Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel

Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen - Daniela Vogel


Скачать книгу
während deine erst in ein paar Jahren auf dich wartet. Ich hoffe inständig, dass das Schicksal einen Weg findet, unsere Wege zu kreuzen. Aber, in diesem Moment haben wir leider keine Wahl. Die Gefahr, die uns bedroht, geht von einer Macht aus, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt und sie weiß, wie sie uns alle vernichten kann. Wenn ich jetzt nicht versuche, mich ihr entgegenzustellen, dann wird sie unser Ende sein. Bete, dass ich die Kraft besitze, das Schlimmste zu verhindern. Wenn nicht ...! Du musst dann das zu Ende führen, wozu ich nicht in der Lage war!« Er verstummte und streichelte vorsichtig, so als wollte er Ruben nicht wecken, über dessen Hinterkopf. »Ich habe es dir nie so deutlich gesagt, doch heute werde ich es dir sagen, weil dies hier meine letzte Gelegenheit ist. Ich liebe dich, Sohn, mehr als du jemals ahnen wirst und genauso, wie ich deine Mutter und deine Brüder geliebt habe. Ich weiß, ich habe nie viel über sie gesprochen, aber glaube mir, du bist ihnen ähnlicher als du denkst. Verzeih mir, ich glaube, ich war dir über all diese Jahre, niemals im wirklichen Sinne ein Vater, dafür habe ich dich viel zu oft alleine gelassen. Ich weiß, du hättest mich so oft gebraucht, doch ich habe meine Augen davor verschlossen. Hätte ich nur damals diese Gelegenheit nicht so oft vertan! Es zerreißt mir das Herz! Leila und Samuel werden sich ab heute, um dich kümmern. Ich habe alles geregelt. So groß wird die Umstellung für dich nicht sein, denn du warst ja schön des Öfteren ihr Gast. Außerdem lieben sie dich, wie ihren eigenen Sohn. Versprich mir, dass du mir keine Schande bereitest, und kümmere dich um deinen Vetter! Er braucht dich! Du wirst immer für ihn da sein, habe ich recht? Du musst wissen, Eure Schicksale sind eng miteinander verbunden. Wenn Ihr beide lernt, Euch zu vertrauen und euch gegenseitig zu schützen, dann werdet Ihr Großes schaffen. Aber seht Euch vor! Der Gefahr, die in ferner Zukunft Euer Leben bedroht, könnt Ihr nur gemeinsam entgegentreten. Du, als der Ältere, musst ihm den Weg weisen, damit sich alles zum Guten wenden kann. Und glaube mir, dieser Weg wird steinig werden und Ihr werdet oft kurz davor stehen, zu scheitern. Ich würde dir das hier gerne ersparen, doch ich habe keine Zeit mehr, dich besser auf deine Aufgabe vorzubereiten. Tu dein Bestes! Ich bin mir sicher, du wirst es auch so schaffen! Möge Gott dir dabei helfen!« Anschließend küsste er Ruben zärtlich auf den Kopf und verschwand. Seine Schritte hallten durch die menschenleeren Hallen ihres Hauses, entfernten sich immer schneller und schließlich verstummten sie. Ruben wusste nicht, ob er im Bett bleiben oder ihm folgen sollte. Er war drauf und dran aufzuspringen, um ihm hinterher zu laufen, doch eine innere Stimme hielt ihn zurück. Lange, viel zu lange für seinen Geschmack, hatte er daraufhin noch wach gelegen. Die Worte seine Vaters schwirrten unaufhaltsam durch seine Kopf und gruben sich in sein Gedächtnis, denn er konnte das eben Gehörte einfach nicht begreifen.

      Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, waren die Worte seine Vaters für ihn ein Rätsel und er konnte sich an jedes erinnern. Was hatte sein Vater ihm sagen wollen? Was hatte er gewusst, was kein anderer auch nur ahnte? Woher stammte dieses Wissen? Hatte sein Vater etwa das Zweite Gesicht besessen? Wenn nicht er, sondern ein anderer über diese Fähigkeit verfügt hatte, wer war dann dieser andere? Kannte er ihn oder sie vielleicht sogar? Was verbarg sich wirklich hinter der Geschichte? Ruben atmete tief durch. Sein Kopf fühlte sich völlig leer an. Wenn sein Vater recht behielt, dann waren vielleicht die Umstände, die ihn und seine Vetter hierher nach Andrass geführt hatten, der Anfang ihrer Bestimmung! War es möglich, dass er …? Ruben wischte den Gedanken fort. Hatte das Schicksal nicht auch seinen Vater hierher nach Andrass geführt und hatte er nicht, zusammen mit König William, hier den Tod gefunden. Drohte ihnen nun dasselbe Los? Vielleicht befand sich hier in Aranadia ja wirklich der Schlüssel zu dem seinerzeit Gesagten. Je mehr Ruben grübelte, desto verwirrter wurde er. Es gab nur eine Möglichkeit den Dingen auf den Grund zu gehen. Er musste abwarten und sich dem, was kommen würde stellen. Ruben schloss die Augen. So sehr er es auch hasste, die Fäden nicht selbst in den Händen zu halten, er hatte keine andere Wahl. Seinem Schicksal kann man nicht entrinnen, dachte er, egal, was man auch versucht, um ihm zu entgehen. Es holt einen früher oder später ein. Man kann nur hoffen, das Beste daraus zu machen. Das war er sich selbst einfach schuldig. Schon um seines Vaters willen! Sein Vater! Wieder formten seine Erinnerungen dessen Bild.

      »Vielleicht«, murmelte er vor sich hin, »ergibt sich ja eine Möglichkeit, die näheren Umstände seinen Todes zu erfahren und vielleicht kann ich dann endlich dieses Kapitel vollständig für mich abschließen! Ich warte schon so lange darauf!«

      Ruben erhob sich und lief nervös auf und ab. Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Sie erwarten alle eine Lösung von mir. Sie vertrauen mir. Ich darf und will sie nicht enttäuschen. Nicht hier und nicht jetzt. Seufzend ließ er sich in seine Koje fallen, nur um sich, kurze Zeit später, erneut aufzurichten und letztendlich zurück auf sein Lager fallen zu lassen. Verdammt! Es muss einen Ausweg geben! Es gibt immer einen Ausweg! Es sei denn …! Er versuchte den trüben Gedanken zu verdrängen, was ihm aber nicht gelingen wollte, denn die Bilder seiner Kindheit, die nun auf ihn einströmten, machten es ihm nahezu unmöglich über sein eigentliches Problem nachzudenken. Das war haargenau das, was ihm heute noch gefehlt hatte. Diese verfluchten Erinnerungen kamen aber auch immer zur falschen Zeit. Etliche Jahre hatten sie ihn in seiner Jugend beherrscht. Immer wieder war er des Nachts schweißnass erwacht und hatte die Geschehnisse vor Augen, die sein Leben so entscheidend verändert hatten. Weitere schier endlos erscheinende Jahre hatte er daraufhin benötigt, sie allmählich verblassen zu lassen, um sie schließlich vollständig aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Jedenfalls war er in dem festen Glauben gewesen, es wäre ihm gelungen. Doch, anscheinend, hatte er sich in diesem Punkt gewaltig geirrt. Denn, hier und jetzt brachen sie, wie die tosenden Ausläufer eines wild wütenden Orkans unbändig und unaufhaltsam und, was das Ganze noch schlimmer machte, ohne jede Vorwarnung über ihn herein.

      Sein Kopf dröhnte von den Gedanken, die, wie von Furien getrieben, um jenen Tag aus seiner Vergangenheit kreisten. Es schien, als wollten sie ihn mit sich reißen und in diese Zeit zurück zerren. Ruben stöhnte und versuchte mit allen Mitteln dagegen anzukämpfen. Er wälzte sich in seine Kissen, in der Hoffnung so seinen Gefühlen und Sinnen wieder Herr zu werden.

      »Wieso gerade jetzt? Lasst mich in Ruhe! Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen? So viele Jahre sind seit dem vergangen! Oh, Gott, habe ich nicht schon genug andere Probleme? Was in aller Welt habe ich bloß getan, dass mir kein Frieden vergönnt ist? Ich trug keinerlei Verantwortung für das, was damals geschah! Ich nicht! Mich traf keine Schuld! Wie, zum Teufel, hätte ich etwas ändern oder es gar verhindern können? Ich war doch noch ein Kind!« Rubens Stimme wurde leiser. Schlagartig durchzuckte ein stechender Schmerz seine Brust. Er atmete hektisch und unregelmäßig. Mit beiden Händen riss er sich sein Hemd vom Leib und betrachtete die Narbe, die sich unterhalb seines linken Schulterblattes knapp über seinem Herzen, wulstig und dunkelrot von seiner sonst glatten Haut abhob. Zaghaft berührte er sie mit seinen Fingern. Sie schien förmlich zu glühen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er versuchte, sich etwas zu beruhigen. Mit all seiner Kraft konzentrierte er sich auf seine Atmung. Ausatmen! Einatmen! Ausatmen! Einatmen! Langsam wurde er ruhiger und der Schmerz ließ nach. Anfangs war es oft vorgekommen, dass die Narbe ihm derartige Schmerzen zufügte. Immer dann, wenn die Erinnerung ihn quälte, tat sie ihr Übriges hinzu. Doch durch die erfolgreiche Verdrängung all seiner Erinnerungen hatte auch dieser Schandfleck Ruhe gegeben. Er musste verwirrter sein, als er angenommen hatte, ansonsten wäre er heute von ihr verschont geblieben.

      »Lasst mich in Ruhe!« Seine Stimme war kaum noch hörbar. »Seht doch selbst, was aus mir geworden ist! Er hätte es verhindern können. Er hätte uns vor ihnen schützen müssen. Er allein trat vor unseren Schöpfer und musste die Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Wäre er bei uns gewesen und nicht auf einer seiner verfluchten Missionen, dies alles wäre niemals geschehen! Aber, wir standen für ihn ja immer nur an zweiter Stelle. Genauso, wie er es damals getan hat, hat er mich doch auch wenig später meinem Schicksal überlassen. Er wusste, wie sehr ich ihn brauchte, und doch hat er mich Mutterseelen allein zurückgelassen. Ich hasse ihn! Ich hasse ihn, für alles, was er mir angetan hat!« Ruben schluchzte, wie ein kleines Kind. Die widersprüchlichsten Gefühle stiegen in ihm hoch. Einerseits nagte der Hass in seinem Innern, so tief an ihm, dass es ihm die Luft abschnürte. Andererseits vermisste er ihn aber auch unendlich, besonders jetzt, da er so dringend jemanden gebraucht hätte, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Mit dem Handrücken fuhr er über sein Gesicht, um seine Tränen fortzuwischen.


Скачать книгу