Die Chroniken Aranadias I - Die Tochter des Drachen. Daniela Vogel
ihren Entführer und setzte ihm den Trinkschlauch an die Lippen. Während er durstig trank, hob er zögernd seine gefesselten Hände und versuchte zaghaft ihre Wange zu streifen aber es gelang ihm nicht. Ein Zittern fuhr durch seinen Körper und er stöhnte leise. In Rilanas Augen sammelten sich Tränen. Sie war wie elektrisiert von seiner Bemühung. Wie in Trance rutschte eine ihrer Hände von dem Trinkschlauch und suchte verzweifelt seine Nähe. Zärtlich umschlossen ihre Finger die Seinen. Gleichzeitig erwiderte Raoul, seiner Lage zum Trotz, ihre Geste.
»Prinzessin, ich ...« Seine Finger erhöhten leicht den Druck. »Ich wollte nicht ...«, wieder schloss er die Augen.
»Ich werde Euch helfen! Irgendwie! Ihr müsst mir nur vertrauen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Wieso? Wieso lag ihr so viel daran, dass er ihr vertraute? Wieso wollte sie ihm überhaupt helfen? Ihre Gedanken verwirrten sie nur noch mehr. Er nickte, während er sie erneut anstarrte, dabei näherten sich seine Lippen gefährlich den Ihren. Es sah aus, als wollte er sie noch einmal küssen. Auch ihre Lippen näherten sich unaufhaltsam den Seinen. Plötzlich rutschte ihr der Weinschlauch aus der zitternden Hand und fiel klatschend vor ihnen auf dem Boden ins Gras. Von dem Geräusch zurück in die Wirklichkeit geholt, zog Rilana erschrocken ihre Hand aus Raouls Fingern, der ebenso erschrocken, seinen Kopf erneut zu Boden senkte. Dann sprang sie auf. Archibald, wohl durch das Geräusch des fallenden Schlauchs auf sie aufmerksam geworden, stampfte auf sie zu.
»Was ist hier los?«
»Vielleicht bin ich ja zu erschöpft. Der Trinkschlauch ist so schwer …«, sie lächelte verlegen. Archibald hob skeptisch die Braue seines gesunden Auges und fixierte die beiden, sagte aber kein Wort. Er hob den Schlauch vom Boden und warf ihn zu Wilbur, der ihn zurück in seine Satteltasche stopfte. Etwas stimmte hier nicht, da war er sich sicher.
»Seid Ihr bereit? Wir müssen jetzt aufbrechen.« Archibald wartete nicht auf Rilanas Antwort, sondern ergriff ihre Hand und zog sie vehement an dem Gefangenen vorbei, ohne dem jungen Mann weiterhin Beachtung zu schenken. Raoul hob unterdessen seinen Kopf. Wieder starrten sie sich gegenseitig an. Seine Lippen formten ein stummes »Danke« und er murmelte leise etwas vor sich hin, das sie jedoch nicht verstehen konnte. Wieso redete er mit ihr und nicht mit den Männern? Es wäre doch ein Leichtes für ihn gewesen und hätte ihm so Einiges erspart, wenn er Archibald sofort geantwortet hätte. Wieso bekamen die Männer von ihm keine Antwort? Wieso wollte er nicht, dass sie seinen Namen erfuhren? Wer war er, dass er all diese Dinge geheim zuhalten versuchte? Welches Geheimnis verbarg sich hinter diesem jungen Mann? Raoul! Sie sprach seinen Namen in Gedanken aus. Ich werde herausbekommen, welches Geheimnis hinter dir und meiner Entführung steckt, denn, was immer es auch sein mag, du bist anscheinend bereit, dein Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Und ich will wissen, wieso!
Archibald erreichte mit Rilana sein Pferd und hob sie auf den Rücken des Tieres. Dann glitt er hinter ihr in den Sattel. Auch die anderen Männer saßen auf. Anschließend setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Friedward, der auf dem Pferd saß, hinter das man Raoul gebunden hatte, ließ es in Trab fallen. Der Gefangene wurde mit einem Ruck nach vorne gezogen. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, auf seine Füße zu kommen, denn ansonsten hätte das Tier ihn über den Boden geschleift. So, aber, stolperte er hinter dem Gaul her. Rilana, unfähig weiterhin auf den Gefangenen zu achten, starrte geistesabwesend auf den Pfad, über den sie ritten.
Die Sonne zog unaufhaltsam ihren Kreis, über den, von kleinen Wolken bedeckten, Himmel. Sie stand bereits tief im Zenit, als die sechs Reisenden die schneebedeckten Gipfel des Arrasgebirges vor sich sahen. Während des gesamten Ritts hatten sie nicht gerastet. Raoul versuchte noch immer verzweifelt mit dem Pferd Schritt zu halten, doch er war bereits am Ende seiner Kräfte. Wieder und wieder stolperte er und rappelte sich auf. Auch Rilana bekam zusehends Schwierigkeiten, sich im Sattel zu halten. Sie war lange Ritte nicht gewohnt.
Das gewaltige Bergmassiv zog sich, wie ein großes, felsiges Band, durch die Landschaft. Es war ein überwältigender Anblick.
»Wir haben es gleich geschafft. Nur noch wenige Augenblicke und wir erreichen eine Anhöhe, auf der wir rasten können.« Rilana atmete auf. Endlich würde sie von diesem Tier herunter kommen und sich ausstrecken können. Werfried und Wilbur gaben ihren Pferden die Sporen und jagten voraus. Die anderen folgten weiterhin dem Pfad, allerdings, in einem, weitaus gemächlicherem, Tempo. Auf diese Weise erreichten sie ein Felsplateau, das auf einer kleinen Anhöhe lag. Oberhalb befand sich ein Vorsprung, der eine Nische bildete und unterhalb floss ein Gebirgsbach durch die schroffen Felsformationen. Am Abendhimmel zogen dichte Wolken auf, die sich meterhoch über den Berggipfeln auftürmten. Werfried befand sich bereits in der Felsnische und richtete das Lager für die Nacht. Wilbur erwartete die Ankömmlinge auf der Anhöhe. Archibald zügelte sein Pferd und auch Friedward brachte sein Tier zum Stehen. Beide saßen sie ab. Dann half Archibald Rilana aus dem Sattel. Während er sie auf den Boden stellte, brach Raoul hinter Friedwards Tier völlig entkräftet, unter lautem Stöhnen zusammen, sodass er nur noch zitternd auf dem Boden lag.
»Es wird gleich ein Unwetter geben. Geht schon einmal voraus. Wir kümmern uns um den Burschen«, dabei deutete Archibald mit dem Finger auf Raoul. Gleich darauf spürte Rilana, wie er sie sanft in Richtung Felsnische schob. Sie zögerte. Unschlüssig sah sie auf Raoul, während Archibald zu Friedward lief, leise einige Worte mit ihm wechselte und schließlich zu ihr zurückkehrte.
»Kommt jetzt!«, widerwillig ließ sie sich von ihm zu ihrem Lagerplatz führen. Wilbur und Werfried kamen ihnen, mit einem dicken, langen Holzscheit bewaffnet, entgegen, grinsten sie an und gingen dann zu Friedward und dem Gefangenen. Ihr Blick folgte den beiden, bis sie Raoul erreicht hatten. Nackte Angst lag in den Augen ihres Entführers. Sollte sie die Männer aufhalten? Aber konnte sie das überhaupt? Wieso ertrug er diese Tortur so widerstandslos, als wäre er ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt? Warum kämpfte er nicht? Warum das alles? War es das alles wert? Doch was genau war das alles? Wenn sie es war, warum ließ er sich um ihretwegen fast zu Tode prügeln? War sie es überhaupt wert?Als sie in der Felsnische ankam, ließ sie sich neben dem bereits entfachten Feuer nieder und schloss müde die Augen. Sollen sie doch mit ihm machen, was sie wollen. Er will es ja nicht anders. Ich will gar nicht erst sehen, was sie dort unten mit ihm machen. Es interessiert mich auch nicht, versuchte sie sich einzureden, obwohl sie wusste, dass sie sich selbst belog. In diesem Moment drangen Stimmen zu ihr herauf.
»Was machen wir mit ihm?«
»Ich habe da so eine Idee!« Es war Wilbur, der in lautes Gelächter ausbrach. Sie hörte einen dumpfen Schlag und darauf folgend ein leises Stöhnen. Wieder und wieder hörte sie dieselben Geräusche. Rilana hielt sich die Ohren zu. Ich will nicht wissen, was dort unten geschieht. Verzweifelt versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Aber egal worauf sie sich auch zu konzentrieren versuchte, sie war in Gedanken immer bei ihm. Warum genossen diese Männer es nur dermaßen, andere Menschen zu quälen? Warum bereitete Archibald diesem Spektakel nicht endlich ein Ende? Der große, bärtige Mann saß ihr gegenüber und streckte genüsslich seine Füße dem Feuer entgegen. Die Szene auf dem Plateau schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Wollte auch er, dass man ihren Entführer bis zum bitteren Ende malträtierte, um ihn zu demütigen? Angewidert senkte sie ihren Blick, dann schloss sie erneut ihre Augen.
»Aufhören!«, sie merkte nicht, dass sie das, was sie gerade dachte, auch leise vor sich hinflüsterte. »Aufhören! Ich flehe Euch an! Hört auf!« Archibald, der anscheinend in der Zwischenzeit aufgestanden war, trat neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Warum?«, wollte er von ihr wissen, dabei klang er nicht wie der befehlsgewohnte Haudegen, der er war, sondern eher sanft und mitfühlend. Sie hob ihren Kopf und sah ihm ins Gesicht.
»Sagt ihnen einfach, dass sie aufhören sollen!«, entgegnete sie ihm tonlos.
»Warum?«, er blieb hartnäckig.
»Reicht es nicht, wenn ich es Euch befehle?« Archibald sah ihr jetzt in die Augen. Was wollte er von ihr? Sie konnte seinen Blick nicht deuten, wie sehr sie sich auch anstrengte. Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich kann es nicht mehr ertragen!«, schrie sie ihn an. »Wie könnt Ihr nur zulassen, dass Eure Männer ihre Triebe dermaßen ausleben? Haben sie