Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
über ihn würde sie wohl noch im Laufe ihrer Reise zutage befördern? In der Zeit, die sie bisher mit ihm verbracht hatte, hatte sie nun schon mehr Facetten an ihm entdeckt, als sie je für möglich gehalten hätte.
»Jetzt kommt der schwierigste Teil«, unterbrach er ihre Gedanken. »Wenn ich mit dem glühenden Dolch zu tief in ihn eindringe, beschädige ich seine Organe und er stirbt. Bleibe ich aber zu dicht an der Oberfläche, wird die Blutung nicht gestoppt und er verblutet. Beides hat denselben Effekt. Ich muss also versuchen, genau den richtigen Punkt zu treffen. Deshalb müssen wir ihn auch festhalten, falls er aufwachen sollte. Ich darf kein Risiko eingehen.« Er redete so vor sich hin, wohl eher um sich selbst zu beruhigen, als dass er eine Reaktion von den Personen rings herum erwartet hätte. Letztendlich griff er nach dem inzwischen Rot glühenden Dolch im Feuer. Genau in diesem Moment öffnete der junge Mann am Boden die Augen. Die Wärme in der Felsnische hatte höchstwahrscheinlich dafür gesorgt, dass er allmählich wieder zu sich kam. Nicht jetzt, dachte Rilana, werde jetzt nur nicht wach. Nicht jetzt! Oh, Gott! Bitte nicht jetzt!
»Haltet ihn fest, egal was geschieht, nicht loslassen!« Werfried und Friedward drückten Raoul fester auf den Boden. Eh der Gefangene wusste, wie ihm geschah, berührte Archibald mit dem heißen Metall der Klinge die Wunde. Es zischte, qualmte und stank nach verkohltem Fleisch. Raoul versuchte, sich aufzubäumen. Seine Muskeln spannten sich, während sich sein Körper in Archibalds Richtung krümmte, dabei schrie er aus Leibeskräften. Schließlich sackte er in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Rilana zitterte, wie Espenlaub. Sein Schrei war durch all ihre Glieder gefahren. Archibald begutachtete sein Werk mit einem Lächeln. Er beugte sich ein letztes Mal über Raoul, um den Herzschlag seines Patienten zu prüfen. »Sein Herz schlägt ruhig. Jetzt seit Ihr an der Reihe.« Er sprach mir Rilana. »Nehmt die Stoffstreifen aus dem Kessel. Wascht ihm damit das Blut vom Körper. Die Trockenen benutzt, um ihn zu verbinden! Vergesst jedoch nicht die Kräuterpaste vorher aufzutragen. Sie riecht zwar stark, aber sie verhindert neue Entzündungen. Ihr werdet sehen, sobald Ihr das Blut weggewaschen und seine Wunden bedeckt habt, macht er schon wieder einen ganz passablen Eindruck.«
Rilana hockte sich neben Raoul. Er atmete ruhig. Wenn er diese Nacht überstand, würde es eine Möglichkeit geben, ihn zu retten. So hoffte sie wenigstens. Ihre Augen fuhren die Linien seines Körpers nach. Sie nahm den Kessel, mit dem brodelnden Wasser von der Feuerstelle. Vorsichtig zog sie Stofffetzen für Stofffetzen aus der heißen Brühe. Der Stoff dampfte so stark, dass ihr der Schweiß über die Stirn rann. Sorgfältig entfernte sie nun die Blutreste von Raouls Körper. Jede Berührung mit seiner Haut ließ sie innerlich zusammenzucken. Dann griff sie nach der Schüssel mit der Kräuterpaste. Der Kräutersud stank widerlich.
Unterdessen beobachtete Archibald gespannt ihre Bemühungen. Würde sie so reagieren, wie er es sich erhoffte. Er konnte sehen, dass ihre Gedanken nicht ausschließlich um ihre Aufgabe kreisten. Sie faszinierte ihn.
Inzwischen schossen Rilana ganz andere Gedanken durch ihren Kopf. Es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Archibald bezweckte etwas. Es schien ihr fast, als hätte er alles im Voraus geplant. Doch, was wollte er damit erreichen. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, das spürte sie genau. Doch, warum? Wollte er ihr etwas zeigen? Aber was? Oder hatte dieser alte Haudegen einfach nur mitbekommen, dass Raoul ihr nicht ganz gleichgültig war. Wollte er erreichen, dass sie sich ihren Gefühlen stellte? Wie konnte sie sich etwas stellen, was sie sich nicht einmal erklären konnte? Wie, in Gottes Namen, sollte sie eine Entscheidung treffen, wenn es keinerlei Alternativen gab? Egal, wie sie sich entscheiden würde, alles hat seinen Preis, nur, war sie auch bereit, diesen Preis zu zahlen? Ja, beantwortete sie sich selbst ihre Frage, sie war bereit! Bereit alle Konsequenzen zu tragen, egal wie auch immer sie aussehen mochten. In diesem Moment begriff sie, was sie sich selbst erhoffte.
Nachdem sie endlich alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatte, ließ sie sich neben den Männern am Feuer nieder. Sie hörte noch, wie Archibald etwas zu ihr sagte, doch sie war viel zu müde, um seinen Worten zu folgen. Ein letztes Mal sah sie zu Raoul herüber, seufzte und fiel dann, in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Archibald trat neben sie. Strich ihr die Haare aus dem Gesicht und legte eine Decke über sie, dabei flüsterte er in Gedanken versunken vor sich hin.
»Ich werde auf Euch achtgeben und ich werde Euch schützen, bis an mein bitteres Ende. Ob Ihr wollt oder nicht! Ich werde Euer Schatten sein, genau so, wie ich es bisher auch schon gewesen bin. Nur, diesmal werdet Ihr mich wahrnehmen und auf mich hören. Es steht zu viel für uns alle auf dem Spiel. Das Versprechen, das ich meinem besten Freund einst gab, als er diese Welt für immer verließ, gilt es zu halten. Jetzt ist es an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen.«
Kapitel 7
Nachdem Marcus mit Edward den Raum verlassen hatte, richtete Ruben sein Wort an Lukas.
»Was hältst du von der Geschichte?« Lukas strich sich durch seine blonden Locken.
»Keine Ahnung! Es ist denkbar, dass Roxane diesen Mann fast ein Jahr gefangen gesetzt hat, nur weil er etwas gehört hat, was er besser nicht hätte hören sollen. Ich habe heute Morgen bereits von ähnlichen Vorfällen gehört. Aber der Rest der Geschichte ist äußerst merkwürdig. Ich kann mir beim besten Willen keinen konkreten Reim darauf machen!«
»Stimmt! Wenn sich der Vorfall tatsächlich so zugetragen hat, wie es uns der Alte erzählt hat, dann ließe das nur eine Schlussfolgerung zu: Die Königin steht wirklich und wahrhaftig mit den finsteren Mächten im Bunde und jedes Wort, das man über sie sagt, entspricht der Wahrheit. Ich frage mich nur, welchem Zweck diese Vorstellung diente. Ich glaube nicht, dass ihr einziger Grund darin bestand, den Kaufmann an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Es steckt mit Sicherheit noch etwas anderes dahinter und ich werde, so wahr mir Gott helfe, herausfinden, was es ist!" Ruben verzog nachdenklich sein Gesicht. Im Zusammenhang mit Roxane wurden wirklich die merkwürdigsten Dinge behauptet, wie zum Beispiel ihre fast schon gespenstisch anmaßende Schönheit und ihre nahezu immerwährende Jugend. Diese Dinge konnten jedoch auch vollkommen natürliche Ursachen haben, denn Rubens Tante, die Mutter seines Vetters, besaß ebenfalls, trotz ihres fortschreitenden Alters, Schönheit und jugendlichem Aussehen, und es war offensichtlich, dass ihr gegenüber nicht der geringste Verdacht gehegt wurde, sie könnte mit Magie nachhelfen. Aber, anders als bei seiner Tante, schien der Glanz, der von Roxane ausging, völlig andere Wurzel zu haben. Und, was noch merkwürdiger war, warum wurde de Beriot immer in diesem Zusammenhang erwähnt? Welche Rolle spielte er? Was mochte zwischen den beiden vorfallen, denn vieles deutete darauf hin, dass ihre Beziehung nicht die Beziehung eines Großkanzlers zu seiner Königin war.
»Ich will die Pferde ja nicht scheu machen,« Lukas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, »doch eigentlich kam mir der Gedanke schon heute Morgen!«
»Welcher Gedanke?«
»Dass die Königin nicht das ist, was sie vorgibt zu sein! Wenn du nur einen Teil der Dinge gehört hättest, die ich in der Hafenspelunke ...!«, Lukas Worte erinnerten Ruben an ihre unterbrochene Unterhaltung.
»Ach ja!«, fiel er ihm ins Wort. »Wir wurden vorhin unterbrochen. Los, spann mich nicht länger auf die Folter. Wie geht dein Bericht weiter? Was hast du gehört?« Ruben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust, während er Lukas gespannt ansah.
»Ich glaube, ich hatte dir schon erzählt, dass de Beriot sich vor Roxane rechtfertigte. Er hätte alles Erdenkliche unternommen, um zu verhindern, dass das Ehrenwort des verstorbenen Königs eingelöst werden müsste.«
»Genau! Fahre fort!«
»De Beriot versprach, sich jetzt gewissenhafter um diese Angelegenheit zu kümmern. Er hätte Mittel und Wege die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Roxane solle Rilana ruhig schon einmal auf die Kommende, wie er sagte, »Zeremonie« vorbereiten, der Rest sei sein Metier. Wenn Rilana zur Sonnwendfeier bereit sein solle, wüsste sie nur zu gut, was sie zu tun hätte. Anschließend verließ er den Raum. Roxane blieb allein zurück. Die Bediensteten hörten sie noch bis spät in die Nacht hinein toben. Sie schrie immer wieder unverständliches Zeug in ihrer Muttersprache, worauf dann etliche Gegenstände auf den