Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
hämmernden Herzens war ihr einziger Bezug zur Wirklichkeit. Als er begriff, dass sie keinerlei Anstalten machte zu schreien, oder gar vor ihm zu fliehen, gab er sie frei. Er kniete neben ihrem Bett und spielte versonnen mit einer ihrer Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst hatte, dabei vergrub sich sein Blick noch tiefer in ihren Augen.
»Wer seid Ihr?« Ihre Stimme klang rau. Er antwortete ihr nicht, sondern senkte stattdessen leicht seinen Blick und drehte sein Gesicht von ihr weg. »Wieso seid Ihr hier? Was wollt Ihr von mir und wie seid Ihr überhaupt hier hereingekommen?« Wieder antwortete er ihr nicht, doch es schien ihr, als hätte ihre Frage ihn irgendwie verletzt, denn die Art und Weise, wie er seine Schultern hängen ließ und die Trauer, die jetzt in seinen Augen lag, als er sich ihr erneut zuwandte, sprach Bände.
»Prinzessin, ich will euch nicht ängstigen, aber wir haben keine Zeit. Kommt!« Seine Stimme war tief, melodisch und unglaublich sanft. Sie war so von ihr gefangen, dass sie zunächst gar nicht begriff, was er eigentlich gesagt hatte. Erst als er mit seinem Finger auf den Balkon vor ihrem Fenster deutete, sie auf seine starken Arme nahm, langsam hochhob und dann zum Balkon trug, durchschaute sie, was er vorhatte. Unter heftigem Kopfschütteln und Zappeln versuchte sie ihm zu entkommen, doch er hielt sie auf seinen Armen gefangen, als wäre sie so leicht, wie eine Feder.
»Ihr seid wahnsinnig! Wie stellt Ihr Euch das vor? Ich kann nicht mit Euch kommen. Überall sind Wachen! Sie werden uns sofort entdecken. Lasst mich herunter! Sofort oder ich schreie, als sei der Leibhaftige hinter mir her!« Er grinste nur. »Wirklich, ich schreie hier alles zusammen, so lange, bis uns jeder im Schloss hören kann!«, wieder grinste er.
»Ihr meint, bei dem Lärm, der dort unten herrscht, würde Euch irgendjemand hören? Sogar die Wachen feiern und die wenigen, die hier oben postiert sind, werden mich nicht aufhalten. Sie haben mich vorhin nicht aufgehalten und sie werden es auch jetzt nicht tun. Wie glaubt Ihr, bin ich in Eure Räume gelangt? Vielleicht geflogen? Prinzessin, ich möchte Euch auf gar keinen Fall wehtun, nichts liegt mir ferner, aber, wenn Ihr Euch weiter wehrt, dann wird es wehtun. Macht mir also bitte keine Schwierigkeiten. Ich verspreche Euch, dass ich Euch alles erklären werde, wenn wir erst in Sicherheit sind.«
»In Sicherheit? Seid Ihr von Sinnen? Dies hier ist mein zu Hause. Wenn nicht hier, wo meint Ihr, wäre ich sonst in Sicherheit?«
»Ich möchte nicht mit Euch darüber streiten.«
»Ihr schuldet mir eine Antwort!« Doch anstatt auf ihre Frage zu reagieren, eilte er auch schon auf den Balkon zu. Rilana zappelte und wand sich in seinen Armen, wie ein Fisch am Haken, doch ihr Entführer schien von ihren Anstrengungen vollkommen unbeeindruckt. Je mehr sie zappelte, desto fester hielt er sie. Als sie ihr Ziel erreichten, sah sie, dass im Unterholz, das wild unter ihrem Fenster wucherte, ein gesatteltes Pferd stand. Ohne Vorwarnung sprang er, sie immer noch fest auf seinen Armen haltend, in die Tiefe. Mit einem Ruck landeten sie auf dem Rücken des Tieres. Wie er es fertiggebracht hatte, dabei weder sie noch das Pferd zu verletzten, war ihr auch jetzt noch ein Rätsel. Anschließend ließ er sie langsam vor sich in den Sattel gleiten und legte dabei seinen Arm fest um ihre Taille. Wieder hämmerte ihr Herz, als wollte es aus ihrer Brust springen, während er sein Pferd mit einem leisen Schnalzen in Bewegung setzte und im wilden Galopp davon stob. Sie hatte nicht die leiseste Chance zu entkommen. Aber wollte sie das überhaupt? Er machte sie neugierig und was noch viel schlimmer war, er faszinierte sie. Aus der Ferne hörte sie noch das Klirren von Rüstungen und die aufgeregten Schreie der Wachen, die ihre Entführung bemerkten, dann waren sie auch schon in der Dunkelheit verschwunden.
Von nun an konzentrierte sich ihr Entführer nur noch auf die Flucht. Bei Tagesanbruch hatten sie bereits eine weite Strecke zurückgelegt und sie die Hoffnung auf Rettung aufgegeben, denn, obwohl ihre Entführung offensichtlich bemerkt worden war, waren nirgends Reiter oder Wachen zu sehen. Am späten Vormittag war Rilana am Ende ihrer Kräfte. Sie war müde, hatte Durst und ihr Gesäß schmerzte von dem ungewöhnlich langen Ritt.
»Haltet das Pferd an oder ich springe einfach ab! Ich brauche dringend eine Rast!« Ihr Begleiter zügelte ohne zu zögern sein Pferd, sprang hinunter und half ihr aus dem Sattel.
»Was soll das alles? Was habt Ihr mit mir vor?« Sie war wütend, dabei sah sie ihn fragend an. Er erwiderte ihren Blick, machte aber keinerlei Anstalten ihr zu antworten. »Stellt Euch nicht taub! Ich habe ein Recht auf eine Antwort!« Erneutes Schweigen! Anscheinend wollte er nicht reden, denn er lächelte nur auf die Art und Weise, wie ihre Amme sie früher immer dann angelächelt hatte, wenn sie versuchte, ihren Willen durchzusetzen. Das machte Rilana noch wütender. Sie war kein bockiges Kind, dass man derartig behandeln konnte. Vollkommen außer sich, schrie sie ihn an und trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust. »Erst verschleppt Ihr mich! Dann ignoriert Ihr mich einfach! Ich weiß nicht, was ich davon halten soll! Aber wartet nur! Die Wachen werden uns eher finden, als es Euch lieb ist! Wenn sie Euch erst einmal in ihre Finger bekommen, dann ...!«, aus seinem Lächeln wurde ein breites Grinsen. Er zögerte einen Augenblick, dann jedoch ergriff er ihren Arm und zog sie enger zu sich heran. Während er mit seiner anderen Hand sanft über ihre roten Locken strich und versonnen mit einer Strähne spielte, legten sich erneut seine Lippen auf ihren Mund. Sein Kuss war leidenschaftlich, fordernd und er kam so unverhofft, dass Rilana keinem klaren Gedanken mehr fassen konnte. Solche Dreistigkeit hatte sie noch nie zuvor erlebt. Eigentlich hätte sie ihn hassen müssen, aber irgendwie war sie selbst dazu nicht in der Lage. Er ließ sie erst los, als er annahm, sie hätte sich etwas beruhigt. Doch da irrte er. Sie hatte sich ganz und gar nicht beruhigt. Sie holte aus, um ihm eine gehörige Ohrfeige zu verpassen, aber so weit war es nicht gekommen. Noch bevor ihre Hand seine Wange erreichen konnte, fing er sie mühelos ab, so als hätte er vorausgeahnt, was sie beabsichtigte. Eine Weile starrte er sie nur an, bevor er sie schließlich losließ.
»Mein Name ist Raoul!«, sagte er schließlich so sanft, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief, dabei sah er ihr fragend in die Augen, als rechnete er mit irgendeiner Reaktion auf seinen Namen. Was erwartete er? Dass sie sagen würde, »schön Euch endlich kennen zulernen«? Sie war so wütend auf ihn, dass sie ihn schließlich nur noch anbrüllte.
»Ihr seid also Raoul! Und, Raoul, wollt Ihr mir nun sagen, was das Ganze hier soll und was Ihr mit mir vorhabt?« Wieder bekam sie keine Antwort. Stattdessen lief er zu seinem Pferd und holte eine Wasserflasche aus der Satteltasche. Sollte sie fliehen? Aber, wohin? Erst in diesem Moment betrachtete sie ihren Entführer genauer. Raoul war jung. Sehr jung. Vielleicht vier oder fünf Jahre älter als sie selbst. Sein Körperbau war anders, als sie es von den Männern hier kannte. Er wirkte nicht plump, sondern eher, wie eine große Katze, schlank, geschmeidig und kraftvoll. Er sah auch sonst nicht aus, wie irgendein Angehöriger ihres Volkes. Hier waren die Männer meist blond oder rothaarig, mit Ausnahme Arosas, der, allerdings, auch vor Jahren aus einem fernen Land gekommen war. Raoul besaß zwar dieselben schwarzen Haare, wie Archibald, doch seine fielen in dunklen Locken bis hin zu seinen Schultern und standen nicht struppig von seinem Kopf ab, wie es bei Arosa der Fall war. Seine Haut hatte die Farbe einer Haselnuss. Entweder, weil er seine Tage vorwiegend im Freien verbrachte, oder aber von Natur aus. Sein Gesicht zierte eine schmale Nase, hohe Wangenknochen und ein voller Mund und war nicht so kantig und grob, wie bei den meisten anderen Männern. Auch trug er keinen Bart, obwohl sich mittlerweile einige dunkle Stoppeln auf seinem Gesicht zeigten, die ihm ein verwegenes Aussehen verliehen. Der junge Mann kam mit der Wasserflasche auf sie zu und reichte sie ihr.
»Es tut mir leid, dass es so kommen musste! Ich wollte das nicht, das müsst Ihr mir wirklich glauben! Ich hatte gehofft ...! Aber, leider ...!«, er sah sie eindringlich an und schwieg erneut. Dann ließ er sich neben sie ins Gras sinken und schloss seine Augen. Was musste so kommen? Was wollte er nicht? Was hatte er gehofft? Sie verstand nicht, was er meinte. Es hatte auch keinen Sinn ihn danach zu fragen, denn er machte keinerlei Anstalten die Unterhaltung fortzusetzen.
Nachdem sie sich gestärkt und einige Zeit schweigend nebeneinandergesessen hatten, nahm er sie bei der Hand, hob sie auf den Rücken des Tieres, saß hinter ihr auf und sie setzten ihre Reise fort.
Das Knistern eines Holzscheites holte Rilana in die Wirklichkeit zurück. Ihr Blick wanderte zu dem Plateau vor ihrem Unterschlupf. Die Schneeflocken tanzten nun wild in die dunkle Nacht hinein. Ich muss etwas