinem Mund fallen.
»Lasst mich einfach in Ruhe. Ihr widert mich an.« Wütend riss sie sich los. »Hättet Ihr besser im Schloss Wache gehalten, wäre das alles nicht passiert. Ich säße jetzt zu Hause und müsste die Nacht nicht mit Euch verbringen und dann hättet Ihr erst recht nichts zu tun!« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, machte sie sich an ihre Arbeit.
In der Zwischenzeit beugte sich Archibald über den jungen Mann am Boden. Er ergriff den Pfeilschaft mit seiner rechten Hand und zog ihn mit einem heftigen Ruck aus der Wunde. Kaum war dies erledigt, sickerte von Neuem frisches, hellrotes Blut aus ihr heraus.
»Schnell, gebt mir einen heißen Stoffstreifen.« Rilana angelte mit dem Stab einen Stofffetzen aus dem Kessel und reichte ihn Archibald. Dieser betupfte die Wunde und wusch das frische Blut ab, dann presste er den Stoff tief in die offene Stelle, dabei betrachtete er den Pfeil. »Die Spitze ist unversehrt«, bemerkte er nebenbei.
»Und, was hat das zu bedeuten? Warum ist das so wichtig?« Rilana wollte ihm irgendwie zeigen, dass sie sich für seine Arbeit interessierte.
»Es befindet sich demnach kein Rest in der Wunde, der erneut eine Entzündung hervorrufen könnte. Das Blut, das hier austritt,« er zeigte auf die Stelle an Raouls Bauch, »ist hellrot. Somit handelt es sich um frisches Blut. Das heißt, in seinem Bauch hat sich kein Altes gesammelt.« Er blickte zufrieden in die Runde, bis sein Blick schließlich auf ihr ruhte. »Ihr müsst wissen, dass Wunden auch nach innen bluten können. Von außen ist es nicht zu sehen, nicht einmal ein Kratzer. Dennoch verblutet der Verwundete langsam